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HINTERGRUND/130: Musik, die bewegt (mundo - Universität Dortmund)


mundo - Das Magazin der Universität Dortmund Nr. 09/08

Musik, die bewegt
Eva-Maria Houben hat ein bewegendes Buch mit und über Istvàn Zelenka «komponiert».

Von Katrin Pinetzki


Musik, die bewegt - die kennt jeder. Bei dem einen ist es die Lieblingssinfonie von Beethoven, die er gerne bei voller Lautstärke hört, bei der anderen dieser eine Popsong, der so intensiv an die erste Liebe erinnert. Auch der Komponist Istvàn Zelenka will mit seiner Musik bewegen - allerdings ganz anders als die meisten seiner Kollegen es je im Sinn hatten. Der 72-Jährige stellt mit seinem Werk die herkömmliche Kompositions- und Aufführungspraxis auf den Kopf. Prof. Eva-Maria Houben, Musikwissenschaftlerin am Institut für Musik und Musikwissenschaft, hat ein Buch über und mit ihm geschrieben - wenn der Leser seinen Inhalt ernst nimmt, ein durchaus bewegendes Buch.

Wer in ein Konzert geht, hat zumindest unbewusst einige Erwartungen: Man möchte zum Beispiel Platz nehmen, sich zurücklehnen und der Interpretation dessen lauschen, was die Musiker von ihren Notenblättern ablesen. Selbstverständlichkeiten eigentlich - so war es hunderte Jahre lang, und so ist es noch heute. Der Musiker und Komponist Zelenka, ein gebürtiger Ungar, der heute als Österreicher in der Schweiz lebt, bricht mit diesen scheinbar unverrückbaren Tatsachen. Seine Werke erfordern vom Zuhörer Mobilität: geistige Beweglichkeit, aber durchaus auch räumliche.

Eva-Maria Houben ist Spezialistin für zeitgenössische Musik, und nicht nur das: Sie komponiert auch selbst. Trotzdem schaffte es ihr Kollege Istvàn Zelenka, sie zu verblüffen, als sie sich im «Wandelweiser Komponistenensemble» kennen lernten. "Istvàn deutete an, dass man seine Werke auch ohne Zuhörer oder Zuschauer aufführen kann, zum Beispiel indem man mit einem Buch eine künstlerische Aktion ausführt, ohne dass jemand zuschaut. Skurril, dachte ich, welchen Sinn soll das haben?" Die Musikwissenschaftlerin beschloss, sich näher mit diesem Mann zu beschäftigen - und lud ihn an die TU Dortmund ein, wo Eva-Maria Houben ihren Studierenden seit inzwischen 15 Jahren in ihrer Reihe «Komponisten-Porträt» zeitgenössische Künstler vorstellt. Das Seminar mit Zelenka, bei dem der Künstler auch mit den jungen Leuten an deren Kompositionen arbeitete, wurde ein voller Erfolg. "Er ging auf die Studierenden ein, nahm sich selbst ganz zurück. Es geht ihm immer um Wahrnehmung, darum, sich für die Umwelt und für andere zu sensibilisieren - ein Aspekt der Mobilität, der oft übersehen wird", erinnert sich Eva-Maria Houben. Ihre Studierenden empfanden den Gast-Dozenten durch seine offene, neugierige Art als einen der ihren.

Das Ungewöhnliche, fast Revolutionäre an Zelenka ist die Radikalität, mit der der Komponist Grenzen einreißt. Bei ihm gibt es keine Hierarchie zwischen Künstlern und Zuhörern, zwischen Komponisten und Musikern, ja nicht einmal zwischen ästhetischem Klang und Umweltklang - was bedeutet, dass die Geräuschkulisse einer viel befahrenen Straße ebenso wichtig sein kann wie ein musikalisches Motiv oder Thema. Die ganze Welt ist schließlich mit Klang erfüllt - wieso sollte man da Klänge oder Geräusche ausgrenzen? "Ein jeder Gegenstand kann zum Instrument, jede Situation kann eine musikalische Situation werden", lautet einer der Leitsätze Zelenkas, ein anderer: "L'acte de composition commence par l'écouter" - Komponieren beginnt mit dem Hören.

