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BERICHT/072: ESO - Den Sternen ein Stückchen näher (Sterne und Weltraum)


Sterne und Weltraum 4/13 - April 2013
Zeitschrift für Astronomie

Reportage
Den Sternen ein Stückchen näher

Von Stefan Seip



Mit eigenen Augen sehen, was die Europäer auf dem südamerikanischen Subkontinent errichten, um immer mehr über unser Universum zu erfahren - das ist der Traum vieler Hobby- und Berufsastronomen. Mich eingeschlossen. Darum zögere ich keine Sekunde, als mich die Europäische Südsternwarte ESO einlädt, im November 2012 zusammen mit einer Delegation von Journalisten nach Chile zu reisen. Besonders spannend sollte der Besuch von »ALMA« werden, einem neuartigen Observatorium für den »großen kosmischen Lauschangriff«.


Es gibt keinen bequemen Weg von der Erde zu den Sternen!«, schrieb einst der römische Philosoph und Schriftsteller Seneca in einem seiner Werke. Wie treffend dieser Spruch noch heute ist, wird klar, wenn man sich auf eine Reise nach Chile, dem »Land der europäischen Astronomie« begibt. Besteigt man in Deutschland ein Flugzeug nach Santiago de Chile, liegen mehr als zwölftausend Kilometer Luftlinie zwischen Start und Ziel. Das entspricht fast dem Durchmesser des Planeten Erde.

»Nicht lustig«, denke ich, stelle mir aber vor, wie gerne wohl Alexander von Humboldt ein modernes Verkehrsflugzeug benutzt hätte, statt auf die zu seiner Zeit üblichen Fortbewegungsmittel zurückzugreifen, um nach Südamerika zu gelangen. Doch mein Geist hat Mühe zu begreifen, dass er sich einige Stunden später in einer anderen Welt wiederfindet. Eine Welt, in der die Sonne im Norden kulminiert, dabei selbst im November höher steht als bei uns zur Sommersonnenwende und in der Nacht die Sterne - im Gegensatz zur Situation in heimischen Gefilden - im Uhrzeigersinn ihre Kreise um den Himmelspol ziehen. Alles scheint verkehrt herum zu sein, und für den Bruchteil einer Sekunde halte ich es sogar für möglich, dass das, was ich am Abendhimmel sehe, die abnehmende Mondsichel sein könnte, die sonst nur in den Morgenstunden zu sehen ist. Doch dieser Mond nimmt zweifelsohne zu, er ist nur »falsch herum« am Himmel positioniert. Er geht dennoch im Osten auf und im Westen unter, was mein räumliches Vorstellungsvermögen auf die Probe stellt. Obwohl ich mich fast in einem fremden Sonnensystem wähne, muss die Uhr nur um vier Stunden zurückgesetzt werden, um »CLST« anzuzeigen, die chilenische Sommerzeit.

Alles erscheint verkehrt: Die Sonne kulminiert im Norden, der Mond hängt falsch herum und die Sterne kreisen im Uhrzeigersinn um den Pol.

Santiago, Chiles Hauptstadt und Heimat für fünfeinhalb Millionen Menschen, geizt indessen mit fremdartigen Eindrücken und wartet eher mit den geläufigen Facetten einer modernen Großstadt auf: schöne und weniger schöne Bezirke, Hochhäuser, Industrie und Gewerbe, vielspurige Straßen mit Rechtsverkehr und jede Menge Fahrzeuge, Verkehrsstaus inklusive. Nach Einbruch der Dunkelheit war ich mehr als erstaunt, aus der Millionenmetropole einen relativ eindrucksvollen Sternenhimmel zu sehen (siehe Bild in der Druckausgabe). Das Sternbild Orion steht aber glatt auf dem Kopf, viele Bezeichnungen treffen nicht mehr zu: Rigel, bei uns der »linke Fuß«, ist hier eher die rechte Schulter, und Beteigeuze, der Schulterstern, wird zum Fuß. Und das »Schwertgehänge« hängt gar nicht, sondern steht senkrecht in die Höhe.

