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HINTERGRUND/140: Popularmusik - das kirchenmusikalische Kellerkind (Junge.Kirche)


Junge.Kirche 1/2009
Unterwegs für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung
Focus dieses Heftes: Kirchenmusik

Popularmusik - das kirchenmusikalische Kellerkind

Von Wolfgang Teichmann


Bands, Gospelchöre, Gitarrengruppen - es gibt sie in der Kirche. Neue Lieder mit Akkordsymbolen - sie gibt es auch. Popularmusik in der Kirche? Klar, sie gibt es. Aber wie weit ist sie wirklich in die "verfasste" Kirchenmusik eingebunden, wie steht es um das Neue Lied?

Seit 50 Jahren gibt es das so genannte NGL, das Neue Geistliche Lied. Es handelt sich dabei um Lieder, die popularmusikalische Elemente aufweisen, allerdings nur so weit, dass sie als Gemeindelieder singbar sind. Das ist das erste Problem der NGLs. Sie sind also von vornherein auf Kompromiss angelegt, nach dem Muster: die Melodie bitte schön sanglich, der Rhythmus nicht zu kompliziert, die Form möglichst einfach. Diese Struktur kann man gut durch das ganze Ev. Gesangbuch beobachten. Die besonders charakteristischen Elemente populärer Musik, beispielsweise Blue Notes[1] in der Melodie, Off-Beat[2]-Verschiebungen, kurze, durch Pausen versetzte Melodiephrasen, finden sich äußerst selten.

Das Lied EG 360 b "Die ganze Welt hast du uns überlassen" ist da eine einsame rühmliche Ausnahme: ein reinrassiger Mollblues mit Blue Notes, rhythmischen Verschiebungen in der Melodie, voller Bluesfeeling. Dieses Lied hat sich nicht durchgesetzt. Es ist stilistisch eindeutig popularmusikalisch, aber wenig tauglich für die üblichen Gottesdienste, wie wir sie zu Genüge kennen:

Es lässt sich nicht gut mit einer vereinzelt in tiefen Kirchenbänken eingezwängt sitzenden Gemeinde und einer aus weiter Ferne von hinten erklingenden Orgel so darstellen, dass dabei Groove, also körperliches Miterleben, und Freude am Mitsingen in rhythmischer Spannung entsteht.

Das ist das zweite Problem des Neuen Geistlichen Liedes und damit auch das zentrale Dilemma populärer Musik in der Kirche:

Diese Musikform braucht die unmittelbare, direkte Kommunikation. Das Singen in Gemeinschaft, das Singen mit Emotion, das Singen mit Einbeziehung des Körpers, ausgelöst durch die Kraft des Rhythmus, motiviert angeleitet durch eine versierte Person von vorne.

Und genau das finden wir wenig. Stattdessen einen Raum mit reichlich Hall, streng nach vorne ausgerichteten Kirchenbänken und einer "unpersönlichen" Begleitung von hinten: all das passt nicht zum Singen unter populärmusikalischen Konditionen.

Von daher haben sich in den Jahren des NGL auch am ehesten die Lieder durchgesetzt, die choralartig singbar sind. EG 170 "Komm, Herr, segne uns" ist ein Beispiel dafür. Die popgeprägten NGLs funktionieren tatsächlich nur gut, wenn sie von vorne mit Keyboard oder Gitarre, am besten noch mit Band und Ansinge-Chor angeleitet und begleitet werden.

Aber wer kann das, wer macht das? Kirchenmusikstudentinnen und -studenten lernen dies noch immer nicht. Sie werden zu hochqualifizierten Organisten und klassischen Chorleitern ausgebildet. Der Popularmusik werden in den gerade verabschiedeten neuen Studiengangordnungen gerade mal zwei Semesterwochenstunden zugestanden. Mit diesem Zeitkontingent kann solides popularmusikalisches Handwerkszeug nicht vermittelt werden. Und damit wird das kirchenmusikalische Fachpersonal weiterhin nicht auf die gemeindlichen Anforderungen und Bedürfnisse popmusikalisch sozialisierter Menschen ausgebildet, sondern einseitig auf die Bedienung der so genannten kirchenmusikalischen "Hochkultur" getrimmt.