Und wie sieht so eine Komposition nun praktisch aus? "Ich konnte es mir auch erst nicht vorstellen", sagt Eva-Maria Houben - bis sie sich mit Zelenkas «philophonischen Netzwerken» beschäftigte, von denen der Komponist eine ganze Reihe schuf. Philophonisch, das bedeutet: den Klang liebend. Für eine Aufführung dieser von ihm erschaffenen Kunstform wird die Partitur speziell für eine bestimmte Stadt «eingerichtet». "An einer sehr belebten Straßenkreuzung", steht dann etwa in der Partitur, "in einem halligen Raum" oder "bei sich zu Hause". Gespielt wird auf klassischen Instrumenten, meist solchen, die man gut transportieren kann. Es gibt allerdings auch Ausführende, die kein Instrument spielen, sondern etwa über Kopfhörer einen Rhythmus vorgegeben bekommen und in diesem Rhythmus durch die Stadt gehen sollen. "Die Musiker werden mobil", so Eva-Maria Houben, "da kommen natürlich die merkwürdigsten Äußerungen von Passanten: Was ist denn mit dem los? Wie geht die denn? Auch diese Reaktionen gehören dann zum Stück."

Während der Besucher eines klassischen Konzerts meist zumindest bis zur Pause ausharren muss, hat der Passant, der zufällig einer Performance beiwohnt, weit größere Freiheit: Er kann sich einlassen oder nicht. Dabei spielt es keine Rolle, ob er weiß, dass er gerade einer Musikaufführung beiwohnt. Das Publikum muss sich aktiv dafür entscheiden, zum Publikum zu werden, es muss sich mobilisieren. Wenn niemand hinsieht und hinhört, gibt es eben kein Publikum. Der Komponist selbst beschreibt das so: "So wie Blumenkübel in den Straßen aus den öffentlichen Plätzen keine botanischen Gärten machen, so verwandeln auch diese Performances die Straßen und Plätze nicht in Konzertsäle; dennoch bereichern und färben sie auf friedliche, zwanglose Weise das klangliche Stadtbild." Im Ergebnis ist das noch radikaler als John Cages berühmt gewordenes Stück «4:33» in dem genau diese Zeitspanne lang gar nichts gespielt wird - das aber immerhin in einem Konzertsaal, mit einem Klavier und vor definiertem Publikum.

Doch der Weg, den Zelenka mit seinen Kompositionen eingeschlagen hat, weist ihn nicht nur als radikal aus, sondern vielleicht mehr noch als radikal idealistisch. Als jemanden, der darauf hofft, wie durch eine Schule des Hörens die Menschen aufmerksamer, flexibler, eben geistig mobiler zu machen. Wie kam er dazu?

Zelenka, der klassische Komposition studierte und zunächst «normal» komponierte, erlebte in seinem Alltag "ein unglaubliches Vollgestopftsein mit Aktivitäten, aber doch keine Bewegung - darauf reagiert er mit seinen Stücken", versucht seine Dortmunder Kollegin eine Erklärung.

Die Bewegung, die dank seiner Aufführungen zustande kommt, erschöpfe sich nicht darin, dass Musiker und Publikum sich fortbewegen. Bewegtheit entstehe schon durch den Ausbruch aus der Konvention, etwa durch die Bereitschaft, ein Stück über mehrere Tage oder gar Wochen zu dehnen. "An Stelle der «Produktion von» tritt die «Beschäftigung mit» - und zwar sowohl für den Zuhörer als auch für den Ausführenden", sagt Eva-Maria Houben. Wichtig ist nicht das fertige Werk, sondern der Weg dahin. Gleichzeitig sind seine Kompositionen für Zelenka auch eine Kritik am herkömmlichen Konzertleben, das häufig genug vom Dualismus lebt: hier der Virtuose mit seinem Wissens- und Könnensvorsprung, dort die dankbaren Rezipienten.

Zelenka will diese Gegenüberstellung aufheben: Aus den Zuhörern sollen auch Gebende werden, aus den Spielern auch Nehmende. Beide, Ausführende und Zuhörer, sollen einander wahrnehmen. "Das hat auch einen politischen Anspruch", findet Eva-Maria Houben, "man bekommt mit so einer Aufführung weder ein Rezept noch eine Botschaft, sondern Angebote und Möglichkeiten."

«1 Milieu» heißt das Buch, das Istvàn Zelenka und Eva-Maria Houben «vierhändig» geschrieben haben. Untertitel: Ein Buch nicht nur zum Lesen. "Wir schrieben es im Austausch, wir haben es quasi komponiert", vergleicht Houben. Schon auf den ersten Blick wird der Leser merken, dass «1 Milieu» kein gewöhnliches musikwissenschaftliches Buch ist. Das steckt bereits im Titel. Wie in einem Biotop kommen in «1 Milieu» unterschiedliche Beiträge zusammen: Bilder, wissenschaftliche Aufsätze, Partituren, kurze Anmerkungen und Kompositionen, verbunden mit der Aufforderung an die Leser, sie aufzuführen.