Nach einer Nacht, die zur Regeneration nach dem Langstreckenflug sehr willkommen war, führt der erste Weg nach dem Aufwachen wieder schnurstracks zum Flughafen. Zwei weitere Flugstunden sind zu absolvieren, die uns in die Wüstenstadt Calama bringen. Die zurückgelegte Entfernung von 1230 Kilometern entspricht dem Anderthalbfachen der Nord-Süd-Ausdehnung von Deutschland. Santiago liegt 33 Grad südlich des Äquators, Calama nur noch 22. Mein Fensterplatz auf der rechten Seite der Maschine beschert mir eine kurzweilige Reise, weil astronomische Observatorien quasi am laufenden Band zu sehen sind. Ähnlich wie in der gleichnamigen TV-Quizsendung aus den 1970er Jahren ziehen verschiedene Sternwarten an meinen Augen vorüber: Zuerst das interamerikanische Tololo mit seiner weithin sichtbaren, in der Sonne glänzenden Kuppel des Vier-Meter-Victor-Blanco-Teleskops, in der Nähe dann der Cerro Pachon mit dem 8,1-Meter-Teleskop Gemini South, wenig später die erste europäische Südsternwarte La Silla, die bereits 1969 in Betrieb ging und die aus großer Höhe anhand der Vielzahl weißer Kuppelgebäude gut zu erkennen ist. Einige Flugminuten danach taucht das amerikanische Las-Campanas-Observatorium auf, dessen größten Instrumente die beiden Magellan-Teleskope sind, die jeweils 6,5 Meter Spiegeldurchmesser haben und in markanten und unverwechselbaren Schutzbauten untergebracht sind. Bevor die Küstenstadt Antofagasta überflogen wird, lässt noch einmal die ESO grüßen, und zwar mit dem famosen Very Large Telescope: Die Gebäude der vier 8,2-Meter-Teleskope auf dem Cerro Paranal wirken auf mich in der schier endlosen Atacamawüste wie eine Raumfahrer-Enklave auf einem ansonsten unbewohnten Planeten.


Eine entlegene, fremde Welt

In Calama angekommen ist mein erster Gedanke, diesen Ort so rasch wie möglich wieder zu verlassen. Diese Wüstenstadt in der Nähe der weltgrößten Kupfermine hat nichts Einladendes. Vegetation: Fehlanzeige! Hier fällt nur wenig, maximal 35 Millimeter Niederschlag - im Jahresmittel wohlgemerkt. Aber die Fortsetzung der Reise ist ja ohnehin mein Plan, nämlich die Fahrt mit dem Bus nach San Pedro de Atacama. Für die gut einhundert Kilometer dorthin sind fast zwei Stunden zu veranschlagen, dabei geht es bergan von 2250 auf 2400 Meter Höhe über dem Meeresspiegel. Auf der Fahrt dominiert zunächst eine trostlose Einöde, durch deren schier end- und leblose Ebenen der Wind leere Plastikbeutel vor sich hertreibt. Dreißig Kilometer vor dem Erreichen des Ziels wird es plötzlich interessanter, die bisher schnurgerade Straße schlängelt sich durch anfangs sanfte Hügel, später schroffes Felsland. Rechts zieht sich das Valle de la Luna entlang, das »Tal des Mondes« (siehe Bild S. 46ff.). Im Vorbeifahren lässt sich nur erahnen, dass hier bizarre Gesteinsformationen in unterschiedlichen Farben und Formen je nach Lichteinfall zu einem pittoresken Ensemble verschmelzen, gegen das selbst gezeichnete Fantasiegemälde von der Oberfläche fremder Himmelskörper einen blassen Eindruck hinterlassen.

Hinter einer der Kurven folgt die nächste Überraschung: eine Oase inmitten der Wüste. Gierig und entwöhnt nehmen meine Augen das Grün der zahllosen Palmen wahr, zwischen deren Kronen sich die Häuser von San Pedro verstecken. Rund 5000 Einwohner zählt das Städtchen, zuzüglich eines starken Heers von Touristen aus aller Welt. Der aus den Anden kommende Fluss Rio San Pedro lässt noch den Ort ergrünen, bevor er wenig später in der Atacamawüste versickert. Im Hotel angekommen, kann man sich die ersehnte Dusche fast sparen, denn schon beim ersten, spätestens beim zweiten Schritt im Freien wird man von einem kräftigen Windstoß erfasst, der - beladen mit mächtig viel Staub, der sich bis in die Gehörgänge Zugang verschafft - durch die Gassen der Stadt pfeift.

