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GALAXIS/188: Wohin strebt die Milchstraße? (Sterne und Weltraum)


Sterne und Weltraum 3/13 - März 2013
Zeitschrift für Astronomie

Kurzbericht
Wohin strebt die Milchstraße?

von Christian Wolf



Schon lange fragen sich Astronomen, wie die schnelle Eigenbewegung der Galaxis zu Stande kommt, die bereits vor 40 Jahren einem »Großen Attraktor« zugeschrieben wurde. Mit der kosmischen Hintergrundstrahlung steht nun das größte denkbare Bezugssystem zur Verfügung, relativ zu dem sich die Galaxis mit rund 630 Kilometer pro Sekunde in Richtung der Sternbilder Zentaur und Luftpumpe bewegt.


Die Eigenbewegung unserer Galaxis lässt sich nur relativ zu anderen Objekten bestimmen, etwa zu Galaxien und Galaxienhaufen in unserer kosmischen Umgebung. In den 1970er Jahren fanden Astronomen auf diese Weise eine Bewegung des Milchstraßensystems in Richtung auf einen unbekannten »Großen Attraktor« im Bereich des Sternbilds Winkelmaß (lateinisch: Norma, siehe Grafik in der Druckausgabe).

Die kosmische Hintergrundstrahlung stellt uns heute jedoch das größte denkbare Bezugssystem zur Verfügung. Die Himmelskarte dieser Strahlung repräsentiert eine kleine Region des sehr jungen Universums, die sich mit der Expansion des Alls bis heute auf einige Dutzend Milliarden Lichtjahre ausgedehnt hat. Relativ zu diesem gewaltig großen Raumbereich bewegt sich die Milchstraße mit einer Geschwindigkeit von rund 630 Kilometern pro Sekunde in Richtung der beiden benachbarten Sternbilder Zentaur und Luftpumpe (Centaurus und Antlia).

Die Geschwindigkeit ist zwar typisch für Galaxien, die in einen großen Haufen einfallen, doch der fehlt hier. Stattdessen ist die Milchstraße die zweitgrößte Galaxie in der Lokalen Gruppe, die rund hundertmal weniger Masse und Schwerkraft als ein großer Haufen aufweist. Zudem ist die Bewegung gar nicht der Milchstraße eigen. Vielmehr driftet mit diesem Tempo die ganze Lokale Gruppe mitsamt den benachbarten Galaxiengruppen der »Lokalen Wand«, die sich über 20 Millionen Lichtjahre erstreckt.


Gravitation großer Massen

In unserem heutigen Verständnis des Universums ist für solche Bewegungen die Schwerewirkung großer Masseansammlungen verantwortlich. Überdichte Strukturen ziehen dann noch mehr Galaxien aus weniger dichten Regionen zu sich und wachsen zu noch größerer Dichte an. Im Lauf der Zeit prägen sich so die Strukturen im All immer deutlicher aus. Dabei entstanden die heute sichtbaren Strukturen aus einer fast homogenen Ursuppe, deren sanfte Dichtekontraste in der Hintergrundstrahlung zu sehen sind (siehe Bild in der Druckausgabe). Nun stellen sich zwei Fragen: Erstens, wo ist die Masse, welche die ganze lokale Wand mit mehr als 600 Kilometer pro Sekunde anzieht, und zweitens, kann eine solch große Massenansammlung im Rahmen unseres Verständnisses überhaupt entstehen? Oder stellt sie die Kosmologie vor ein neues Problem?

Im Lauf der letzten 25 Jahre wurden zwar einige Massenansammlungen gefunden, deren Schwerkraft auf die Lokale Wand wirkt. Der Große Attraktor versteckte sich lange hinter dem Staub der Milchstraßenebene und wurde schließlich mit Röntgenbeobachtungen gefunden: der 220 Millionen Lichtjahre entfernte Norma-Superhaufen (siehe Bild in der Druckausgabe). Die größte bekannte Anziehungskraft verspüren wir von der 650 Millionen Lichtjahre entfernten Shapley-Konzentration, ein Superhaufen, der zwar passend in Richtung des Sternbilds Zentaur liegt, aber dennoch das hohe Tempo nicht erklären kann.

Eine Reihe von Studien um Hume Feldman von der University of Kansas in den USA findet nun Neues: Die Forscher sammelten sämtliche verfügbaren Geschwindigkeitsdaten und erstellten eine Bewegungskarte mit knapp 4500 Galaxien in einem Raum mit 1500 Millionen Lichtjahren Durchmesser. Einfache Rotverschiebungsmessungen, wie sie für Millionen von Galaxien vorliegen, reichen dabei nicht aus. Wer die Eigenbewegung einer Galaxie messen will, muss ihre Entfernung unabhängig von der Rotverschiebung schätzen; letztere ergibt sich zum großen Teil aus der Entfernung und nur zum kleinen Teil aus der Eigenbewegung.

