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NACHLESE/030: 50 Jahre später ... Scott Walker - Scott 4 (SB)


A man's work is nothing but this slow trek to rediscover, through the detours of art, those two or three great and simple images in whose presence his heart first opened. Zitat von Albert Camus auf der Rückseite des Covers von Scott 4 [1]


Am 22. März verstarb Noel Scott Engel, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Scott Walker, im Alter von 76 Jahren. Sein Lebenswerk als Sänger, Komponist und gelegentlicher Produzent umspannt das breite Spektrum ausgesprochen radiotauglicher Hits mit den Walker Brothers, früher Solowerke, in denen mit klassischen Balladen von Jacques Brel, Broadway-Songs und eigenem Material ein neuer Weg zwischen europäischer Musiktradition und US-amerikanischem Pop eingeschlagen wird, und einem Spätwerk, das ihn an der vordersten Front avantgardistischer Neutöner plaziert. Der US-Amerikaner verbrachte den größten Teil seiner künstlerischen Laufbahn im Vereinigten Königreich, wo seine Musik von Größen britischer Rocktradition wie David Bowie, Jarvis Cocker, Thom Yorke oder Brian Eno als maßgebliche Inspiration gelobt wurde.

Scott Walker war stets an den gesellschaftlichen und politischen Umständen, unter denen er lebte, interessiert und reflektierte sie in seiner Musik. So setzte er sich mit dem Leben und der Ermordung Pier Paolo Pasolinis auseinander, dramatisierte Ereignisse in den Kriegen des Nahen und Mittleren Ostens, prangerte die Folterung von Gefangenen durch die CIA an, widmete sich dem Prozeß gegen Adolf Eichmann und inszenierte ein fiktives Gespräch mit der Leiche Che Guevaras. Seine mit Starruhm überhäufte Persona des britischen Kulturlebens machte sich meist rar und hielt sich mitunter jahrelang von jedem öffentlichen Auftritt fern. Der 2006 erstmals gezeigte Dokumentarfilm "Scott Walker: 30 Century Man" erhielt beste Kritiken und festigte seinen Ruf als lebende Legende unter den in den 60er Jahren groß gewordenen und noch lebenden KünstlerInnen.

Schon in seinen ersten Solowerken zeigte sich, daß die großen Gefühle, mit denen die Walker Brothers die Massen begeisterten, bei Scott die Neigung hatten, ins Düster-Unheimliche zu driften. Auf seinem ersten, 1967 aufgenommenen Soloalbum Scott interpretierte er mit My Death und Amsterdam zwei dramatische Lieder von Jacques Brel, mit denen auch David Bowie gerne einen antithetischen Akzent zum lebensfroh aufschäumenden Geschehen in der Popszene setzte. Die ebenfalls für Scott aufgenommene Eigenkomposition Montague Terrace (In Blue) ließ bereits das große Potential des damals von vielen Rockfans als Crooner belächelten Walker Brother erkennen.

1969 veröffentlichte der Sänger mit der großen Stimme gleich drei Alben - Scott 3, Scott: Scott Walker Sings Songs from his T.V. Series und Scott 4. Heute stechen auch seine Middle-of-the-Road-Nummern aus dem Repertoire bewährter Hitproduzenten aufgrund der unverkennbaren emotionalen Färbung seines Gesanges aus der Masse der damals produzierten Popmusik hervor. Scott 4, das ursprünglich unter seinem Geburtsnamen Noel Scott Engel veröffentlicht wurde, ging damals fast unbeachtet unter, wird allerdings heute zu seinen stärksten Alben gezählt und ist in der insbesondere großen SongschreiberInnen gewidmeten Sammlung 1001 Albums You Must Hear Before You Die aufgelistet.

Schon der Opener The Seventh Seal ist ein großartiges Beispiel für seine ingeniöse, Text und Musik organisch miteinander verschränkende Kompositionskunst. Scott Walker hat häufig Bezug auf Filme genommen und selbst Soundtracks verfaßt oder Songs zu ihnen beigesteuert. Mit Ingmar Bergmans 1957 veröffentlichtem, mit existenzialistischen Allegorien grundmenschliche Fragen aufwerfenden Meisterwerk Das Siebente Siegel, in dem ein von einem Kreuzzug heimkehrender Ritter beim Tod Aufschub durch ein Schachspiel erlangt und dabei feststellt, daß der Tod selbst keinen Sinn in seinem Tun erkennen kann, hat Scott Walker einen seine Generation zweifellos auch in ihrer Angst vor der ultimativen Vernichtung durch den Atomkrieg bewegenden Film zum Gegenstand seiner künstlerischen Ambition gemacht.

Auch Angels of Ashes hat einen bemerkenswert tiefsinnigen Text, der dem Lauschenden den Boden unter den Füßen wegzieht, wenn seine blinden Hände die unermeßlichen Wasser nicht greifen können, in die er hineingezogen wird. Scott Walker war ein Dichter eigener, vor allem abgründiger Art, der schon in jungen Jahren, so im Song Boy Child, von den schmerzerfüllten Erinnerungen des Alters zu singen wußte. Der unter den Wehen einer Mutter, die bereits den Verlust des Ehemannes im vorherigen Krieg zu ertragen hatte, geborene Kriegsheld kehrt in Hero of the War in sein vertrautes Viertel zurück, um weder die Hände der Nachbarn, die seine Orden bewundern, schütteln noch die Füße bewegen zu können, so sehr hat ihn der Krieg versehrt.

The Old Man's Back Again beklagt mit großartiger Melodie und archaischen Bildern die Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Truppen der Sowjetunion und verbündeter Staaten. Doch auch die sowjetischen Soldaten bleiben in ihren Gedanken nicht davon verschont, an der eigenen, totgeborenen Mission zu vergehen. Nicht der Schwerkraft der Zeit zu erliegen und das Gesicht in den Gesichtern der Liebenden wiederzuerkennen bedarf eines Freundes, der ihn daran erinnert sich zu erinnern, nicht mehr dorthin zurückzukehren, heißt es in Get Behind Me. And roaring through darkness, The night children fly, I still hear them singing, The rhymes of goodbye - die letzten Zeilen des letzten Titels Rhymes of Goodbye sind einem Abschied gewidmet, den Scott Walker schon vor 50 Jahren antizipiert und vollzogen hat.

Popmusik von dieser musikalischen Qualität und poetischen Tiefe widerlegt jeden Verdacht, daß Trivialität der zweite Name dieses Genres sei. Scott Walker wird vermutlich von vielen Menschen erst jetzt als herausragender Komponist und Sänger entdeckt werden. Seine mit den Mitteln der Kunst vollzogene Suche nach jenen zwei oder drei großen und einfachen Bildern, bei deren Anblick sich sein Herz erstmals öffnete, wie es Camus auf der Rückseite des Plattencovers von Scott 4 sagt, geht jedenfalls weiter. Im nächsten, auf dem Albumcover nicht mehr abgedruckten Satz erklärt der französische Philosoph in Rückschau auf das eigene Forschen: "This is why, perhaps, after working and producing for twenty years, I still live with the idea that my work has not even begun." [2]


Fußnoten:

[1] Albert Camus: Lyrical and Critical Essays, Vintage International, 1970

[2] a.a.O.

26. März 2019


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