Wer dennoch weiterschlendert, wird die Auswirkungen der Touristenströme auf die Stadt erleben: Zahllose Läden bieten ein identisches Warensortiment feil, angeblich von heimischen Indios hergestellte Handarbeiten. Hinter den Theken lustloses Personal, das weder mein »¡Hola!« geschweige denn ein Lächeln erwidert. Immerhin finden sich hier und dort Anbieter von nächtlichen Himmelsbeobachtungen und geführten Sterntouren. Dafür geworben wird unter anderem mit einem schändlich misshandelten Newton-Fernrohr, das mit total verbeultem Tubus und durch Stoß oder Fall abgewinkeltem Okularauszug auf der staubigen Straße steht.

Abgeschreckt durch diese Erlebnisse beschließe ich, im Hotel bei einem »heimischen« Erdinger-Hefebier zu entspannen. Parallel zum Biergenuss versuche ich, meinen Internetblog zu aktualisieren. Doch die Verbindung zum Web ist langsam und bricht immer wieder zusammen. Vom Personal erfahre ich, das sei schon seit geraumer Zeit so und beträfe San Pedro im Gesamten. Erst nach dem letzten Schluck Hefebier kann ich den Erfolg verbuchen, zwei Fotos und etwas Text übermittelt zu haben. Dann fällt mir ein, dass bereits am Tag vor dem Besuch des ALMA-Teleskops wegen der großen Höhe vom Genuss alkoholhaltiger Getränke abgeraten wird. Mit einem Anflug schlechten Gewissens begebe ich mich zu Bett.

Am nächsten Morgen nehme ich, wie es meinen Gepflogenheiten entspricht, zwei Tassen Kaffee zu mir, bevor mir einfällt, dass man vor einem ALMA-Besuch auch darauf verzichten sollte. Da ich weiß, dass mir noch ein Gesundheitscheck bevorsteht, besteige ich den ESO-Bus, der uns zu ALMA bringt, mit gemischten Gefühlen. Von San Pedro aus folgt der Bus der ebenen, kerzengeraden Straße 23 in Richtung Süden. Nach 18 Kilometern biegt er links auf eine Schotterpiste ab, und wir erreichen den »Checkpoint«. Nach sorgfältiger Prüfung der Personalien bekomme ich einen Besucherausweis ausgehändigt und muss einer Sicherheitsunterweisung in Form eines englischsprachigen Videofilms beiwohnen. Neben den Risiken des abnehmenden Sauerstoffpartialdrucks in großer Höhe und der stark erhöhten UV-Strahlungsintensität kommt auch der zu vermeidende Alkohol- und Kaffeegenuss in dem etwa 20-minütigen Beitrag zur Sprache.

Endlich öffnet sich der Schlagbaum, und der Bus darf rund zwölf Kilometer weiterfahren bis zur so genannten OSF, der »Operations Support Facility« von ALMA auf 2900 Meter Höhe. Im OSF befindet sich die Steuerzentrale von ALMA. Hier werden auch die Antennen zusammengebaut und getestet, bevor sie - huckepack auf Spezialtransportern - ihre Bergfahrt zum Hochplateau antreten. Die Montageareale sind sauber getrennt nach Europa, USA und Japan. Während die ESO und die USA jeweils 25 Antennen beisteuern, übernimmt Japan den verbleibenden Rest, also 16.


Sorgfalt bei Technik und Sicherheit

Auf den ersten Blick ähneln sich alle Antennen auf der Baustelle wie ein Ei dem anderen. Doch je mehr ich mich den Schüsseln nähere, umso zahlreichere Unterschiede treten zu Tage. Während bei den Europäern geklebt wird, schrauben die anderen. Mal ist der Sekundärspiegel an vier Einzelstreben befestigt, mal an einer gitterartig verzweigten Rohrkonstruktion. Während die einen auf einen magnetischen Antrieb setzen, verwenden die anderen klassische Lösungen mit Zahnkranz und -rad. Für den Betrieb des Teleskops sind diese Unterschiede aber von zweitrangiger Bedeutung, denn entscheidend ist, was bei jeder einzelnen Antenne »hinten herauskommt«, und das sei penibel genormt, so wird mir versichert.