Die Studie misst dabei die mittlere Bewegung unserer gesamten kosmischen Umgebung mit einem Durchmesser von 500 Millionen Lichtjahren. Dabei zeigt sich, dass die Galaxien in diesem Raum insgesamt mit rund 400 Kilometer pro Sekunde in praktisch die gleiche Richtung strömen wie die Milchstraße relativ zum kosmischen Hintergrund. Vermutlich befindet sich die anziehende Masse in mehr als einer Milliarde Lichtjahren Entfernung und damit außerhalb der Reichweite von Karten, die den ganzen Himmel oder zumindest grob die Himmelsrichtung des Sternbilds Zentaur abdecken. Entsprechend massereiche Strukturen sind zwar nach dem bisherigen kosmologischen Bild nicht ausgeschlossen, aber immerhin selten.


Unterschätzte Großstrukturen?

Für das Ergebnis gibt es also noch keine offensichtliche Erklärung. Entweder sind die Messungen durch unbekannte Faktoren verfälscht, etwa dadurch, dass der Staub auf der einen Seite der Milchstraße ein wenig anders geartet ist als auf der anderen. Das würde die unabhängigen Entfernungsmessungen systematisch verzerren. Oder wir leben in einem außergewöhnlichen Sektor des Alls. Oder aber unser kosmologisches Modell unterschätzt die Häufigkeit großer Masseansammlungen, obwohl es auf einer Vielzahl von Beobachtungen basiert, vielleicht weil solche großen Strukturen ungleichmäßig über das All verteilt sind.

Eine andere Studie behauptet sogar, einen solchen Effekt auf noch größerer Skala gefunden zu haben. Alexander Kashlinsky vom Goddard Space Flight Center in Maryland (USA) und seine Kollegen untersuchten dabei den Einfluss von Galaxienhaufen auf die kosmische Hintergrundstrahlung. Beim so genannten Sunjajew-Seldowitsch-Effekt stoßen Elektronen des heißen Gases in den Galaxienhaufen mit Photonen der Hintergrundstrahlung zusammen und übertragen Energie. Der Effekt wird beeinflusst von der Bewegung der Haufen relativ zum Hintergrund, womit sich die Bewegung der Galaxienhaufen auf großer Skala grob kartieren lässt.

Das Ergebnis dieser Untersuchung ist zwar noch vorläufig, es deutet aber an, dass alle Galaxien und Haufen im Umkreis von drei Milliarden Lichtjahren gemeinsam in Richtung des Sternbilds Zentaur strömen. Nun heißt es: Warten auf die Ergebnisse von Planck! Der neue Satellit kartiert die kosmische Hintergrundstrahlung derzeit in unerreichtem Detail. Sollte sich das Resultat bewahrheiten, dann müsste die kosmologische Theorie wirklich um etwas Neues erweitert werden.


Christian Wolf forscht seit elf Jahren in Oxford über die Entwicklung von Galaxien, über Supernovae und Gammastrahlenblitze.


Literaturhinweise

Kashlinsky, A. et al.: Measuring bulk motion of X-ray clusters via the kinematic Sunyaev-Zeldovich effect: summarizing the »dark flow« evidence and its implications. arXiv:1202.0717, 2012
Macaulay, E. et al.: Power spectrum estimation from peculiar velocity catalogues. In: Monthly Notices of the Royal Astronomical Society 425, S. 1709-1717, 2012
Watkins, R. et al.: Consistently large cosmic flows on scales of 100 h-1 Mpc: a challenge for the standard ACDM cosmology. In: Monthly Notices of the Royal Astronomical Society 392, S. 743-756, 2009


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Grafik S. 30:
Die großskaligen Strukturen des lokalen Universums zeigen sich in den bei der Wellenlänge von 2,2 Mikrometern gewonnenen Daten der 2MASS-Durchmusterung. Aufgetragen sind im gleichen Koordinatensystem wie bei der Grafik unten mehr als 1,5 Millionen Galaxien jenseits unseres Milchstraßensystems. Die Farbe ist den unterschiedlichen Rotverschiebungen z und damit den Distanzen zugeordnet. Die uns nächsten Galaxien mit z < 0,01 sind blau, solche in mittleren Distanzen grün und Galaxien mit z zwischen 0,04 und 0,1 sind rot dargestellt. Unser Milchstraßensystem bewegt sich in die mit dem roten Punkt markierte Richtung.

Grafik S. 31:
Unsere Galaxis bewegt sich in die mit dem roten Punkt markierte Richtung. Sie liegt im Grenzgebiet der Sternbilder Zentaur und Luftpumpe bei den galaktischen Koordinaten l = 295°, b = 14°. Der Fehlerbereich ist mit einem Radius von rund 18 Grad allerdings recht groß (blauer Rand). Die rote Kontur zeigt den wahrscheinlichsten Bereich aus dem Zusammenschluss mit anderen Forschungsarbeiten.


© 2013 Christian Wolf, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg

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Quelle:
Sterne und Weltraum 3/13 - März 2013, Seite 30 - 31
Zeitschrift für Astronomie
Herausgeber:
Prof. Dr. Matthias Bartelmann (ZAH, Univ. Heidelberg),
Prof. Dr. Thomas Henning (MPI für Astronomie), Dr. Jakob Staude
Redaktion Sterne und Weltraum:
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Verlag: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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Internet: www.astronomie-heute.de
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. April 2013