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PROTEST/008: Musikszene - Opposition zum Äußersten gezwungen ... (Initiative Freiheit)


Appell alle JournalistInnen, KünstlerInnen, PolitikerInnen - An die Regierungsverantwortlichen der Republik Türkei


Sehr geehrte Damen und Herren,

wir richten hier nochmals einen dringenden Appell an die Menschlichkeit, um das Leben des türkischen Musikers Ibrahim Gökcek zu retten.
KünstlerInnen, Abgeordnete, JournalistInnen, MenschenrechtlerInnen, Interessierte!

Hört seine Stimme!
Ibrahim Gökcek will leben!
322 TAGE HUNGERSTREIK !

Wir veröffentlichen einen aus dem Türkischen übersetzten Brief von Ibrahim Gökcek...
- zunächst noch unser Aufruf:

Die Verantwortlichen in der Türkei brauchen nur zusagen, dass Grup Yorum ein Konzert veranstalten kann, um den Hungerstreik zu beenden und die Proteste zu stoppen!
Tausende Menschen, KünstlerInnen, Intellektuelle, Abgeordnete aus der Türkei und international unterstützen die Forderung von Grup Yorum und Ibrahim Gökcek. Es werden täglich mehr Stimmen, die Ibrahim's Leben schützen wollen.

Der Aufruf geht nicht an Ibrahim, den Widerstand zu beenden, er richtet sich an die tauben Ohren der türkischen Regierung!

Bassist Ibrahim Gökcek ist dem Tod nah und die AKP-Regierung wird aufgerufen, endlich einzulenken und nicht ein weiteres Oppositionsmitglied auf dem Gewissen zu haben.

HELIN BÖLEK - MUSTAFA KOCAK - .......?! STOP!

Es ist ein Grundrecht, künstlerischen Aktivitäten nachzugehen, als eine international bekannte und populäre Band, die seit Jahrzehnten Lieder der Opposition macht, bei Konzerten öffentlich aufzutreten!
Worauf wartet die türkische Regierung? Warum will sie Ibrahim sterben lassen?

Justizminister der Türkei:
@abdulhamitgul @adalet_bakanlik
E-Mail: info@adalet.gov.tr

Innenminister der Türkei:
@suleymansoylu @TC_icisleri
E-Mail: basin@icisleri.gov.tr

*

Ibrahim's Brief:

In einem Zimmer in den Slums von Istanbul schau ich nach draußen. Wenn ich rausgehen würde, würde ich den Bosporus sehen. Leider liege ich im Bett. Mein Gewicht liegt nunmehr bei 40 Kg. Meine Beine haben nicht mehr die Kraft, meinen Körper zu tragen. Vorerst kann ich mir den Bosporus nur vorstellen.

Ich stehe auf der Bühne. Meine Gitarre mit meinem Lieblingsgürtel - der Gürtel mit den Sternen - hängt an meinem Nacken. Vor mir sind Hunderttausende von Menschen, haben ihre Fäuste in der Höhe und singen "Bella Ciao". Meine Hand, die auf die Seiten schlägt, ist wie die geschickteste Hand. Meine Beine sind gesund. Ich könnte einmal um Istanbul herumrennen.

Diese beiden Sachen, die ich Euch erzählt habe, sind die echt? Der Grund ist, dass ich in der Türkei lebe und hier Musik in einer politischen Band mache. Deswegen ist meine Geschichte ein Teil der großen Geschichte meines Landes. Es sind jetzt 310 Tage, seit ich aufhörte zu essen. "Ich erkläre es mal so: Ich versuche mich mit meinem Hunger auszudrücken" oder aber "Sie nahmen mir meine Bassgitarre weg, jetzt habe ich aus meinem Körper ein Instrument gemacht".

Ich bin Ibrahim Gökcek. Ich spiele seit 15 Jahren Bassgitarre bei Grup Yorum. Die Geschichte von Grup Yorum, die von vier Studenten vor 35 Jahren gegründet wurde, ist genauso holprig wie die Geschichte der Türkei. Diese Geschichte hat uns an einen Punkt gebracht, an dem wir uns, um Konzerte geben zu können, zu Tode hungern müssen.

Ein Mitglied unserer Band, meine liebe Genossin Helin Bölek ist am 3. April am 288 Tag ihres Todesfastens gefallen. Ihre Fahne trage jetzt ich.

Sie werden sich jetzt fragen, wofür Mitglieder einer Musikgruppe sterben. Warum entscheidet man sich für eine beängstigende Methode wie das Todesfasten.

Helins 28-jähriges Leben erzählt uns alles, ebenso wie die Tatsache, dass mein Körper von Tag zu Tag schmilzt. Wir sind in eine Zeit hineingeboren, in der man nach 1980 für Rechte und Freiheiten kämpfen musste. Wir haben 23 Alben herausgebracht, in denen wir die Bevölkerung den sozialistischen Ideen näherbrachten. Nunmehr wurden über zwei Millionen Alben von uns verkauft. Wir haben die Lieder der Unterdrückten aus Anatolien und aus der ganzen Welt gesungen. Wir haben genau dasselbe erlebt wie diejenigen, die von einer Freien und Demokratischen Welt träumen. Wir sangen die Lieder der Oppositionellen und derer, die für ihre Rechte kämpfen. Wir wurden in Gewahrsam genommen, verhaftet, unsere Konzerte wurden verboten, die Polizei hat Razzien auf unser Kulturzentrum ausgeübt, unsere Instrumente wurden zerstört. Zum ersten Mal wurde gegen uns unter der AKP-regierten Türkei Kopfgeld ausgesetzt und wir wurden auf "Listen gesuchter Terroristen" gestellt.