Rein äußerlich hinterlassen bei mir die europäischen Erzeugnisse den besten Eindruck. Sie wirken am ehesten wie ein gepflegtes Hightech-Produkt, während ich bei anderen Rostfahnen entdecke, die den weißen Lack verunzieren, noch bevor die Antennen an ihren Einsatzort verfrachtet werden. Dennoch bleiben keine Zweifel zurück, dass die perfekte Funktion von ALMA durch solche kosmetischen Details in keiner Weise leiden wird, spüre ich doch an allen Ecken und Enden, dass Organisation und Koordination an diesem Ort großgeschrieben werden. Es herrscht eine rege Betriebsamkeit, bei der alle ihre Aufgaben ganz genau kennen und zielstrebig verfolgen.

Und dass man es mit der Gesundheit ähnlich genau nimmt, wird klar, als ich zur nächsten Sicherheitsunterweisung »eingeladen« werde, einem weiteren Videobeitrag, in dem alle Risiken und Verhaltensmaßregeln erneut dargelegt werden, nur diesmal etwas ausführlicher und unterhaltsamer als beim ersten Mal.

Doch damit nicht genug: Als Lernkontrolle habe ich einen mehrseitigen, schriftlichen Test zu absolvieren. Und obwohl ich nur Mitfahrer bin, muss ich die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf der Piste zur Teleskopplattform im Kopf haben: 40 Kilometer pro Stunde. Leichter fällt mir die Frage, welche Genussmittel im Vorfeld der Bergfahrt zu meiden sind: Alkohol und Kaffee, aber das wissen Sie ja bereits.

Schon Wochen vor der Abreise brachte ich bei meinem Hausarzt den von der ESO geforderten Gesundheitscheck hinter mich, der unter anderem ein Belastungs-EKG und eine Röntgenaufnahme des Oberkörpers vorsah. Doch auch nach Vorlage des erfreulichen Ergebnisses und bestandener schriftlicher Prüfung ist der ALMA-Amtsarzt nicht zu umgehen: Aktuelle Werte für Puls, Blutdruck und Sauerstoffgehalt des Blutes werden ermittelt. Etwas nervös warte ich auf das Ergebnis, bis endlich feststeht: Bei mir liegt alles im grünen Bereich! Doch nicht alle erhalten die Erlaubnis, auf das Hochplateau zu fahren: Bei zwei Journalisten scheitert es an einem zu hohen Blutdruck. Ihnen gilt in diesem Moment mein Mitgefühl, und ich wage mir nicht vorzustellen, was ich täte, wenn ich ebenfalls betroffen wäre.

Erleichtert steige ich in den Kleinbus der ESO, der unsere Gruppe nach oben zum ALMA-Teleskop fahren soll. Der eigens zertifizierte Fahrer startet den Motor erst, als er das Einklicken auch des letzten Sicherheitsgurtes deutlich vernommen hat. Ordnung muss sein! Auf der knapp 30 Kilometer langen Fahrt werden mehr als zweitausend Höhenmeter überwunden; da bleibt genug Zeit, die Handhabung der ausgeteilten, mit Sauerstoff befüllten Dosen noch einmal vorzuführen. Zwischendurch wird bei allen Fahrgästen immer wieder der aktuelle Sauerstoffgehalt im Blut gemessen.

Die Straße ist breit und glatt, aber nicht asphaltiert. Ohne starke Mäander führt sie zunächst durch einen Gürtel, dessen Flora und Fauna von großen Kakteen und wilden Eseln dominiert wird. Über dieser Szenerie thront der dreieckige Vulkankegel des Licancabur, der seinen leicht verschneiten Gipfel 5920 Meter in den stahlblauen Himmel streckt. Mit zunehmender Höhe lässt die Kakteen- und Eseldichte nach, während die Straße ein wenig kurviger wird. Schließlich mündet die Piste zwischen zwei aus der schrägen Ebene herausragenden Bergen in eine Zielgerade.