Hochkultur gegen Popkultur?

Leider wird in der Diskussion über Popularmusik der Begriff der Hochkultur mit manchmal leicht arrogantem Unterton als Abgrenzung gegen die Popkultur als so genannte Massenkultur verwendet. Diese Schubladen-Unterscheidung polarisiert mehr als sie hilft. Denn wir wissen doch inzwischen, dass es in allen Musikstilen, also auch in populär geprägten Stilen, sowohl hochkulturelle als auch massenkulturelle Ausprägungen gibt. Im Jazz, aber auch im Hip-Hop, gibt es beispielsweise absolut avantgardistische Musikformen. Genauso tummeln sich in der Klassik inzwischen absolut massentaugliche und entsprechend schreierisch beworbene und perfekt vermarktete Musikproduktionen, Konzerte und Events. Von daher passt das vermeintliche Gütesiegel "Hochkultur" nicht mehr zur pauschalen Abgrenzung der traditionellen Kirchenmusik von der kirchlichen Popmusik, die ja dann eine "Tiefkultur" wäre. In gleichem Zusammenhang muss auch der Begriff der "Qualität" neu definiert werden. Auch er wird von der klassischen Fraktion der Kirchenmusik sehr häufig und vor allem pauschal zur Abwehr von populärer Musik im kirchlichen Kontext genutzt.

Absolute Qualitätsmerkmale gibt es nicht. Sie müssen immer auch stilspezifisch definiert und verfeinert werden. So ist im Blues (als einer der Wurzeln populärer Musik) die Verwendung von lediglich drei Akkorden nicht unbedingt als qualitätsmindernd anzusehen. Gerade die Schlichtheit der Blues-Harmonik ermöglicht eine große Differenzierung in anderen Feldern, zum Beispiel in der Intonation oder rhythmischen Gestaltung. Um diese Phänomene qualitativ erfassen bzw. messen zu können, reicht aber das analytische Beobachtungswerkzeug der klassischen Musik nicht aus. Es müsste zur differenzierten und damit fairen Betrachtung angepasst bzw. erweitert werden. Das Argument der minderen Qualität würde aber auf diese Weise nicht mehr als bequeme Waffe gegen populäre Musikformen genutzt werden können.


Die kirchenmusikalischen Gremien

Wo findet sich in den kirchenmusikalischen Gremien die Lobby für Popularmusik in der Kirche, die die Verankerung dieser Musikform vorantreibt? In der inhaltlichen Diskussion treten die Kirchenmusikerverbände in den Landeskirchen und auf EKD-Ebene eher in den Hintergrund. Schaut man auf ihre Publikationen und Kongresse, sind die Fragen historischer Fingersätze und Vergütungsordnungen offensichtlich wichtiger als die Integration und Qualifizierung populär geprägter Kirchenmusik. Ebenso haben es die Kirchenchorverbände auch noch nicht geschafft, die überwiegend organisationsfreie Gospelszene in ihre Verbandsarbeit zu integrieren. Die Posaunenwerke sind da meiner Einschätzung nach am weitesten. Immerhin finden sich in ihren Notenausgaben schon längst und ganz selbstverständlich swing- und popgeprägte Stücke.

Ansonsten gibt es in den Landeskirchen gelegentlich Beauftragte für Popularmusik, die aber finanziell eher knapp ausgestattet sind. Einige Verbände haben sich inzwischen gebildet, z. B. der Verband für Popularmusik in Bayern oder die "Initiative Jazz-Rock-Pop in der Kirche" in Norddeutschland. Aber einen Dachverband auf EKD-Ebene für Popularmusik gibt es bis heute noch nicht. Das bedeutet, dass der Popularmusik eine zentrale Interessenvertretung in der Kirche fehlt.


