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INTERVIEW/046: Burg Waldeck - Renaichancen ...    Bernd Köhler im Gespräch (SB)


Zu den Wurzeln zurückgekehrt - Musikalisch innovativ

Linker Liedersommer auf Burg Waldeck vom 19. bis 21. Juni 2015


Es hieße Eulen nach Athen zu tragen, wollte man das langjährige musikalische und politische Schaffen Bernd Köhlers in einer summarischen Vorrede unzulässig verkürzen. Lassen wir ihn lieber selbst zu Wort kommen, wie er das beim Linken Liedersommer im Gespräch mit dem Schattenblick ausführlich getan hat. Bei seinem anschließenden Workshop bot sich im übrigen die aufschlußreiche Gelegenheit, die Einprägsamkeit seiner Texte und den ansprechenden wie verbindenden Übertrag des gemeinsamen Probens auf direkteste Weise in Erfahrung zu bringen.


Im Gespräch - Foto: © 2015 by Schattenblick

Bernd Köhler
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Es heißt, du seist 1967 zum ersten Mal öffentlich in Erscheinung getreten. Das hatte doch bestimmt eine Vorgeschichte?

Bernd Köhler (BK): Das ist eine gute Frage. Es ist ohne die Zeit, die sich damals angebahnt hatte, natürlich nicht denkbar. Dabei ist auch so ein Ort wie die Waldeck sehr wichtig, auf der ich mit 17 Jahren war. Wir wollten von unserem Jugendzentrum auf dem Dorf mit dem Bus hinfahren und haben als Reiseziel ein Volksliedfestival angegeben. Dann sind wir hochgefahren auf die Waldeck, es war damals das letzte Zerreißfeld des dortigen Treffens der politischen Liedermacher, aber trotzdem sehr wichtig, um sich zu orientieren. Die Vorgeschichte ist folgende: Ich komme aus einem Elternhaus, in dem sehr viel Musik gemacht wurde. Das war eine interessante Melange, mein Vater Elektriker bei der BASF, meine Mutter kam aus Österreich - die beiden haben sich im Krieg kennengelernt -, sie kam aus einem gutbürgerlichen Haus, was als familiäre Voraussetzung nicht einfach, aber toll für uns Kinder war. Aus dieser Historie heraus waren Musikinstrumente da, es gab ein Klavier, und wir sollten alle in der Schule ein Instrument lernen, um daheim Hausmusik zu machen. Mir als Kind hat das nicht gefallen, aber es war natürlich sehr förderlich.

Dann kam noch dazu, daß es in dem Ort, wo ich aufgewachsen bin, ein sogenanntes Jugenddorf gab. Es bot Jugendlichen aus der ganzen Bundesrepublik die Möglichkeit, in der BASF Ludwigshafen, die ganz in der Nähe liegt, eine Ausbildung zu machen. Das hatte natürlich zwei Seiten: Die BASF kasernierte diese Jugendlichen, an denen sie sehr interessiert war. Andererseits hat sich dort eine eigene Kultur entwickelt. In diesem Jugenddorf habe ich zum ersten Mal Skiffle-Musik gehört, die ganz anders als die Volkslieder war, mit denen ich aufgewachsen bin.

Als drittes kam hinzu, daß es damals in den Radiosendern, die man als Jugendlicher hören konnte, Sendungen mit Liedern aus Amerika gab, wie auch andere, in denen ich erstmals Franz Josef Degenhardt gehört habe. Das waren Initialzündungen, die etwas bei mir ausgelöst haben. Hinzu kam dann noch die Studenten- und Schülerbewegung, die damals anlief. Ich habe in der Skiffle-Gruppe angefangen Musik zu machen, schrieb auch schon selber Lieder und habe dann in dem Forum dieser Auftritte die Möglichkeit gehabt, auch meine eigenen Sachen zu bringen. So ist auch damals der Spitzname "Schlauch" entstanden - ein Name aus der Schulzeit, den keiner erklären kann -, der sich dann weitergetragen hat, weil die Leute gesagt haben, der Schlauch singt, und dann hat man natürlich auch "Schlauch" hingeschrieben, so hat sich das entwickelt.

