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NACHLESE/034: 50 Jahre später ... Grateful Dead - Live-Dead (SB)


Wenn der schwarze Stern nach einem Leben voller magischer Momente und lichterfüllter Visionen aufkommt und zerspringt, wenn seine Strahlen sich zu Asche wandeln und jeder Sinn und Zweck zerreißt, wenn sich die angespannten Kräfte verflüchtigen und ein trübes Licht in den Wolken der Täuschung nach einem Durchlaß sucht, dann bleibt nichts mehr als der Schritt in die hereinbrechende diamantene Nacht, der Grenze alles Vorstellbaren, lichtlos, raumlos und bar aller Antworten.
Grateful Dead - Dark Star - in freier Improvisation des Originaltextes


Unter den US-Bands, die in der Hippie-Ära entstanden und die heute wie das ferne Nachbeben einer gesellschaftlich wie kulturell umwälzenden Erschütterung nur noch mit feinsten sensorischen Antennen in ihrer originären Relevanz zu verstehen sind, sind The Grateful Dead zweifellos diejenigen, die das Bild einer sich ständig auf Tour befindlichen Gemeinschaft von Musikern am glaubwürdigsten erfüllen. Über 2300 Konzerte gab die meist in siebenköpfiger Formation auftretende Gruppe im Verlauf ihrer von 1965 bis 1995 währenden Geschichte, darunter viele, für die kein Eintritt genommen wurde. Da das zum Schluß gut 400 Titel umfassende Repertoire der Gruppe mit einem hohen Anteil an Instrumentalimprovisationen auf jeweils unterschiedliche Weise gespielt wurde und die Band das Publikum aufforderte, die bis zu vier Stunden dauernden Konzerte mitzuschneiden, sammelte sich bald eine Schar begeisterter Fans, die der Gruppe auch dann hinterherreisten, wenn sie auf anderen Kontinenten spielte. Die als Dead Heads, in loser Assoziation angelehnt an Acid Heads, bekannten BegleiterInnen der Gruppe festigten den Ruf der kalifornischen Band, eine der interessantesten, der Musik und nicht nur des Erfolgs wegen spielenden Bands der USA zu sein.

Noch bevor die halluzinogene Substanz LSD 1966 in den USA verboten wurde, reiste die Band mit dem Schriftsteller Ken Kesey und dessen Kommune mit einem in psychedelische Farben getauchten Bus durch die Lande. Bei sogenannten Acid-Tests, von bis zu 20.000 Menschen besuchten öffentlichen Happenings, wurde LSD verteilt, getanzt, geredet, gemalt und Musik gemacht. Unter dem Einfluß der für die Hippies wie ein Sakrament verehrten Droge kam es zu Erlebnissen gemeinschaftlicher Art, die die Grenzen kleinfamiliärer Rituale und gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen wirksam außer Kraft setzten. Diese Experimente waren mitverantwortlich dafür wie Ausdruck dessen, daß in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre mehrere Millionen Menschen in den USA die Utopie eines kollektiven, häufig ohne Privateigentum auskommenden und meist naturverbundenen Lebens auf dem Lande wagten.

Orange Sunshine, Blue Cheer, Window Pane - die Namen für das meist auf Löschblätter oder in Form winzig kleiner Pillen verabreichte Acid symbolisierten eine Zeit, in der es nicht so viel Mut wie heute bedurfte, persönliche und gesellschaftliche Grenzüberschreitungen zu wagen, die die Aufkündigung gesellschaftlicher Überlebensgarantien und beruflicher Karrieren zugunsten eines Lebens voller Ungewißheiten und Überraschungen zwingend zur Voraussetzung hatten. Auf sogenannten Be-Ins wurden die Dimensionen der neuen psychedelischen Kultur mit Filmen, Light-Shows, improvisierter Musik und frei erhältlichen Halluzinogenen erforscht, was erhebliche Auswirkungen auf die künstlerische Entwicklung der Epoche hatte. Zugleich kämpfte in den urbanen Zentren eine linksradikale Bewegung, die im Falle der Black Panther wie eine marxistisch-leninistische Kaderpartei organisiert und zudem bewaffnet war, gegen Krieg, Rassismus und Kapitalismus.