Geduldet, aber nicht gefördert

Trotz der Existenz der Popmusik in der Kirche: Sie ist eine Nebenschiene, vielfach geduldet, manchmal auch gelobt, aber nicht entsprechend ihrer Bedeutung ausgestattet, denn sie darf möglichst nichts kosten, muss von selbst funktionieren, wird auch nur punktuell handwerklich qualifiziert ausgebildet. Sie ist damit immer etwas subkulturell behaftet. Sicher, das macht vielleicht auch einen gewissen Charme dieser Musik aus: der Geruch von Keller und Garage darf ihr durchaus auch etwas anhaften. Etwas zugespitzt ausgedrückt: Dilettantismus im besten Sinne steht hier manchmal sogar wohltuend gegen eine gewisse akademische Steifheit. Aber dennoch bleibt die dringende Forderung bestehen: Popularmusik muss im großen kirchenmusikalischen Spektrum deutlich besser, nämlich gleichberechtigter, behandelt werden! Warum wird bei Orgeln höchster Anspruch an Qualität gelegt, aber bei den Bands nur das billigste Instrumentarium zugestanden? Warum wird klassisch am qualifiziertesten ausgebildet und in den popmusikalischen Bereichen das Handwerk gar nicht oder nur unzureichend vermittelt? Warum gibt es keine festen Etats in den Landeskirchen für popmusikalische "Leuchtturm-Projekte" wie Gospelkirchen, Popularkirchen etc.? Und zwar weder personell noch in Hinsicht auf die dafür notwendigen technischen und akustischen Ausstattungen?

Warum müssen sich Interessenverbände in den Kirchen, wie zum Beispiel Initiativen für Popularmusik, zu hundert Prozent aus Mitgliedsbeiträgen finanzieren? Warum werden sie nicht genauso finanziell unterstützt wie die anderen kirchenmusikalischen Verbände? Warum müssen regionale Gospeltreffen jedesmal erneut bangen, ob sie ihre Finanzierung hinbekommen? Mein Fazit: Es klafft eben doch noch eine große Lücke zwischen der "verfassten" Kirchenmusik und den popmusikalisch geprägten Bereichen.

Die große Gefahr dabei: es etablieren sich Parallelwelten, die nichts oder kaum etwas miteinander zu tun haben. Klassisch ausgebildete und entsprechend ausgerichtete Kirchenmusiker/innen können sich auf diesem gefährlichen Weg der Polarisierung und Abgrenzung selbst ins Abseits katapultieren, wenn ihre Musik nur noch zunehmend überalterte kirchliche Minderheiten anspricht. Entsprechende Sorgen werden auf Kirchenmusikertagungen inzwischen bereits offen und deutlich artikuliert: Chöre schrumpfen, klassische Konzerte leiden unter Besuchermangel, weniger junge Menschen interessieren sich für die Orgelausbildung, entsprechend rückläufig sind die Studierendenzahlen an den Hochschulen.

Der Beruf des Kirchenmusikers hat meiner Einschätzung nach zukünftig nur Bestand und Berechtigung, wenn die stilistische Einengung auf Tradition und Klassik aufgegeben wird, wenn die "Torblenden" (die Begrenzungsklappen an Scheinwerfern) weit aufgemacht werden: damit das Licht auf alle Stilistiken kirchenmusikalischer Praxis fällt. Und zwar in Hinsicht auf Ausbildung, technische Ausstattung und gerechte Verteilung der zur Verfügung stehenden Gelder.

Meine Hoffnung liegt in der Vision einer integrierenden Kirchenmusik, die es schafft, sowohl für die Vermittlung und Pflege der reichen Tradition zu sorgen als auch die permanente Erneuerung und stilistische Aktualisierung von Liedern im Sinne von "Singet dem Herrn ein neues Lied" zu betreiben. Daran muss jetzt dringend gearbeitet werden. Wie hoch der aktuelle Diskussions- und Handlungsbedarf ist, zeigen zwei prominente und zugleich höchst polare kirchenmusikalische Ereignisse des letzten Jahres:

In der so genannten "Stuttgarter Erklärung zur Kirchenmusik", die im Rahmen eines Kongresses zur Kirchenmusik 2008 veröffentlicht wurde[3], war der Bereich Popularmusik völlig ausgeblendet und wurde lediglich mit einer abwertenden Bemerkung über kommerziellen Marktgeschmack indirekt attackiert. Zur gleichen Zeit hat die Ev. luth. Landeskirche Hannovers durch hohe finanzielle und personelle Unterstützung maßgeblich zum Gelingen des internationalen Gospelkirchentags 2008 in Hannover beigetragen.


