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BERICHT/030: In Szene und erzählt - das uralte Spiel ... (SB)


Bewegende Uraufführung und spannender Politkrimi in Magdeburg:
Viel Beifall für Die Andere von Sidney Corbett und Christoph Hein

Uraufführung am 18. März 2016

von Christiane Baumann, 19. März 2016


Es war ein ganz besonderer Abend im Magdeburger Schauspielhaus: Sidney Corbetts Kammeroper Die Andere, ein Kompositionsauftrag des Theaters nach dem Libretto von Christoph Hein, erlebte am Freitagabend (18. März) ihre Uraufführung und wurde vom Publikum verdient mit viel Beifall bedacht. So hört sich Musik des 21. Jahrhunderts an: dissonant und dennoch tonal. Dem US-Amerikaner Sidney Corbett, dessen Werke international aufgeführt werden, war anzusehen, wie emotional bewegt und aufgewühlt er war, als er nach knapp eineinhalbstündiger Aufführung mit dem Ensemble auf der Bühne stand. Auch Christoph Hein, der sich die Weltpremiere nicht entgehen ließ, zeigte sich von der Inszenierung, die in einer Zusammenarbeit von mehr als drei Jahren zwischen beiden Künstlern und dem Theater Magdeburg entstand, beeindruckt und betonte, sie habe seine Erwartungen noch übertroffen. Nach der Oper Noach, die 2001 in Bremen uraufgeführt wurde, ist es die zweite gemeinsame Arbeit von Corbett und Hein.


Bühnenbild mit Schriftrolle, Abraham, Nachor und dem Ältestenrat - Foto: © 2016 by Nilz Böhme

Szenenfoto "Die Andere" - Uraufführung am 18.03.2016 im Theater Magdeburg
v.l.n.r. Kim Schrader (Ältester), Roland Fenes (Abraham), Paul Sketris (Ältester), Manfred Wulfert (Nachor), Kai Preußker (Ältester)
Foto: © 2016 by Nilz Böhme

Man kann es als Ehe- und Polit-Thriller bezeichnen, was das Publikum auf der Bühne erlebt. Den Stoff liefert das Alte Testament. Das Bühnenbild wird von einer riesigen Schriftrolle dominiert und rückt so den biblischen Mythos aus dem Buch Genesis Kapitel 16 unübersehbar in den Mittelpunkt. Abraham und Sara, die Erzeltern, sind beide fast hundert Jahre alt und haben noch immer keinen Erben. Die Kinderlosigkeit bedroht Abrahams Macht. Das Volk ist besorgt und rebelliert. Es fürchtet, im Falle von Abrahams Tod den machtgierigen Nachbarn ausgeliefert zu sein und unterjocht zu werden. Es fordert von Abraham nachdrücklich den Erben. Als dieser seiner Frau Sara mit Scheidung droht, schlägt sie ihm vor, mit ihrer Magd Hagar, der Ägypterin, ein Kind zu zeugen. Hagar wird von beiden vergewaltigt. Als sie schwanger ist, droht Saras Ehe dennoch zu zerbrechen. Der Konflikt löst sich erst, als schließlich auch Sara schwanger wird. Der Ältestenrat, der vorsorglich für den Fall von Abrahams Tod dessen Bruder Nachor zum Nachfolger gewählt hat, wird für diesen Aufruhr hart bestraft, so wie Sara ihre Magd Hagar wieder in das Sklavenjoch zwingt. Das Ende der Oper Die Andere ist ernüchternd: Sara dankt dem Herrn, dass er die "Ordnung" wiederhergestellt hat. Das Licht geht aus. Es ist tiefe Nacht, eine Nacht, die Ausbeutung, Unterdrückung und Sklaverei bedeutet. Der Aufstand ist vorbei. Die Zeugung des Erben sichert die Ehe Abrahams und Saras und zugleich die politische Macht. Hein bleibt eng an der Bibel, aber er löst diese unerhörte Geschichte aus ihrer religiösen Überhöhung, wodurch sie ihre Aktualität offenbart.