So kurzlebig der Mythos einer frei und sofort verfügbaren sozialen Utopie inmitten der fordistischen Industriegesellschaft der Vereinigten Staaten war und so schnell der konsumistisch hocheffiziente Kapitalismus die vielfältige und im politischen Sinne durchaus streitbare Hippie-Bewegung mit Flower Power-Zuckerguß überzog, um sie als drogeninduzierte Seifenblase so hoch aufsteigen zu lassen, daß sie platzen mußte und nicht wenige zerstörte Existenzen auf ihrer kurzen Hochgeschwindigkeitsstrecke ließ, so groß war der Einfluß der MusikerInnen und KünstlerInnen, die auf der kalifornischen Seite der 1960er Jahren groß geworden sind, auf die Popkultur insgesamt.

Auf den Acid-Tests hatten The Grateful Dead den für sie typischen, gelösten und fließenden Sound entwickelt, dessen kommunikative Freiheit Form wie Inhalt bestimmte. So traten im Hintergrund weitgehend unbeachtet gebliebene Rhythmusinstrumente wie Soloinstrumente hervor, und simple Lieder verwandelten sich in einen vibrierenden Klangteppich. Dieses vielschichtige, teilweise aus mehreren parallel gespielten Rhythmen gesponnene Gewebe wurde zum Markenzeichen der psychedelischen kalifornischen Musik. In der Atmosphäre einer Generation im Aufbruch entwickelte sich ein sehr spezifischer Sound, bei dem viel Wert darauf gelegt wurde, die Distanz zwischen Bühne und Publikum so gering wie möglich zu halten.

Die musikalische Verständigung mit den anderen Bandmitgliedern befruchtete die ausladenden Improvisationen, die um bekannte, zum Teil den Liedern des amerikanischen Westens entnommene Songstrukturen kreisten. Technischen Innovationen nicht abgeneigt verwendeten The Grateful Dead auf ihren Konzerten schon früh ein ausgetüfteltes Sound System, das der legendäre Undergroundchemiker Owsley Stanley konstruiert hatte, der die Gruppe in ihren Anfängen mit dem Geld, das er aus dem Verkauf des von ihm produzierten LSD erzielte, finanzierte.

Jerry Garcia, Leadgitarrist und Sänger der Gruppe, erklärte am Beispiel seines Zusammenspiels mit Schlagzeuger Bill Kreutzmann und Bassist Phil Lesh, wie der Prozeß der Improvisation verlief:

Wir versuchen, von den Sololinien wegzukommen. Nach der Standardroutine haben diese Mitglieder zu begleiten, und jenes hat zu führen. Wir suchen dagegen gemeinsame Musik, aber nicht in der Art des Dixieland. Etwas anderes, über das wir noch nichts wissen. Bill zum Beispiel spielt ein wenig mit jedermann. Wenn ich eine Linie spiele, weiß er genug über die Art und Weise meines Spielens und Denkens, da wir ja die ganze Zeit zusammen gespielt haben; er kann also gewöhnlich die Art und Weise, wie ich mir die Linie vorstelle, vorhersehen. So ist er eine großartige rhythmische Verstärkung für jede Figur, die ich spielen kann, gleichgültig, wie sie weitergeht. Er spielt auch wunderbar mit Phil, unserem Bassisten. In einer Standard-Rock'n-Roll-Band arbeiten Baß und Schlagzeug im allgemeinen wie eine Einheit zusammen. Motown-Schallplatten sind dafür das eindrucksvollste Beispiel. Es gibt immer nur einen Weg, eine rhythmische Situation zu beschreiben. Wir versuchen dagegen, dorthin zu gelangen, wo der Rhythmus mehr einbezogen und weniger offensichtlich ist. Wo er immer da und schwer genug ist, daß man auf ihm Tanzen kann, ohne daß jeder im Zweier- und Vierertakt spielen muß. Daß also etwas anderes passiert. [1]

Der 1942 in San Francisco geborene Jerry Garcia ist der nebligen Hafenstadt am Pazifik immer treu geblieben. Gitarre lernte er zuerst als Autodidakt, wobei er wie so viele seiner Kollegen Chuck Berry nacheiferte, erst später ließ er sich von anderen Musikern musikalisches Basiswissen beibringen. Nach einer zweijährigen Phase, in der er Rock 'n' Roll spielte, wandte er sich dem Folk zu und erlernte das Fingerpicking. Nun folgte eine Zeit der intensiven Beschäftigung mit Country und weiß eingefärbtem Gospel, was darin mündete, daß er zum Banjo griff und drei Jahre lang in einer Bluegrassband spielte.

