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HINTERGRUND/155: Digitale Philharmoniker - Wenn die Musik im Netz zappelt (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2009

Digitale Philharmoniker
Wenn die Musik im Netz zappelt

Von Wolfgang Schreiber


Sogar die klassische Musik ist jetzt digital geworden. Die Berliner Philharmoniker beispielsweise sind nicht nur auf ihrer amtlichen Homepage im Internet anzutreffen, sie treten dort neuerdings auch auf denn sie musizieren im Internet - live und gegen Bezahlung des Eintritts, des Einloggens. Deutschlands prominenteste symphonische Truppe hat sich so etwas wie einen neuen Konzertsaal errichtet, oder wenigstens: man stieß die Türen von Scharouns Berliner Philharmonie weit auf weltweit. Und ist damit in einer anderen Realität gelandet. Über dem virtuellen Portal steht geschrieben: "Digital Concert Hall Berliner Philharmoniker".


Der Ehrgeiz der Berliner Musiker unter ihrem Chefdirigenten Sir Simon Rattle ist nicht nur, wie gewohnt, aufs rein Künstlerische gerichtet, sondern hochfliegend auf das Mediale - die Online-Vernetzung ist nur konsequent. Das machen sich zwar auch die meisten anderen großen Klangkörper dieser Welt zunutze, aber mit der Digital Concert Hall sind die Berliner ihren Konkurrenten aus Wien, Amsterdam, Chicago oder Dresden um die berühmte Nasenspitze voraus.

Dazu verbreitet man für Werbezwecke einen Hochglanzprospekt, auf dem mit einer Bildcollage die Aufhebung von Raum und Zeit suggeriert wird. Als Symbol für Geheimnis und Transzendenz ist dort die Berliner Philharmonie abgebildet, wie sie in einer heroischen oberbayerischen Gebirgslandschaft thront - am Ufer des Königsees, in dessen Wasser sich die goldglänzende Außenhaut der Philharmonie zu Berlin spiegelt. Leider ein Trugbild! Die Texte dazu sind von Zukunftsoptimismus getragen, es ist von hochauflösenden Kameras die Rede, vom neuen globalisierten Zeitalter der Konzertübertragung, vom Dabeisein eines Jeden: "Egal ob Sie in Kreuzberg oder Caracas leben: Verfolgen Sie von nun an die Saison der Berliner Philharmoniker unter www.berliner-philharmoniker.de. Überall und jederzeit." So spricht die Eigenwerbung. Aber noch mehr wird angeboten: Die Digital Concert Hall in Berlin übermittelt neben Live-Übertragungen von Konzerten auch Musikaufzeichnungen aus dem Archiv, sie bringt Dokumentationen aus dem Bereich hinter den Kulissen, sie liefert Berichte zu den Kinder- und Jugendaktivitäten, den so genannten Education-Projekten des Orchesters - abrufbar unter Zukunft@Bphil.

So angenehm, schnell und effizient sich die Informationsgesellschaft der Musik zeigt, Tatsache ist auch: Das Internet macht den Konzertsaal, hier die Berliner Philharmonie und ihr Live-Publikum, keineswegs überflüssig - Saal und Zuhörer sind die Sendebasis des gewünschten Authentischen, der Konzertsaal wird zum notwendigen Aufnahmestudio. Kein Zweifel aber: Das Internet wird mit der Zeit den Musikkonsum verändern, so wie es die Wahrnehmung von Daten, das Lesen von Texten, das Sehen von Bildern verändert hat. Und vielleicht wird es das Musikhören und -erleben selbst in Mitleidenschaft ziehen - entweder schmälern oder aber intensivieren, steigern. Nur, auf welche Weise und wie gravierend sich dieser Wandel, der ein Paradigmenwechsel ist, bemerkbar machen wird und schon bemerkbar macht, lässt sich nur schwer voraussagen. Wahrscheinlich geht die Veränderung der Wahrnehmung noch über das hinaus, was bereits die Schallplatte bewirkt hat, indem sie die Musik omnipräsent, wiederholbar, beliebig abrufbar werden ließ. Soviel scheint sicher: Das authentische, im realen Raum erlebte Klangereignis verflüchtigt sich immer stärker, es wird im Medium, bei aller scheinbaren Nähe der Musiker und der Musik auf dem Monitor, sogar irreal.

"Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" - der vor sieben Jahrzehnten veröffentlichte Essay des Philosophen Walter Benjamin brachte das Thema theoretisch zur Sprache. Ein Jahrhundert-Text. Es geht darin um den Verlust an Kunst, ihrer Echtheit und Authentizität im Hier und Jetzt einer Gegenwart, die durch die technische Aufbereitung und mediale Verbreitung der Kunstwerke abhanden kommt. Verloren gehe, so nennt es Benjamin, die "Aura" des Kunstwerks, somit der Charakter des Rituals. Benjamin spricht da übrigens nicht von der Musik, sondern von der bildenden Kunst, von Fotografie und Film, deren Reproduktionsdasein und Seriencharakter die Unverwechselbarkeit des Originals - eben seine Aura - überflüssig zu machen scheint.