Sara umfaßt die auf dem Boden kniende Hagar - Foto: © 2016 by Nilz Böhme Abraham umarmt die sich sträubende Hagar - Foto: © 2016 by Nilz Böhme

Szenenfotos "Die Andere" - Uraufführung am 18.03.2016 im Theater Magdeburg
links: Undine Dreißig (Sara) und Julie Martin du Theil (Hagar)
rechts: Roland Fenes (Abraham) und Julie Martin du Theil (Hagar)
Fotos: © 2016 by Nilz Böhme

Die Schriftrolle weist nicht nur auf den biblischen Urgrund der Geschichte, sie ist gleichermaßen der Raum, in und mit dem auf der Bühne gespielt wird. Sie teilt die Welt in die politisch Mächtigen und die Befehlsempfänger. Abraham, glänzend von Roland Fenes gespielt und gesungen, kann hier als mächtigster Mann von oben herab auf sein Volk schauen, zu dem auch das Publikum gehört, denn Regisseur Ulrich Schulz siedelt Nachor und den Ältestenrat vor der Schriftrolle sowie vor der Bühne und damit ganz unten im Zuschauerraum an. Dabei presst er die Geschichte nicht gewaltsam in unsere heutige Zeit, auch wenn die Kostüme vom Anzug bis zum Seidenkleid modern und gegenwärtig sind. Bühnenbild und Kostüme lassen vielmehr die zeitliche Zuordnung in der Schwebe, denn was hier verhandelt wird, ist zeitlos. Das Spiel um die Macht ist uralt und lässt im Handeln der Figuren archetypische Muster erkennen.

Schulz, der in Magdeburg schon verschiedene Bühnenbilder entwarft und sich 2014 mit Strawinskys Die Geschichte vom Soldaten als Regisseur präsentierte, nimmt den schnörkellosen Text Christoph Heins und setzt ihn in engem Bezug zu den musikalischen Spannungsbögen Corbetts in Szene, was dem Ganzen eine Schlichtheit verleiht, die geradezu bestechend ist. Da wirkt nichts aufgesetzt. Die offene Bühne bezieht das Publikum ein, macht Veränderungen in der Dekoration immer wieder sichtbar. Auch das Orchester sitzt auf der Bühne, hinter der Dekoration, und wird somit Teil der Inszenierung. In knappen Übertiteln werden die acht Szenen der Oper zusammengefasst. Projektionen geben dem Ungeheuerlichen auf der Bühne in Riesenlettern einen Namen: der ZEUGUNG durch Vergewaltigung, dem VERRAT und der Wiederherstellung der ORDNUNG. Der Ältestenrat tritt in Masken auf, wird gesichtslos und austauschbar. Jede Szene wird am Ende nahezu filmisch "ausgeblendet". Schulz nutzt Elemente des epischen Theaters ebenso wie moderne Filmtechniken und fügt alles zu einem organischen Ganzen zusammen.


In drohender Gebärde steigt Abraham von der Leiter, die drei Ältesten ducken sich weg und Nachor verfolgt das Geschehen aus dem Hintergrund - Foto: © 2016 by Nilz Böhme In herrischer Pose zieht Abraham Nachor zur Rechenschaft - Foto: © 2016 by Nilz Böhme

Szenenfotos "Die Andere" - Uraufführung am 18.03.2016 im Theater Magdeburg
links: Roland Fenes (Abraham), Kim Schrader (Ältester), Kai Preußker (Ältester), Paul Sketris (Ältester), Manfred Wulfert (Nachor)
rechts: Roland Fenes (Abraham) und Manfred Wulfert (Nachor)
Fotos: © 2016 by Nilz Böhme

