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HINTERGRUND/152: Kurdische Frauen und die Musik (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 110, 4/09

Mit zurückgebliebenem Gedankengut brechen
Kurdische Frauen und die Musik

Von Sakina Songül Beyazgül


Kurdische Musikerinnen erobern heute einen Platz in der (Welt-)Öffentlichkeit zurück, der ihnen lange Zeit von verschiedenen Seiten vorenthalten wurde, wie die Autorin - selbst Kulturschaffende im Exil - im folgenden Beitrag beschreibt.


Die KurdInnen sind eines der ältesten Völker im Nahen Osten und wurden über die Jahrhunderte hinweg ZeugInnen von großem Schmerz und Leid. Viele Jahrhunderte sind sie ihrer Grundrechte und Freiheiten beraubt worden. Kurdistan liegt heute verteilt auf vier Länder, nämlich innerhalb der Grenzen von Iran, Irak, Syrien und Türkei. In diesem geografischen Raum kam es zu wechselhaften kulturellen Einflüssen und zu bunten ethnischen Identitäten. Zwar sind die KurdInnen als Objekte der schriftlichen Geschichte benachteiligt, aber bis heute spielt die mündliche Tradition des Geschichtenerzählens, "dengbej", eine große Rolle.


Lebendige Erzähltradition

Mit den unterschiedlichsten Erzählformen und Liedern hat "dengbej" sowohl die Schmerzen der Gesellschaft - Kriege und Konflikte zwischen den Völkern und Ethnien - als auch die Bräuche der Freude und Liebe von Generation zu Generation weitergegeben. Jeder kurdische Mensch kennt den Klang von "dengbej" in Form von Wiegenliedern, "ninnis", von seiner Mutter. Danach kommen die Märchen, die die Großmütter erzählen. Auf diese Weise spielen die Frauen eine große Rolle bei der Weitergabe der mündlichen Kultur.

Die Quelle der Erzählungen der Frauen ist das eigene Herz und die Welt ihrer Emotionen. Nachdem die Frauen Kinder geboren haben, sind sie sehr empfindlich und diese Empfindlichkeit erstreckt sich auf andere Dinge, dies ist eine Eigenart der Frauen. Deshalb haben Frauen eine stärkere Erfindungsgabe.


Vorreiterinnen

Der ursprüngliche Glauben der KurdInnen ist der Zoroastrismus, danach wurde ihnen durch das Schwert der Islam aufgezwungen. Körper und Stimme der Frauen wurde als teuflische Betörung gesehen und deshalb in die Privatsphäre der vier Wände verbannt. Seit damals können Lieder der Trauer, der Sehnsucht und des Widerstands, die die Kurdinnen entwickelt und rezitiert hatten, nur mehr von Männern in der Öffentlichkeit vorgetragen werden.

Frauen wie die berühmten "Dengbej"-Sängerinnen Meryem Xan und Ayse San(1), die im letzten Jahrhundert lebten, haben unter diesen traditionellen Bestimmungen mehr als genug gelitten. Aber trotz all dieser Unterdrückung durch die brutalen traditionellen Strukturen haben sie es geschafft, die Stimmen aller Frauen zu sein, die unterdrückt werden. Und deshalb sollten sie - durch die großen Anstrengungen, die sie in ihrer Zeit vollbracht haben - als Revolutionärinnen gesehen werden.

Frau und "Dengbej"-Vortragende gleichzeitig zu sein, ist eine schwere Herausforderung und in dieser Situation mussten Frauen wie Meryem Xan und Ayse San in Armut leben und sterben. Männer, die sie liebten, stellten sie vor die Wahl, sich zwischen Kunst oder Liebe zu entscheiden. Andrerseits wollten Pseudointelektuelle diese mutigen Frauen zum Vergnügen als Dekoration in ihren Männergremien ausnutzen. Von der Gesellschaft selbst wurden sie aber als so genannte "schlechte Frauen" ausgeschlossen und im Sinne der feudalen Ethik wurden sie als Ursache vieler Übel gesehen. Spät aber doch hat man heute erkannt, was diese Frauen für die Entwicklung der kurdischen Musik geleistet haben und viele Sängerinnen sind dem von ihnen bereiteten Weg gefolgt und haben die Werke der beiden Vorreiterinnen interpretiert und weitergetragen.


Ohne Sprache

Die komplexe Situation des kurdischen Volkes hat auch die kurdische Musik mitbestimmt. Durch das Verbot der Sprache macht man sich durch das Singen eines Liebesliedes oder eines Volksliedes allein schon schuldig. So wird die kurdische Musik zu etwas höchst Politischem und spielt im Widerstand gegen die nationale Assimilationspolitik eine große Rolle, um kurdische Kultur und Identität zu bewahren. So werden die musikalischen Aktivitäten der kurdischen Frauen nicht allein von patriarchalen Vorurteilen behindert. Nicht nur traditionelle patriarchale Vorurteile sind Hindernisse für die Musikaktivitäten der kurdischen Frauen, sondern auch die Assimilationspolitik der Nationalstaaten. Durch ein kommerzialisiertes und inhaltsleeres Kulturbombardement von Seiten dieser mächtigen Staatensysteme werden die KurdInnen heutzutage entmachtet und ihrer Wurzeln entfremdet.