Nach Pflanzen brauche ich nicht mehr zu schauen, in der erreichten Höhe wachsen keine mehr. Doch dafür taucht eine erste Antenne auf: APEX, eine Art Vorhut für das ALMA-Teleskop, das schon seit 2005 in Betrieb ist und die Eignung des Standorts erkunden sollte. Nun noch eine Rechtskurve, und der Bus befährt die Hochebene Chajnantor, deren korrekte Aussprache ich mir von einem »Native Speaker« erklären lasse. Als ich dem Bus entsteige, befinde ich mich mehr als 5000 Meter über dem Meeresspiegel - das ist mein persönlicher Höhenrekord!

Die Luft ist kristallklar, und es kommt mir vor, als wären meine Augen von einem Schmierfilm befreit worden. Vom schwarzblauen Himmel strahlt die Sonne als das, was sie ist, nämlich ein Stern. Ihre Wärme ist willkommen, denn der Wind ist eisig kalt. Mond und Venus finde ich am Taghimmel, fast ohne danach zu suchen. Die gute Durchsicht der Atmosphäre setzt meinen Entfernungssinn außer Betrieb: Ich denke, ich müsse nur ein paar Schritte laufen, um die ersten montierten Antennen zu erreichen. Doch sie sind viel weiter entfernt, als ich vermutete.

Der kleine Spaziergang kommt mir vielleicht deshalb länger vor, weil der aktuelle Sauerstoffpartialdruck nur noch die Hälfte dessen beträgt, was ich als Flachlandbewohner gewohnt bin. Möglich also, dass alle meine Bewegungen in Zeitlupe ablaufen. Da auch die Geschwindigkeit des Denkens um einen ähnlichen Faktor reduziert sein mag, erlebe ich die Zeitdehnung nicht bewusst. Unter Atemnot leide ich nicht, so lange ich auf den Wegen bleibe. Nach zwei, drei schnellen Schritten die Wegböschung hinauf merke ich aber die Grenzen der Sauerstoffversorgung deutlich. Ich bin froh, statt meiner schweren Fotoausrüstung nur die Leica mitgenommen zu haben; so bin und bleibe ich vergleichsweise agil und mobil. Die Intensität an ultravioletter Strahlung ist in dieser Höhe enorm und führt zu allerhand Funktionsstörungen beim Autofokus von Foto- und Videokameras der mitgereisten Journalisten. Meine Kamera ist davon nicht betroffen, denn bei ihr erfolgt die Scharfeinstellung noch manuell.


Antennenballett in 5000 Meter Höhe

Das ALMA-Verbundteleskop ist zum Zeitpunkt meiner Anwesenheit noch nicht fertig gestellt, denn von den 66 geplanten Antennen sind erst 50 installiert. Nichtsdestotrotz ist der Anblick der Antennenfelder überwältigend (siehe Bilder unten und rechts)! Etwas Vergleichbares habe ich zuvor noch nie in meinem Leben gesehen. Manche Antennen bilden kleine Völker oder Familien, andere stehen alleine, viele peilen die gleiche Position am Himmel an, einige wenige tanzen aus der Reihe. Alle Reflektoren haben zwölf Meter Durchmesser und eine glatte, reflektierende Oberfläche, die zwar nicht mit der eines optischen Spiegels konkurrieren kann, aber trotzdem gleißend hell im Sonnenlicht aufleuchtet. Die Fangspiegel-Halterungen werfen wunderschöne Schattenmuster darauf. Das schreit förmlich nach schwarzweißer Fotografie, die ich mir sowieso vorgenommen habe, weil meine Besuchszeit auf die Mittagszeit bei hoch stehender Sonne begrenzt ist und nicht bis in die Abend- oder gar Nachtstunden auszudehnen ist. Leider. Denn im grellen Licht der Mittagssonne entstehen nun einmal keine klassisch schönen Landschaftsaufnahmen mit den Antennen.

Während ich mit der gebotenen Behutsamkeit nach den besten Perspektiven Ausschau halte, schwenkt plötzlich, wie von Geisterhand gelenkt, ein Großteil der Schüsseln fast lautlos und absolut synchron auf einen anderen Ort am Himmel. Parallelen zu einer Ballett-Tanzaufführung drängen sich auf. Davon ergriffen frage ich mich, welche Erkenntnisse wohl mit ALMA in den kommenden Jahren gewonnen werden können. Warum ist noch niemand zuvor auf die Idee gekommen, ein so großes Teleskop zu bauen, das im Wellenlängenbereich zwischen Radiowellen und optischem Licht das Weltall anschaut? Oder sollte man sagen »abhört«? Vielleicht, weil es eine immense Anstrengung für alle Beteiligten bedeutet, so hoch oben zwischen Erde und Himmel ein derartiges »Wissenschaftskloster« zu errichten und zu betreiben. Die Technik muss den extremen Umweltbedingungen über viele Jahre hinweg die Stirn bieten können.