Das Buch hat leere Seiten für Stille, es hat Seiten, auf denen nur ein Wort steht - etwa «lib(e)ro», was für «Buch» und für «frei» steht. In einem Kapitel wird der Leser aufgefordert, sich von der beigefügten CD Partituren auszudrucken, um selbst Aufführungen zuwege zu bringen - etwa mit einem ausdruckbaren Flugblatt.

Das liest sich dann so: "Z.B. eines Tages am Vormittag, auf einer Brücke oder am Fluss- oder Seeufer, ein Flugblatt zum Flugzeug zusammenfalten und es in Richtung des Wassers stoßen; sich dann - dem papiernen Flugzeug mit den Augen folgend - für 3-5 Minuten unbewegt verhalten; später einen unbekannten Passanten anhalten und ihr/ihm etwas im Augenblick wichtig Erscheinendes sagen ... - was passiert dann?"

In anderen Kompositionen wie etwa in Zelenkas «Dortmunder Studie», die er bereits mit Studierenden während des Komponisten-Porträts in Dortmund aufführte, sollen die Ausführenden innerhalb von zehn Minuten verschiedene, selbst zu wählende Aktionen und Aktivitäten ausführen, etwa "eine Körperhaltung einnehmen", "ein Wort schreiben", "eine Flasche Wein austrinken" oder "eine beachtliche Folge von Turnübungen ausführen". Das erinnert an Joseph Beuys: Jeder Mensch ist ein Künstler. Kleine Performances wie diese fordern dazu auf, über die traditionelle Musik- und Aufführungspraxis nachzudenken. Natürlich sprengt Zelenka damit auch die Grenzen der Kunstsparten.

"Genau das finde ich so faszinierend", sagt Eva-Maria Houben. Es gehe darum, sich etwas zu trauen, Bewegung ins Leben und in den Trott zu bringen. "Ein wichtiger Leitsatz Zelenkas lautet, dass es auf der ganzen Welt keine uninteressanten Dinge gibt, solange es einen Künstler gibt, der seine Augen weit aufmacht und sie nach Jonathan Swift 'mit dem verdutzten Blick eines Einfältigen' betrachtet. Das ist Zelenkas Ästhetik. Das kann jeder. Und wenn mich dabei jemand sieht und denkt: Was macht die Houben denn da - dann ist das doch auch egal", sagt sie und lacht. Die Beschäftigung mit diesem radikalen Vertreter zeitgenössischer Musik habe sie verändert, ebenso ihre Lehre, sagt Eva-Maria Houben. "Auch mein nächstes Kompositionsprojekt wird sicher ganz anders werden. An diesem Beispiel gibt es sie tatsächlich einmal, die fruchtbare Einheit von Forschung und Lehre."


Zur Person

«Mahler - Lied und Sinfonie» - auch solche Seminare bietet Prof. Dr. Eva-Maria Houben ihren Studierenden an. Der Schwerpunkt ihrer Forschung und Lehre liegt allerdings woanders: Auf der Musiktheorie und der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, zu der sie auch zahlreiche Veröffentlichungen vorweisen kann. Mit ihrem neuen Buch «1 Milieu», entstanden in Zusammenarbeit mit Istvàn Zelenka, schließt sie eine Lücke: Bislang gibt es keine größere Veröffentlichung über den Komponisten. Eva-Maria Houben (geb. 1955) studierte an der Folkwang-Hochschule für Musik in Essen Schulmusik, danach Orgel bei Gisbert Schneider. Nach dem 2. Staatsexamen für Musik und Deutsch unterrichtete sie an Gymnasien. Im Anschluss an ihre Promotion und Habilitation in Musikwissenschaft nahm sie Lehraufträge an der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg und an der Robert-Schumann-Hochschule Düsseldorf wahr. 1993 wurde sie an das Institut für Musik und Musikwissenschaft an die TU Dortmund berufen. Das eigene Musizieren und Komponieren hat sie nie aufgegeben. Als Organistin konzertiert Houben seit über 30 Jahren. Sie ist verbunden mit der Wandelweiser-Komponistengruppe. Ihre Werkliste umfasst Kompositionen für Soloinstrumente, für Stimme (und Klavier), für Duos, Trios, kleinere und größere Kammerensembles, für Orchester (auch Orchester und Stimme) und Chor.


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Quelle:
mundo - das Magazin der Universität Dortmund, Nr. 09/08, Seite 12-17
Herausgeber: Referat für Öffentlichkeitsarbeit
Universität Dortmund, 44221 Dortmund
Redaktion: Angelika Willers (Chefredakteurin)
E-Mail: redaktion.mundo@uni-dortmund.de

mundo erscheint zwei Mal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Dezember 2008