Wolfgang Teichmann, Kirchenmusikdirektor im Zentrum für Gottesdienst und Kirchenmusik, Michaeliskloster Hildesheim


Anmerkungen:
[1] Blue Notes: (1) kleine /große Terz, (2) kleine/große Septime, (3) verminderte Quinte; besonders gefühlsaufgeladene Töne, frei zwischen Dur und Moll intoniert.
[2] Gefühlsmäßige Akzentverschiebung von Melodietönen gegen den Grundrhythmus.
[3] Zu finden unter:
http://www.kirchenmusik.bistumlimburg.de/index.php?_1=144572&_7=m_ 143880&_0=14&sid=e70c7c255c8cedeeaaea263d0d09effc


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Inhaltsverzeichnis - Junge.Kirche 1/2009

Focus: Kirchenmusik
- Kein Selbstzweck / Okko Herlyn
- Die Liederwerkstätten für Kirchentage / Gudrun Mawick
- Ermutigung zum Psalm in vielerlei Gestalt / Gudrun Mawick
- Oldies but Goldies? / Christian Reiser
- Popularmusik - das kirchenmusikalische Kellerkind / Wolfgang Teichmann
- Die Mauern Jerichos / Klara Butting

Zwischenruf
- EKD global / Markus Braun
- Ja, wo singen sie denn? / Harald Schroeter-Wittke
- Gott verdankt Bach sehr viel / Hans-Jürgen Benedict
- Kirchenmusik zwischen Bach und Gamelan / Verena Grüter
- Verborgene Geschichte(n) / Yvonne Fischer
- Das Lied Gottes singen / Terry MacArthur
- Von der Macht des Gesangs / Martin Heider
- Musik in der Seelsorge / Geertje-Froken Bolle

Forum
- Kirche für andere. Für Heino Falcke zum 80. Geburtstag /
   Konrad Raiser, Reinhard Höppner, Laurens Hogebrink
- Glaube und Kunst. Psalmen als Glasmalerei
- Der Weg der Kirchen zur Überwindung der Apartheid / Ruth Gütter
- Der Hierarchie die Elite - der Gemeinde die Armen / Klaus Hoffmann
- Die US-amerikanisch-mexikanische Grenze / Wolf-Dieter Just
- Die Chance der Krise / Silja Graupe
- Kulturelle Invasion / Bernd Kappes
- Und vergib uns unsere Schuld / Interview mit Jan Janssen
- Es gibt fast keine Diakonissen mehr / Rajah Scheepers

Sozialgeschichtliche Bibelauslegung
- Beharrlich in der Leidenschaft für Gottes Reich / Klara Butting

Predigt
- Afrika, tritt heraus im Glauben / Nyansako-ni-Nku

Geh hin und lerne!
- Weinen und Singen / Gernot Jonas und Paul Petzel

Buchseiten, Veranstaltungen
Impressum und Vorschau


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Quelle:
Junge Kirche, 70. Jahrgang, Nr. 1/2009, Seite 13-15
Herausgeber: Erev-Rav, Verein für biblische und politische Bildung
Redaktion: Junge Kirche, Luisenstraße 54, 29525 Uelzen
Tel. & Fax 05 81/77 666
E-Mail: verlag@jungekirche.de
Internet: www.jungekirche.de

Die Junge Kirche erscheint viermal im Jahr.
Der Jahrespreis beträgt 26 Euro inkl. Versandkosten.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Juli 2009