SB: Du hast häufig auf Festivals gespielt. Was war das damals für eine Zeit, wie hast du sie erlebt?

BK: Das war eine unglaublich turbulente Zeit, es gab diese Aufbruchstimmung nach allen Richtungen hin. Es war natürlich eine politische Bewegung, glücklicherweise hat dieses Land ein solches Zerreißfeld erlebt, in dem sich andere Gedanken formulieren konnten, die nach Hause getragen wurden. Zu Hause gab es dann Auseinandersetzungen in der Familie, weil bis dahin alles unter dem Deckel gehalten worden war. Alles, was links war, und eine Betrachtungsweise, die den Faschismus hinterfragt hat, fehlte völlig als Grundlage bei der Entstehung der Bundesrepublik. Dann kam diese Zeit ab Mitte der 60er Jahre, und ich gehöre zu dieser zweiten Generation. Wir waren die Jüngeren und hatten es sicher schon ein bißchen einfacher als die Älteren, die sich konsequenter und bewußter durchsetzen mußten. Mit den Älteren meine ich in der Liedermacherszene Leute wie Franz Josef Degenhardt oder Walter Mossmann, die in einem sehr gebildeten Kontext aufgewachsen sind, in dem das französische Chanson eine Rolle gespielt hat.

Bei mir war das eher nebulös, aber mit dem Willen oder auch dem inneren Wunsch, die Sachen zu formulieren, die einem durch den Kopf gehen, und sich daran abzureiben. Da kam es dann zu interessanten Erfahrungen. Ich kann mich noch erinnern, daß ich von den Pfadfindern, die ja ganz breit gestreut und teils sehr fortschrittlich waren, zu einem Musikabend eingeladen wurde. Da war auch Christof Stählin dabei, der sehr viel älter ist. Er hat mir nach dem Konzert dermaßen den Kopf gewaschen und geschimpft, du singst da Sachen, von denen du gar nichts weißt. Ich habe damals übernommen, was die Älteren erzählt haben. Da waren durchaus kluge Dinge dabei, aber natürlich hatte er schon recht. Ich habe damals gedacht herrje! und zwei Monate die Gitarre in die Ecke gestellt. Aber dann fing ich wieder an zu reflektieren und zu sagen, so ganz verkehrt waren die Sachen ja doch nicht, die ich gespielt habe. Solche Auseinandersetzungen, die damals geführt wurden, waren sehr wichtig für mich.

SB: Du hast sowohl eine musikalische als auch eine politische Entwicklung durchlaufen. Wie ist es zu deinem politischen Engagement gekommen?

BK: Politisch habe ich mich relativ früh engagiert. Über meinen Vater hatte ich diese Bezüge zu Arbeiterfamilien und eine Verbundenheit mit ihnen. Das war erstmal eine emotionale Geschichte der Zuwendung zur Arbeitswelt und zu den Menschen, die in den Betrieben arbeiten und die die Dinge bewegen. Deshalb habe ich mich relativ früh und auch bewußt in Richtung der DKP orientiert. Ob das letztendlich auch für die künstlerische Entwicklung, die sich da angebahnt hatte, schlüssig war, oder es auch Brüche gab, vermag ich im nachhinein jedenfalls nicht negativ zu sehen. Wenn ich getourt bin, habe ich dank der Bezüge, die ich über die Kommunisten zu Arbeitern hatte, in solchen Familien übernachtet. Das war eine unglaublich tolle Grundlage für alles, was ich später gemacht habe. Ich bin bis heute mit kämpferischen Arbeitergeschichten verbunden, das ist etwas ganz Essentielles für meine Haltung und meine grundlegende Herangehensweise.

Was damals ein bißchen verschütt gegangen ist, war der künstlerische Freiraum. Das hätte nicht sein müssen, das war meine eigene Entscheidung, denn die Partei hat nicht gesagt, du mußt das so oder so machen. Der Franz Josef Degenhardt hat das ganz anders gemacht. Aber er war auch schon souverän, als er da reinging. Aus meiner heutigen Sicht ist damals einiges an politischen Bewegungen an mir vorbeigegangen, was ich später über die Kontakte auch zu Walter Mossmann oder Frank Baier im Ruhrgebiet, Leute, die mit den ganz konkreten Parteigeschichten nie so verbandelt waren, erfahren habe. Im nachhinein könnte man sich natürlich überlegen, welche sonstigen Einflüsse möglich gewesen wären und zu anderen musikalischen Produkten geführt hätten. Aber ich stehe zu dieser Zeit, zumal der Bogen bis heute reicht.