Die vier kurdischen Dialekte Kurmanci, Kirmancki, Sorani und Gorani werden (außer im irakischen Kurdistan) in den Schulen als Unterrichtsprachen immer noch verboten. Das bringt eine ethnische und kulturelle Bedrohung mit sich.


Wissenschaft und Kunst

Die Staaten, in denen die Kurdinnen leben, geben vor, eine Lösung der KurdInnenproblematik anzustreben, aber tatsächlich werden an den Universitäten keine Institute für kurdische Sprache eingerichtet und der muttersprachliche Kurdisch-Unterricht an Schulen wird - außer in Irakisch-Kurdistan - gesetzlich nicht verankert. Wollen die Frauen nun die kurdische Musik zurückerobern, so müssen sie diesen Kampf mit einem zurückgebliebenen Volk und gegen ein assimilierendes Staatensystem führen. Musik ist die wirkungsvollste Kunstrichtung, denn sie spricht zuerst die Ohren und dann gleich den Geist und das Gedächtnis an. Massen können über Musik wirkungsvoller beeinflusst werden denn über lange politische Reden. Die Kunst muss ihren eigenen Regeln folgen, aber das geschaffene Werk muss unbedingt einen Sinn und eine Botschaft ergeben. Heute ist es möglich, Künstlerinnen zu nennen, die kurdische Musik gemacht und entwickelt haben. In den letzten 30 Jahren - durch die Auswirkungen der kurdischen Befreiungsbewegung besonders seit den 1990er Jahren - haben sich Künstlerinnen im Rahmen von Kulturvereinigungen und auch etliche unabhängige Kulturschaffende hervorgetan, obwohl die Kurdinnen sowohl für das Zuhören als auch für das Singen von Liedern in kurdischer Sprache einen hohen Preis bezahlt haben, denn beides musste versteckt passieren.


Die Rückeroberung der Stimme

Frauen hatten tausend und eine Schwierigkeit zu überwinden, um den ihnen entrissenen "dengbej diwan", das öffentliche Erzählforum, zurückzugewinnen, nämlich die Möglichkeit, in der Öffentlichkeit ihre Werke selber zu interpretieren. Besondere Hochachtung gilt in diesem Zusammenhang der jungen kurdischen Musikerin und Sängerin Aynur Dogan(2), die traditionelle, ethnische und universelle Musikformen zu einer Synthese verarbeitet. Dann ist die Harfenmeisterin Tara Caf zu nennen, die ihre Lieder im Hewrami-Dialekt singt; und schließlich Beser Sahin, die mit ihrer kräftigen Stimme seit Jahren über das kurdische Kulturzentrum "Mesopotamien" Lieder der kurdischen Freiheitsbewegung darbietet. Sie hat trotz mehrmaliger Festnahmen, trotz Verhandlungen und Folter, mit ihren Aktivitäten weitergemacht und nicht aufgegeben.

An verschiedenen Orten - in Westasien und in Europa - unterstützen Künstlerinnen die Kampagne "Unsere Ehre ist unsere Freiheit", die die Internationale Kurdische Frauenbewegung am 25. November 2007 gestartet hat.

Jahrelang sind Frauen im Widerstand in der Politik, in der Gesellschaft und als Kulturschaffende tätig und richten sich gegen strikte Geschlechterrollen. Die Teilhabe der Frauen an der Kultur spielt eine tragende Rolle gegen die traditionelle, starre Gesellschaft.

Ein weiteres Hindernis in der Verbreitung der künstlerischen Arbeit und Weiterentwicklung der künstlerischen Ziele von Frauen ist, dass die Produktionsfirmen von Männern geführt werden und kommerziell ausgerichtet sind. Aus diesem Grund ist es eine revolutionäre Haltung, wenn Frauen mit ihren Stimmen das Publikum erreichen und damit bestehendes Unrecht und künstlerische Grenzen abschaffen und mit zurückgebliebenem Gedankengut brechen.


Anmerkungen:
(1) Meryem Xan (1904-1949, Türkei) und Ayse San (1938-1996, Türkei)
(2) Aynur Dogan ist Jahrgang 1975 und lebt in Istanbul.


Zur Autorin:
Songül Beyazgül ist kurdische Journalistin und Menschenrechtsaktivistin aus der Türkei. Als Sängerin ist sie unter dem Künstlerinnennamen Sakina bekannt. Sie lebt als Asylwerberin in Wien.

Übersetzung aus dem Türkischen: Kiymet Ceviz und Ibrahim Altun


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 110, 4/2009, S. 16-17
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
Senseng 3, 1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-406
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org

Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
Einzelpreis: 5,- Euro;
Jahresabo: Österreich und Deutschland 20,- Euro;
andere Länder 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Januar 2010