Ist das Schnee von gestern im Denkprozess der Theoretiker? Bilde Künstler, rede nicht! mag mancher denken. Sollen die Dinge und die Künste im blinden Technologie- und Produktionsprozess doch ihren Gang nehmen: wertneutral und marktkonform! Es gibt allerdings Künstler, die sich gegen jeden Fatalismus stemmen. Da waren zwei Musiker des vergangenen Jahrhunderts, die für die beiden Extremmöglichkeiten musikalischer Darbietung - hier die Reproduktion von Musik, dort ihre einmalige Aufführung - beispielhaft, das heißt: existenziell, einstanden: der Pianist Glenn Gould und der Dirigent Sergiu Celibidache.

Gould änderte, als er knapp über dreißig war, sein Künstlerleben radikal, verabschiedete sich aus den Konzertsälen der Welt, in denen er gefeiert worden war, und musizierte nur noch im Studio, allein für sich und die Schallplattenproduzenten. Und schuf damit einen Kosmos musikalischer Gedanken und Einsichten, die die Musikwelt veränderten. Gould wurde zum Mythos. Celibidache verzichtete, nachdem er als junger Dirigent in den 40er und 50er Jahren in Berlin ein paar Aufnahmen gemacht hatte, auf jede weitere Platteneinspielung. Beide Musiker bekannten sich oftmals - und polemisch - zu ihrer Entscheidung: Gould, indem er den Auftritt im Konzertsaal als mühselig, oberflächlich, künstlerisch beliebig schmähte, einzig darauf bedacht, dem Publikum gefallsüchtig entgegenzukommen; Celibidache, indem er die Tonaufzeichnung als Fälschung und Betrug zu enttarnen suchte, als Verrat am musikalischen Kunstwerk, dem auf Schallplatte unweigerlich das real pulsierende Leben in Raum und Zeit absterbe. Vom bannenden Erlebnis des Zuhörens im realen Raum ganz zu schweigen. "Wollen Sie mit dem Foto von Brigitte Bardot tanzen gehen?" fragte er herausfordernd.

Aber der alte Guru der Münchner Philharmoniker machte eine vielsagende Ausnahme von der Medien-Abstinenz, er ließ die Filmaufzeichnung einiger seiner Konzerte zu. Im Bildmedium werde die Musik, meinte er listig, keineswegs als sie selbst wahrgenommen, also verfälscht, sondern als eine Art Spektakel. Somit war der Betrugsverdacht für ihn erledigt.

Tatsächlich bietet das Musikhören über das Medium der Bilder für die musikalische Wahrnehmung neue Chancen. Das Sehen zerstreut zwar latent das Hören, weil es - anders als beim Besuch im Konzertsaal - durch Kameraführung und dergleichen Manipulationen fremdbestimmt ist, doch zugleich korrigiert es die Illusion der CD, die Aufnahme von Beethovens "Fünfter" oder von Tschaikowskys "Pathétique" sei schon das Stück selbst. Durch den massenhaften Gebrauch von Film, Fernsehen, DVD und Internet entsteht ein neues Denken - ein Denken in Bildern, verbunden mit einschneidenden Veränderungen der Seh- und Hörgewohnheiten.

Das Bild auf der Filmleinwand oder dem Computermonitor holt virtuell das Konzertereignis aus der Ferne herbei und rückt es gleichzeitig in die Distanz. Es zeigt bei der gefilmten Opern- oder Konzertübertragung die handwerkliche Realität der Musik und des Musikmachens aus der Nähe. Es fängt die Musizierweise ein, die Konzentration und Spielfreude der Musiker, ihre sichtbaren Gestaltungskräfte, den Atemrhythmus, die Spannungskurven des Singens, die Körpersprache, Gestik und Mimik des Dirigenten. Fast schon die inneren Gestaltungskräfte der Musik im Spiegel der Musizierenden. So wird ein vielfaches Mehr an musikalischer Realität eingefangen als bisher gewohnt. Vielleicht wird sogar ein Teil oder ein Rest jener lebendigen Aura vermittelt, die das Musikhören im realen Konzertsaal zum Erlebnis steigert.

Zappelt die Musik durch ihren medialen Gebrauch - ihre neue Online-Existenz - also doch nicht so hilflos im Netz? Gewiss. Durch die Beispiele gelungener Architektur wird sie sozusagen in ihrer Aura raum-zeitlicher Gegenwart dreidimensional bestätigt: Konzert- und Opernsäle wuchsen überall aus der Erde, ob in Luzern oder Los Angeles, in Valencia oder Oslo. In Hamburg entsteht gerade die wuchtige Elbphilharmonie, Abu Dhabi plant großräumig Großes. Auch kleinere Städte wie Dortmund, Essen oder Bochum besitzen schon oder planen das unerhörte Raum-Architektur-Musik-Erlebnis, verbunden mit wirtschaftlichen Hoffnungen und Effekten. Und auch für sie ist - so unzeitgemäß es klingt - die Aura des Authentischen unverzichtbar.


Wolfgang Schreiber (* 1939) war langjähriger Musikkritiker der Süddeutschen Zeitung und publizierte zuletzt bei Piper das Buch Große Dirigenten, 2005.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2009, S. 65-67
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Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Januar 2010