Bernd Köhler im Gespräch - Foto: © 2015 by Schattenblick

Mit kämpferischen Arbeitergeschichten verbunden
Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Du bist häufig bei Arbeitskämpfen aufgetreten. Ist diese Verbindung zu konkreten Auseinandersetzungen bei dir nie abgerissen?

BK: Doch, die ist in den 90er Jahren abgerissen. Der Crash der sozialistischen Länder hat auch die linke Kultur in einem viel stärkeren Ausmaß getroffen, als ich mir das hätte vorstellen können. Ich bin nach 1990 noch ein, zwei Jahre bei Gewerkschaften aufgetreten, bis ich mir plötzlich wie ein singendes Museum vorkam. Im Grunde wollten die das gar nicht mehr, sie wollten nur noch die Attitüde, aber die Kämpfe nicht mehr. Wenn ich heute mit guten Gewerkschaftern über diese Zeit spreche, dann bestätigen die das auch. Die 90er Jahre waren ein totes Jahrzehnt. Ich habe mich dann entschieden, nein, das tue ich mir nicht an. Ich hatte da so einige Sänger vor Augen, die ich artifiziert fand. Das war nicht gelebt, hatte keinen Bezug mehr, es gab ja kaum mehr Auseinandersetzungen, die so kraß waren, wie ich das in den 80er Jahren erlebt habe. Also habe ich dieses Kapitel beendet und gesagt, wenn die Arschlöcher das nicht wollen, mache ich eben andere Sachen.

Ich habe mich danach mit freien künstlerischen Arbeiten befaßt, bei denen ich plötzlich ganz andere Möglichkeiten der Darstellungsweise fand. Daraus hat sich diese Formation, das kleine elektronische Weltorchester, gebildet, die aus einem künstlerischen politischen Bezug hervorging. Unser erstes Programm war dem russischen Revolutionsdichter Majakowski gewidmet, also in diesem Sinne nicht aktuell. Mich haben daran mehr die Sprache und natürlich seine Haltung gereizt.

Daß mein früheres Engagement in aktuellen Auseinandersetzungen wieder reaktiviert wurde, hängt einzig und allein mit dem Kontakt zusammen, den ich 2003 mit Alstom bei mir in Mannheim bekam. Da dieser Betrieb plattgemacht werden sollte, kam es zu Arbeitskämpfen. Irgendwann habe ich jemanden aus der Belegschaft auf der Straße getroffen, der zu mir sagte: Wir waren in Paris und haben gehört, daß es neben Losungen auch Lieder gibt. Wir haben keine Ahnung von dieser Liedtradition und fänden es gut, wenn du uns so ein Lied schreibst. Ihr könnt mich mal, habe ich damals wirklich gedacht. Da ich aber schon verfolgt hatte, was die da treiben, ließ ich es mir durch den Kopf gehen. Die haben mich dann zu einer Sitzung im Betriebsratsbüro eingeladen, und diese Grundatmosphäre dort, die ganz auf Kampf ausgelegt war, wirklich auf Arsch hinhalten, auf Biegen und Brechen, wir ziehen das Ding durch, war das, was meine Seele wieder erreicht hat, und wo ich gedacht habe, die sind es wert.