Dabei gehen Corbetts Musik und Heins Text in der Oper Die Andere eine ungewöhnliche Symbiose ein. Die karge und poesiearme Sprache eröffnet dem Komponisten musikalische Räume, die er buchstäblich sucht und sinnlich gestaltet. Die Oper ist durchkomponiert und basiert auf vertrauten Harmonien. Doch ihre Tonalität beruht nicht auf der Kadenz und lässt sich somit nicht auf eine Grundtonart festlegen. Es sind vielmehr Klangteppiche, die sich aus der Auflösung von Akkorden in der Komposition entwickeln und die sich jeder Zuordnung entziehen. Damit entsteht musikalisch eine Mehrdeutigkeit, die sich zu der stringent erzählten Geschichte kontrastiv verhält. Der Zuschauer, der im Text "ankert", erlebt musikalisch eine Irritation, die sich aus einer Vielzahl überraschender Klangverbindungen und rhythmischen Verschiebungen speist. Jede Figur ist musikalisch charakterisiert, was bei Corbett bedeutet, dass ihr jeweils bestimmte Instrumente und Akkorde zugeordnet werden. Während bei Abraham die Bassflöte dominiert, finden sich in den Passagen Saras weiche und lyrisch anmutende Instrumente wie die Harfe. Hagar, die sich von einem jungen Mädchen zur Frau und Mutter entwickelt, geht mit dem Akkordeon und der Oboe eine musikalische Liaison ein. Dramatische Passagen, in denen sich die Konflikte verschärfen, bestimmen vor allem Schlagzeug und Blech. Die knappen Zwischenspiele kommen melodiöser daher, wecken mitunter Assoziationen zur Musik Paul Dessaus.


Hagar vor der Schriftrolle versucht in Deckung zu gehen und schaut ängstlich zur Seite - Foto: © 2016 by Nilz Böhme

Szenenfoto "Die Andere" - Uraufführung am 18.03.2016 im Theater Magdeburg
Julie Martin du Theil (Hagar)
Foto: © 2016 by Nilz Böhme

Corbetts Musik entfaltet eine ungeheure Intensität. Zugleich ist sie anspruchsvoll und verlangt den Sängern Höchstleistungen ab. Roland Fenes brilliert in seiner Rolle als Abraham. Bringt er einerseits dessen Überlegenheit spielerisch zum Ausdruck, so gelingen ihm seine Partien scheinbar mühelos. Sehr gelungen setzt Undine Dreißig als Sara ihre lyrisch anmutenden Passagen dagegen, um schließlich in der Vergewaltigungsszene auch mit schrillen Tönen zu überzeugen. Julie Martin du Theil ist eine anmutige Hagar, die anfangs in ihrer noch kindlichen Naivität befangen, am Ende jedoch gebrochen ist. Auch sie meistert ihre Rolle glänzend. Manfred Wulfert als Nachor steht dem in nichts nach. Dass sich moderne Musik mit Humor verbinden kann, hat die gelungene Trinkszene des Ältestenrates, eindrucksvoll von Paul Sketris, Kim Schrader und Kai Preußker gesungen, einmal mehr gezeigt. Die 19 Musiker des Kammerorchesters lieferten unter dem Gastdirigenten Michael Wendeberg eine bemerkenswerte Leistung ab. Wendeberg gelang es, die Akzente und Spannungsbögen aus der Musik sensibel herauszukitzeln.

Corbetts und Heins Die Andere ist eine politische Oper, die ihre Aktualität aus dem biblischen Mythos bezieht. Sie ist ein Politkrimi, der aktueller nicht sein könnte und ein Krimi, der mit Hagar die Geschichte einer heimatlosen jungen Frau erzählt, einer Fremden, die uns sehr bekannt und gegenwärtig erscheint. Die Andere ist ein Musikwerk, das aus dem Geist unseres Jahrhunderts, aus seinen Dissonanzen und Abgründen entstanden ist und mit seiner harmonischen Disharmonie das Publikum unversöhnlich mit dem jahrtausendealten Krieg um Macht konfrontiert.


Die Andere
Sidney Corbett
Kammeroper in acht Szenen | Libretto von Christoph Hein
Kompositionsauftrag des Theaters Magdeburg | URAUFFÜHRUNG

Musikalische Leitung Michael Wendeberg
Regie/Bühne Ulrich Schulz
Kostüme Falk Bauer
Dramaturgie Ulrike Schröder

Abraham Roland Fenes
Sara Ks. Undine Dreißig
Hagar Julie Martin du Theil
Nachor Manfred Wulfert
Rat der Ältesten Kim Schrader, Kai Preußker, Paul Sketris

Weitere Vorstellungen am 27. März, am 7. April, am 14. Mai 2016 jeweils um 19.30 Uhr im Schauspielhaus Magdeburg.


Zur Uraufführung Die Andere erschien im Schattenblick ein Interview mit dem Schriftsteller Christoph Hein:

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INTERVIEW/052: In Szene und erzählt - "Die Andere", eine Oper ...    Christoph Hein im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/musik/report/muri0052.html

19. März 2016


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