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REZENSION/012: Strom & Wasser - Reykjavik (SB)


Grenzüberschreitungen im Sprach- und Klangraum Europas


Nur 330.000 Menschen bilden die Bevölkerung Islands, der knapp unterhalb der Polargrenze im Nordatlantik weit näher an Grönland als an der kontinentalen Landmasse Europas gelegenen und von zahlreichen Vulkanen auch geologisch belebten Insel. Da die Fläche von 103.000 Quadratkilometern um einiges größer ist als etwa das von zehn Millionen Menschen bewohnte Ungarn und 60 Prozent der Einwohner in der Haupstadt Reykjavik wohnen, hat dort jeder, der es will, mehr als genug Platz, um seinen Dingen ungestört nachzugehen. Diese großzügige Umgebung scheint auch auf die Menschen abzufärben, denn Island ist wohl die vitalste und liberalste Demokratie Europas. Die Geschichte des isländischen Parlaments Altthing läßt sich bis auf das Jahr 930 zurückverfolgen, und die Bevölkerung nimmt bis heute in hohem Maße Einfluß auf die Politik der Staatsregierung.

Das zeigte sich insbesondere, als sie in zwei Referenden 2010 und 2011 die Entschädigung der Auslandsgläubiger verweigerte, die bei mehreren isländischen Banken Milliardensummen investiert hatten, um in den Genuß hoher Zinsraten zu gelangen, jedoch mit der Finanzkrise 2008 Schiffbruch erlitten. Island blieb auf diese Weise die neoliberale Roßkur erspart, die Millionen Menschen in der EU in bittere Armut gestürzt hat. Zudem ist das Land ein Fels der informationellen Selbstbestimmung und politischen Meinungsfreiheit im zusehends vereisenden Meer der digitalen Vernetzung, was sich auch in der höchst lebendigen Kulturszene Reykjaviks niederschlägt.

Kein schlechter Ort also, um ein musikalisches Projekt zu beginnen, das nicht nur unterhalten, sondern auch Anlaß zum Nachdenken über die widrigen Seiten des Lebens geben soll. Die Doppel-CD "Reykjavik" wurde von der Band Strom & Wasser mit diversen isländischen Musikerinnen und Musikern eingespielt und bildet den Auftakt zu einer Reihe von Kollaborationen mit Künstlerinnen und Künstlern in verschiedenen europäischen Ländern. Diese "musikalische Konversation der europäischen Kulturen", so der Ankündigungstext im Booklet des Albums, ist dazu gedacht, "zumindest poetisch und musikalisch zu schaffen, was die Politik so oft versprochen hat, aber allem Anschein nach nicht halten kann oder nicht halten will." Es geht um ein Europa, das sich gerade anschickt, längst überwunden geglaubte Grenzen wiederzuerrichten und eine Form sozialdarwinistischer Feindseligkeit als Normalität zu akzeptieren, die das Häßlichste an satten Menschen hervorbringt, das zugleich aggressiv geleugnete Wissen darum, daß diese Sattheit im Hunger der anderen wurzelt.

Da ist es vielleicht kein Zufall, daß Heinz Ratz, Gründer, Sänger, Songschreiber und Bassist der Band, Rußland, das Baskenland und Albanien als konkrete Zielorte des auf zehn Alben geplanten Projekts nennt. Wie im Falle Islands scheint er sich von den aus eurozentrischer Sicht eher peripheren Regionen des Kontinents mehr Zündkraft zu versprechen als von den ersten Adressen arrivierter Kulturproduktion in den Metropolengesellschaften Westeuropas. Das paßt gut in die Geschichte eines Liedermachers und Dichters, dessen Aktionen für Obdachlose und Flüchtlinge, für Umwelt- und Artenschutz sich unbequemen gesellschaftlichen Problemen mit einem Engagement widmeten, das deutlich über das gelegentliche Abhalten eines Benefizkonzertes oder eines karitativen Galaabends hinausgeht. Indem Ratz, der seine Wurzeln zur Straße, auf der er seine künstlerische Laufbahn begann, nie abschnitt, den Kontakt zu von Armut, Gewalt und Not betroffenen Menschen suchte und mit ihnen ganze Tourneen durchführte, erweiterte er auch den Horizont eigenen Begreifens und stellte neue Fragen.