Ich habe ihnen einen Song geschrieben, der wirklich gut war. Das hing auch mit meiner Frankreich-Affinität zusammen. Ich bin damals sehr viel nach Frankreich gefahren, mir gefiel die Musik, etwas Mitsingbares. Und als ich ihnen das Lied vorgestellt habe, kam mir spontan eine Idee, und ich sagte: Ich habe euch den Song geschrieben, aber singen müßt ihr ihn selber. Es gab einen Aufruf im Vertrauenskörper, daß man dringend Leute brauche, um dieses Lied zu singen, und daraus hat sich ein Chor gebildet, der seit dreizehn Jahren bis heute existiert. Das hat mir wieder den Mut gegeben zu sagen, ja, da bewegt sich was. Parallel dazu gab es damals die Hartz-IV-Bewegungen, und bei solchen Bewegungen schaut man sich ja die Historie an, wie die das damals gemacht haben, welche Lieder dabei entstanden sind. Ich sage das auch deswegen so bewußt, weil Geschichte nicht nur aus dem eigenen Kopf entsteht, sondern die eigene Entwicklung von den Dingen geprägt ist, die um dich herum passieren. Es kommt darauf an, ob du ein waches Auge hast und ob sich Zufälle ergeben. Das war ein Zufall, daß der mich da angequatscht und erzählt hat, daß sie in Paris waren. So bin ich wieder dazugekommen und habe heute sowohl mit der Formation, als auch alleine und auch bei den Auseinandersetzungen auf betrieblicher Ebene vor dem Tor nach wie vor große Freude.

SB: Würdest du sagen, daß in solchen Kämpfen sowohl politisch als auch musikalisch Dinge entstehen, die vorher nicht da waren?

BK: Ja, unbedingt. Im Alstom-Chor gab es bemerkenswerte Entwicklungen. Die Leute hatten zunächst keine Ahnung von dieser Liedkultur und waren höchst erstaunt, daß früher schon Lieder in dieser Art und Weise gesungen wurden. Es hat allerdings zehn Jahre gedauert, bis jetzt das erste eigene Lied aus dem Chor heraus entstand. So sind eben die Zeiträume. Auf eine Melodie, die es schon gab, haben sie selber einen tollen Song geschrieben. Das dauert genauso lange wie die politischen Prozesse.

SB: Der Arbeitskampf bei Alstom fiel in eine Zeit, in der solche Auseinandersetzungen kaum noch stattfanden. Wie kam es dazu, daß die Belegschaft dieses Mannheimer Betriebes so entschieden für ihre Interessen eintrat?

BK: Die hatten ihre Tradition. Das war ein Betrieb, der stets als der kämpferischste in Mannheim galt. Das hängt immer auch an einzelnen Leuten, die nie klein beigeben. Die Jungen haben es von den Älteren gelernt. Trotzdem konnten sie nicht verhindern, daß von ehemals 20.000 Beschäftigten jetzt nur noch 2000 übrig sind. Aber sie haben damals im Jahr 2003, als das Lied entstand, gegen diesen Beschluß aus Paris so viel Unruhe gemacht - und das Lied war ein Teil davon -, daß es für die Gegenseite unangenehm wurde und sie zurückstecken mußte.

SB: Du hast deine Verbindung zum französischen Chanson angesprochen. Franz Josef Degenhardt und andere politische Liedermacher haben es sehr geschätzt und ins Deutsche übertragen. Hat diese Chanson-Tradition deines Erachtens auch in Deutschland Fuß gefaßt?

BK: Das kann man nicht sagen. Meine Generation hat genau diesen Bruch erlebt. Trotz meines Wunsches, nach Frankreich zu fahren, dort Urlaub und Tramptouren zu machen, ging das französische Chanson in meiner Entwicklung an mir vorbei. Ich war mehr geprägt durch die historischen Volkslieder und Arbeiterlieder, dann durch die russische Kultur, auf die man aus politischen Gründen den Fokus richtete, Lateinamerika und vor allen Dingen die ganze angloamerikanische Geschichte. Die Folkmusik hat mich viel mehr geprägt als das französische Chanson. Da war Bob Dylan wichtiger als Georges Brassens. Das Chanson hat mich nicht so erreicht, wie das bei manchen anderen Leuten der Fall war. Und da war ich nicht der einzige, das kam plötzlich wie eine Welle, die auch medial transportiert wurde. Deswegen habe ich das französische Chanson leider kaum beachtet, obgleich es diese Kultur neben dem deutschen Volkslied vielleicht am eindringlichsten verstanden hat, die Dinge zu verdichten, die den Menschen umtreiben, kleine Geschichten zu erzählen, sehr pointiert und oft satirisch. Ich habe später den Kontakt zu einer Französin gebraucht, mit der ich jetzt solche Programme mache, die mir im Grunde genommen das Auge und das Ohr in diese Richtung geöffnet hat, worüber ich sehr froh bin.