Ganz freiwillig ist die Standortwahl indes nicht. Die Entscheidung, »den Sternen ein Stückchen näher« zu kommen, hat den Vorteil, dass man einen guten Teil der Luftfeuchtigkeit unter sich lässt, denn Wasserdampf wirkt wie ein Sperrfilter für die Wellenlängen, die man beobachten möchte. Würde man die gesamte Luftfeuchtigkeit über dem ALMA-Teleskop auf dem Boden kondensieren können, ergäbe sich ein nur 0,2 Millimeter dünner Wasserfilm. In Stuttgart, so rechnet man mir vor, käme selbst an optimalen Tagen eine ein Zentimeter dicke Wasserschicht zu Stande.

Auf der Rückfahrt zur Talstation bemerke ich, dass die Höhensonne eine Teilfläche meiner Hand verbrannt hat. Offenbar habe ich beim Anwenden der Sonnencreme mit dem Schutzfaktor 100+ diesen Bereich vergessen oder nicht die nötige Sorgfalt walten lassen. Hätte ich doch bei den Sicherheitsvideos besser aufgepasst!


Stefan Seip aus Stuttgart genießt als Astrofotograf internationales Renommee. Er ist Mitglied des Fotografenverbands »The World at Night« (TWAN), und die ESO ernannte ihn kürzlich zum »ESO Photo Ambassador«. Sein Chileblog findet sich unter www.photomeeting.de/chile2012.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 45:
Sternstrichspuren über Santiago de Chile
Obwohl teilweise hell erleuchtet, lässt bereits die Hauptstadt Chiles Vorfreude auf den klaren südlichen Sternenhimmel aufkommen. Das Bild - eine Überlagerung mehrerer Einzelaufnahmen - wurde durch die Fensterscheibe des Hotelzimmers aufgenommen.

Abb. S. 46:
Wie auf dem Mond
Valle de la Luna, das »Tal des Mondes« heißt treffend ein Landstrich bei San Pedro de Atacama. Es ist Teil der Atacamawüste und liegt knapp 20 Kilometer von der Stadt San Pedro de Atacama entfernt. Im Licht der tief stehenden Sonne schimmern die Felsen in rötlichem Licht. Stellenweise ist der Boden von Salz bedeckt.

Abb. S. 47:
Auf dem Weg zur Chajnantor-Hochebene
Wilde Esel und Kakteen sind Überlebenskünstler in der Wüste.

Abb. S. 48-49:
Hightech in extremer Lage
Die rund 5000 Meter hoch gelegene Ebene Llano de Chajnantor in der Atacamawüste ist mit ihrer dünnen und trockenen Luft ein idealer Standort für das Atacama Large Millimeter/submillimeter Array (ALMA). Insgesamt 66 Antennen lassen sich zu einem hochauflösenden Interferometer zusammenschalten, um den Himmel bei Wellenlängen zwischen 0,3 und 9,6 Millimeter zu beobachten.


© 2013 Stefan Seip, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg

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Quelle:
Sterne und Weltraum 4/13 - April 2013, Seite 44 - 49
Zeitschrift für Astronomie
Herausgeber:
Prof. Dr. Matthias Bartelmann (ZAH, Univ. Heidelberg),
Prof. Dr. Thomas Henning (MPI für Astronomie),
Redaktion Sterne und Weltraum:
Max-Planck-Institut für Astronomie
Königstuhl 17, 69117 Heidelberg
Telefon: 06221/528 150, Fax: 06221/528 377
Verlag: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Slevogtstraße 3-5, 69117 Heidelberg
Tel.: 06221/9126 600, Fax: 06221/9126 751
Internet: www.astronomie-heute.de
 
Sterne und Weltraum erscheint monatlich (12 Hefte pro Jahr).
Das Einzelheft kostet 7,90 Euro, das Abonnement 85,20 Euro pro Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juni 2013