Das Album "Reykjavik" setzt mit 19 Songs einen musikalischen Gegenpol zur anwachsenden gesellschaftlichen Verrohung von geradezu intimer Art. Über weite Strecken erzeugen die Stimmen des Sängers und seiner isländischen Konterparts Ragga Gröndal und Egill Olafsson eine Atmosphäre der Vertrautheit, die den Zuhörer durch die mit Witz und Ironie gewürzten Worte, mit denen Ratz seine in vier Monaten Aufenthalt auf der Insel gemachten Erfahrungen schildert, aber auch eine in nicht immer leichten Kämpfen gewachsene Ernsthaftigkeit mühelos einfängt. Eine Übersetzung der in Isländisch vorgetragenen Texte hätte das Booklet zwar bereichert, aber die Stimmen strahlen auch in ihrer sprachfremden, nur lautmalerisch zugänglichen Form so viel Empathie aus, daß sie fast wie ausdrucksstarke Soloinstrumente von ganz eigener Art wirken. Hier kommunizieren nicht nur Menschen, sondern Sprachen miteinander, und das unterstützt von einer Musik, die ihrerseits die Schönheit einer Natur zu imaginieren scheint, die mit jazzig anmutenden Bläsersoli und folkigen Gitarrensprenkseln vor allem die freie Form ungezügelten Lebens zelebriert.

Zugleich bleiben die Musiker von Strom & Wasser ihrem vorwärtstreibenden, mit Punk-, Ska- und Funkelementen in die Beine gehenden Rocksound treu. So entsteht auf ganz organische Weise ein Klanggewebe, dessen Tempo- und Taktwechsel jeder Schläfrigkeit vorbeugen, die bei manch moderner Popproduktion schon deshalb einsetzt, weil der musikalischen Austauschbarkeit nicht einmal eine inhaltliche Linie von unverwechselbarer Aussage und Intention hinzugefügt wurde. Auf "Reykjavik" hingegen wagt sich Heinz Ratz auf das unvertraute Terrain einer nordischen Welt, deren Mythos nicht leicht in Worte zu fassen ist, wenn man nicht auf den Stereotypien bekannter Kino- und Serienproduktionen ausrutschen will. Indem er ihre Sagen- und Götterwelt etwa in dem Stück "Loki" in den Verwerfungen der kapitalistischen Moderne ansiedelt, bricht er nicht mit ihrer Aktualität, die sie für die isländische Lebenswirklichkeit und Kultur zweifellos hat, evoziert aber auch keine Mystik, die allzu leicht in den falschen Hals gerät.

Es wäre schade, das in Hamburg und Reykjavik entstandene Album lediglich als eine weitere Varietät unter den inzwischen zahlreichen Hybriden des Genres der sogenannten Weltmusik zu kategorisieren. Hier entufern keine lokalen und regionalen Musikstile zum immer neuen Mix einer kulturindustriellen Produktivität, die originäre Kunstformen und traditionelle Kulturgüter lediglich als Steinbruch geschmacksoptimierter Verwertung begreift. Heinz Ratz scheint es eher darum zu gehen, diese Kulturen in einen europäischen Kontext zu setzen, der keiner Abgrenzung nach außen und innen bedarf, weil künstlerische Offenheit und menschliche Neugier ganz autonom darüber zu befinden wissen, wie gewachsene Kulturen, lebendige Sprachen und ganz unterschiedliche Menschen einen sozial gedeihlichen und die Substanz des Lebens nicht weiter zerstörenden Umgang miteinander entwickeln.

22. Februar 2016


Lineup

Ragga Gröndal: vocals
Heinz Ratz: vocals, bass
Egill Ólafsson: vocals
Sævar Garðarsson: trumpet
Hallvarður Ásgeirsson: guitar
Gudmundur Pétursson: guitar
Enno Dugnus: keyboards
Ingo Hassenstein: guitar
Jóhann Ásmundsson: bass
Haukur Gröndal: clarinet, saxophone, bass
Claudio Spieler: percussion, vocals
Burkard Ruppaner: drums

Strom & Wasser "Reykjavik"
Label/Vertrieb: Traumton Records
Best.-Nr.: 4618
Erschienen: 22. Januar 2016


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