SB: Du bist mit den Menschen, mit denen du Musik machst, schon sehr lange zusammen. Spielt diese Kontinuität der Zusammenarbeit für dich eine wichtige Rolle?

BK: Die Kontinuität spielt eine Rolle, aber auch das Vertrauen, mit allen Ecken und Kanten. Daß man sich kennt, daß man sich gegenseitig fordert, um die Dinge streitet, ohne daß der Laden gleich auseinanderfliegt. Ich glaube, in kurzfristigen Prozessen ist so etwas nicht möglich. Das muß entstehen, wachsen, es müssen freundschaftliche Beziehungen da sein, und es muß auch eine Grundverbundenheit reifen, die nicht sofort entsteht. Bei mir ist es zumindest so. Bei Hans Reffert, mit dem ich 1969 das erste Mal aufgetreten bin, ist das eine Wesensgleichheit in unserem Verständnis, wie Musik zu sein hat, wie eckig, wie kantig, aber auch wie dynamisch, daß jedes Konzert auch etwas Unberechenbares hat. Dafür steht er, und das schätze ich sehr, weil ich nicht so ein formalistischer Mensch bin. Das Geprobte ist das eine, aber das, was man auf der Bühne macht, ist eine ganz andere Geschichte. Und die muß gelebt sein, die muß die Möglichkeit haben, umzudenken, zu reagieren, das Programm umzuschmeißen und was Neues zu machen. Dazu brauchst du Gefährten in gleichem Sinne, die daran den gleichen Spaß haben wie du. Die manchmal auch daran verzweifeln, daß es so läuft, aber die das im Grunde wollen. Die auch eine gewisse Unberechenbarkeit in ihren solistischen Exkursionen auf der Bühne haben, das finde ich schon sehr wichtig.

Deswegen war es in der Tat immer eine längere Zusammenarbeit, die meine musikalische Arbeit geprägt und gefördert hat. Ich würde sogar sagen, daß beispielsweise unsere letzte Produktion anders nicht möglich gewesen wäre. Ich betone das auch deswegen, weil oft derjenige, der Lieder schreibt und komponiert, als der große Zampano gehandelt wird. Das entspricht einfach nicht der Wahrheit. Die Wahrheit ist, daß die Einflüsse von allen, die daran mitwirken, sowohl die Musik als auch die Inhalte verändern. Wir haben oft Texte hinterher umgeschrieben, wenn wir uns an den Stücken abgerieben hatten. Klar, die Texte zu schreiben, liegt bei mir. Aber wir haben sie bei den Proben immer wieder neu reflektiert. Und deswegen sind die Musiker von ewo2 genauso wichtig wie ich selber.


Bernd Köhler im Gespräch - Foto: © 2015 by Schattenblick

Kontinuität, Grundverbundenheit, Vertrauen ...
Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Du hast zusammen mit Winfried Wolf das Programm "Zug um Zug" entworfen und gestaltet. Wie ist das gelaufen, hat er die Texte gesprochen und du die Musik gemacht?

BK: Wir haben zusammen Musik gemacht, es war immer die Combo. Er hat Texte ausgesucht, und wir haben recherchiert, was es an Liedkultur zum Thema Eisenbahn gibt. Ich hätte nie gedacht, daß kaum eine der bekannten Bands dieses Thema außen vor gelassen hat. Es gibt unglaublich viele Lieder über Züge, über die Sentimentalität, die damit zusammenhängt. Wir haben das dann relativ flott zusammengebastelt. Zum Glück hatten wir so etwas wie dieses Buch "Ein Zug aus Feuer und Eis" von Ramón Chao. Sein Sohn Manu Chao hat trotz des Bürgerkriegs eine Reise durch Kolumbien gemacht. Mit einer Künstlertruppe hat er einen alten Zug reaktiviert und zusammengebaut, da waren Sensationswagen dabei, aber auch viel Musik. Damit sind sie auf alten Strecken durchs Land gereist und haben an zahlreichen Orten Station gemacht, weil er für die Bahn werben wollte. Aber er wollte natürlich auch ein tolles Erlebnis haben, ihn trieb die Abenteuerlust. Das ergab dann die Klammer für unser Programm. Winnie hat Zitate aus dem Buch gelesen, und wir haben unsere Lieder angedockt. Das war und ist ein tolles Programm, wir haben es jetzt dreimal aufgeführt. Das Problem dabei ist natürlich, daß man für den Rahmen einen hohen technischen Aufwand betreiben muß. Aber es hat allen Musikern sehr viel Freude gemacht, diese Titel neu zu arrangieren und neu aufzubereiten.