Mit Bob Weir traf Garcia auf einen Musiker, der seine Vorliebe für Folk und Bluegrass teilte. Sie gründeten eine Jug Band, die eine dem europäischen Skiffle ähnliche Musik machte, in der Jerry Banjo und Bob Gitarre spielte. Als nächstes stieß Ron "Pigpen" McKernan zu ihnen, der mit seiner Vorliebe für Lightning Hopkins den Rythm & Blues in die Band einbrachte. Mit dem Bassisten Phil Lesh, der vom Jazz kam und ein Faible für moderne Zwölftonmusik hatte, und den Schlagzeugern Bill Kreutzman und Mickey Hart wurden The Grateful Dead 1965 im kalifornischen Palo Alto offiziell gegründet. Bis auf den 1973 verstorbenen McKernan bildeten sie für drei Jahrzehnte den Nukleus einer bis zu 70 Personen umfassenden Gemeinschaft, die teilweise zusammen lebten und eine eigene Produktionsfirma betrieben.

Das zwischen Ende Januar und Anfang März 1969 im Fillmore West und Avalon Ballroom in San Francisco aufgenommene Doppelalbum Live/Dead markiert den kreativen Höhepunkt der psychedelischen Phase der Band. Zu der Zeit war Keyboarder Tom Constanten erst einige Monate Mitglied der Gruppe. Seine in Konzeptmusik verankerte Ideen vertrugen sich nicht mit der Improvisationsauffassung der anderen Musiker, so daß er die Band 1970 wieder verließ, doch auf Live/Dead spielt er einen für den Gesamteindruck des Albums wichtigen und unverzichtbaren Part.

Das 23minütige, nur sparsam mit Textelementen versehene, dafür aber mit damals nie gehörten Tonfolgen aufwartende Stück Dark Star nimmt die ganze erste Plattenseite ein. Es bringt die dunklen Horizonte imaginativer Klangwelten auf eine Weise hervor, die das Stück zur sinnstiftenden Hymne vieler Hippies machte. Das wenn nicht im All, dann sicher nicht auf der Erde beheimatete Werk war der Höhepunkt vieler Konzerte und stetiger Anlaß darüber zu diskutieren, welche der verschiedenen Versionen die Verheißungen, auf Trip zu gehen, wie es damals hieß, am authentischsten verkörpert.

Auf den Seiten 2 und 3 wird ein optimistischer, freudiger, ja euphorischer Ton angeschlagen. Auch St. Stephen, The Eleven und Turn On Your Love Light gehören zu den Klassikern der Band in ihrer frühen Ära, die den Anspruch auf freie Form mit zum Teil recht dissonanten Klangexkursionen vollständig erfüllte. Death Don't Have No Mercy, ein nicht nur Ohnmacht beklagender, sondern deren Überwindug einklagender Blues von Reverend Gary Davis nimmt die ersten 10,5 Minuten von Seite 4 ein. Feedback kann, wie der programmatische Titel sagt, als fast achtminütiger Abgesang auf die industrielle Zivilisation gehört werden. Das paßt auch deshalb gut, weil das Kalifornien der Grateful Dead heute als Wiege des digitalen Zeitalters glorifiziert wird, allerdings ohne die Scheuklappen abzunehmen, die erkennen ließen, daß dessen dystopische Wirklichkeit alles überholt, was schon damals zu befürchten war. In weniger als einer Minute beschließt das Gutenachtlied And We Bid You Goodnight das Album mit einer versöhnlichen Note, der, wenn man will, das Subversive der Botschaft durchaus anzuhören ist.

Live/Dead war eine Offenbarung und wurde zu dieser Zeit als solche erlebt. In den Worten des bis heute als verschollen geltenden Musikjournalisten, Produzenten und LSD-Missionars Rolf-Ulrich Kaiser kann nachempfunden werden, mit welcher Emphase Musikfans damals vom Gegenstand ihrer Inspiration schwärmen konnten:

Live/Dead bringt die Botschaft von der Idee des Menschen und von seiner Gemeinschaft in der hellsten und leuchtendsten Farbe. Auf diesem Album ist die Gruppe der Trip selbst. Sie erzählt nicht von der Reise; das ist unsere Deutung; sie ist die Reise. Nur wer mit einsteigt und mitmacht, ist die Reise. [2]


Fußnoten:

[1] Rolf Ulrich-Kaiser: Rock-Zeit, Düsseldorf 1972, S. 90

[2] a.a.O., S. 91

22. Mai 2019


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