SB: Ich habe dich so verstanden, daß für dich deine Tradition eine lebendige Tradition ist, also in deiner Lebensgeschichte gründet, ohne deshalb abgeschlossen zu sein.

BK: Ja, das kann man so sagen. Auch lebendig in dem Sinne, daß wir immer versuchen, diese historischen Titel in die heutige Zeit zu transformieren, vom Gefühl her zumindest mal, von der Musikalität. Ich halte nicht viel davon, Authentizität in dem Sinne zu fordern, daß man alles wie vor 150 Jahren spielen muß. Das ist sowieso nicht möglich. Du mußt dich einfühlen, einlesen in diese Zeit, du mußt diese Auseinandersetzung selber wieder empfinden, wie lebensgefährlich es beispielsweise war, ein Lied wie "Die Gedanken sind frei" zu singen. Das kannst du nur vermitteln, wenn du es im eigenen Kopf hast und auch wieder so verarbeitest, daß die Leute das auch spüren.

Das historisch Authentische ist ein Teil davon. Aber auch das Interpretatorische ist ein ganz wichtiger Aspekt, um das in der Heutzeit zu plazieren. Das war unser Anliegen, als wir diese Avanti-Popolo-Reihe mit historischen Liedern gemacht haben, die wir wie auch die Internationale wieder reaktivieren wollten. Dieses Lied war kaputtgesungen, auch kaputtgemacht worden durch politische Umstände. Dabei ist es ein wichtiges und wertvolles Lied, hervorgegangen aus der Pariser Kommune, mit Formulierungen, die bis heute tragen. Ich habe mir damals überlegt, wie ich das Lied wieder so zurückkriege, daß es eine Bedeutung bekommt. Schließlich kam ich darauf, es nicht zu singen, sondern zu rezitieren. Das war der Weg, dazu eine elektronische Musik, die die musikalischen Formen dieses Liedes aufgreift, das plötzlich ganz aktuell wurde. Wir sind damit einmal bei einer kirchlichen Veranstaltung aufgetreten, ohne vorher zu erklären, um was für ein Lied es sich handelt. Hinterher kamen die Leute und sagten, das war ein toller Song, weil die Sprache plötzlich wieder Substanz hatte.

Das ist meine Sicht, und dazu gehört ebenfalls, daß wir auch ganz andere künstlerische Programme machen, nicht nur diese dezidiert politischen Sachen, sondern immer die Augen offenhalten, und "Zug um Zug" ging ja auch in diese Richtung. Neue Felder, die einen vor allen Dingen in künstlerischer Hinsicht anspringen, daraus ergibt sich dann so eine Melange, die auch heute Chancen hat, angenommen zu werden: Daß man sich nicht in eine Nische zurückzieht, in der sich Mikrokosmen treffen, die zuviel Altes bewahren wollen, sondern daß es die Leute, ich will nicht sagen die Massen, ergreift, aber daß es auch mehr junge Leute interessiert.

SB: Welche Erfahrungen hast du in dieser Hinsicht gemacht? Kannst du auf diese Weise verstärkt junge Menschen ansprechen?

BK: Auf die Art und Weise, wie wir zum Beispiel die Arbeiterlieder transportieren, ist das schon ein sehr guter Weg, um junge Leute anzusprechen. Manchmal bin ich zwar entsetzt, wie traditionsverhaftet die schon wieder sind und uns beschimpfen, wenn wir die Internationale auf unsere Weise spielen. Aber in der Breite ist das ein sehr guter Weg, ein junges Publikum zu erreichen. Wir haben letztens zu zweit ein Konzert in Völklingen gegeben, das in einem Bahnhof gegenüber dem immer noch existierenden Werk von Saarstahl stattfand. Drei Jahre hatte die IG Metall gebraucht, um den Mut zu fassen, diese Veranstaltung zu organisieren. Der Saal war rappelvoll, ein Drittel davon waren junge Kolleginnen und Kollegen, die noch textsicherer als die älteren waren. Alle waren gekommen, um gemeinsam zu singen und sich an diesem Abend die Dinge selber noch einmal zu vergegenwärtigen.

Das sind tolle Erlebnisse, die zeigen, daß sich auch heute etwas in dieser Richtung bewegt. Auch medial ist wieder eine gewisse Aufmerksamkeit da, wenngleich es natürlich nicht mehr diese Sendungen wie früher gibt, die zu einer guten Uhrzeit solche Lieder präsentieren. Aber ich bin über das Älterwerden auch nachsichtiger geworden und denke, daß diese Prozesse ganz lange Zeit brauchen. Das ist politisch gesehen genauso, daß man nicht groß von der Revolution blöken muß. Wo aber die Kollegen ihre Situation erkennen, und sich einige vielleicht sogar als Klasse begreifen, sind das schon bemerkenswerte Prozesse.

SB: Viele deiner neuen Produktionen werden von JumpUp herausgebracht. Was hat es mit diesem kleinen Projekt auf sich?

BK: Ich sehe eine ganz große Wesensverbundenheit mit diesen zwei Freunden, die den kleinen JumpUp-Betrieb machen, aus der Hüfte heraus, ohne Geld damit zu verdienen, aber mit dem Wunsch, für die Publizierung der Liedhistorie, der internationalen Lieder, aber auch der aktuellen, ein Forum zu schaffen, unterwegs zu sein und dafür zu werben. Sie haben sich nach der Geschichte mit dem Alstom-Chor gemeldet, weil sie sich immer umhören, was es Neues gibt. Ich hatte 1989 noch vor dem Fall der Mauer drei Konzerte gemacht, weil mir damals klar war, daß es nie wieder so sein würde. Daher rief ich noch einmal die Leute zusammen, um aufzunehmen, wie man zusammen singt und das Gefühl teilt, das man 20 Jahre lang gehabt hatte. Es hat funktioniert, wir haben drei Konzerte in Ludwigshafen in einer Galerie in der Hartmanstraße gegeben, und ein Kollege, der beim hessischen Rundfunk beschäftigt war, hat davon eine Kassette gemacht.

Davon hatten die beiden gehört und angefragt, ob man nicht eine CD machen könnte, weil dies so wichtige Lieder seien. Ich bin dann nach Bremen gefahren und habe mir gedacht, ja, das sind die Leute, mit denen man etwas anschieben kann. Da stehen keine kommerziellen Interessen dahinter, sondern das reine Interesse an dieser Art Kultur. Und das ist bis heute so geblieben. Sie fahren auf Festivals, bauen dort ihren Stand auf und schlafen nachts darunter. Das ist auf die Art und Weise, wie sie es machen, und wen sie alles fördern, schon jetzt eine Legende.

SB: Bernd, vielen Dank für dieses ausführliche Gespräch.


Zum Linken Liedersommer 2015 siehe im Schattenblick:

BERICHT/026: Burg Waldeck - Wurzeln im Wind ... (1) (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0026.html

BERICHT/027: Burg Waldeck - Wurzeln im Wind ... (2) (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0027.html

BERICHT/028: Burg Waldeck - Tief verwurzelt, hoch im Blatt ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/murb0028.html

INTERVIEW/043: Burg Waldeck - Salamitaktik ... Amazon-Streikende im Gespräch(SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0043.html

INTERVIEW/044: Burg Waldeck - Erinnert euch, langt zu ...    Diether Dehm im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0044.html

INTERVIEW/045: Burg Waldeck - Kritisch, politisch und Avantgarde ...    Daniel Osorio im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0045.html

6. August 2015


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