Aufgrund dessen verweigere ich das Essen, was euch nach meinen Einschätzungen seltsam erscheint. Denn obwohl man auf mich ein Kopfgeld angesetzt hat, fühle ich mich nicht wie ein Terrorist.

Der Grund warum wir auf diese Terrorliste gestellt wurden ist, dass wir in unseren Liedern über die Bergarbeiter singen, die sieben Etagen unter der Erde arbeiten müssen und wegen ihrer Arbeitsbedingungen sterben mussten/getötet wurden, weil wir über Revolutionäre singen, die unter Folter getötet werden, wir singen über die Bauern denen man die Ländereien zerstört, über Intellektuelle, die verbrannt werden, wir singen über die Menschen deren Häuser in den 'Gecekondus' (Barrackenvierteln) zerstört werden, wir singen über das kurdische Volk, das unterdrückt wird, wir erzählen in unseren Liedern über jene, die Widerstand leisten - und dies zu tun, wird in der Türkei als Terrorismus eingestuft.

Dadurch, dass der Sozialismus in den letzten 30 Jahren in Verruf gebracht wurde, konnte sich keiner vorstellen, dass jemand diese Art von Kunst ausübt. Sie haben sich aber geirrt. Wir haben in der Geschichte der Türkei als MusikerInnen dass größte Konzert veranstaltet, bei dem auch Tickets verkauft wurden. Wir haben an diesem Tag mit 55.000 Stimmen Revolutionslieder gesungen. Auch ich habe auf der Bühne mit meiner Bassgitarre diesen 55.000-stimmigen Chor begleitet. Bei unserem letzten "Es lebe die unabhängige Türkei"-Konzert waren knapp eine Million Menschen dabei. 4 Jahre hintereinander haben wir die Bühne mit verschiedenen Oppositionellen und KünstlerInnen geteilt. Einmal ist sogar Joan Baez mit uns aufgetreten. Sie hielt dem Publikum unsere Gitarre entgegen, die von der Polizei zerschmettert wurde.

Bei jeder Regierung war es so, dass Grup Yorum Repressionen ausgesetzt wurde. Aber als 2016 die AKP-Regierung den Notstand ausrief und die Repressionen gegenüber JournalistInnen, Oppositionellen, AkademikerInnen immer größer wurden, ist uns klar geworden (oder wussten wir), dass uns eine grauenhafte Zeit erwartet.

Als wir eines Morgens aufwachten, sahen wir sechs unserer Mitglieder auf der Terrorliste. In dieser Liste war auch ich; der Gitarrist, der vor 5 Jahren ein Konzert vor einer Million Menschen gab, war plötzlich ein gesuchter Terrorist, auf den man Kopfgeld ausgesetzt hat. Je tiefer die Krise der AKP-Regierung wurde, desto stärker wurden die Angriffe, die breite Kreise der Bevölkerung trafen. Nachdem die Liste veröffentlicht wurde, griff man in zwei Jahren neunmal unser Kulturzentrum an. Hintereinander wurden unsere Mitglieder verhaftet. Es kam sogar der Moment, wo keine Grup Yorum Mitglieder mehr draußen waren. Ab jetzt mussten wir nicht nur die Verbote durchbrechen, wir mussten sogar Leute finden, die bei den Konzerten etc. spielten. Sodann haben wir mit unseren SchülerInnen aus den 'Volkschören' Internetkonzerte veranstaltet. Auf der anderen Seite haben wir Presseerklärungen und Unterschriftensammlungen gegen die Repressionen gemacht. Leider nahmen die Repressionen kein Ende. Im Februar 2019 wurde auch ich während einer Razzia festgenommen. Im Mai 2019 haben wir mit einem Hungerstreik begonnen. Unsere Forderungen waren,

  • Aufhebung der Konzertverbote
  • Beendigung der Razzien auf unser Kulturzentrum
  • Freilassung aller unserer Mitglieder und Einstellung aller gegen sie laufenden Verfahren,
  • sowie die Löschung unserer Namen aus der Terrorliste.

Später haben Helin und ich unseren Hungerstreik ins Todesfasten umgewandelt. Das hieß, dass wir solange nicht aufhören werden zu hungern, bis man unsere Forderungen akzeptierte, selbst wenn wir dabei sterben würden.

Während unsere Verfahren noch andauerten wurden Helin und ich freigelassen. Doch die Regierung ignoriert unsere Stimme, obwohl die Menschen auf unserer Seite stehen und trotz der Anstrengungen verschiedener Oppositioneller, Abgeordneter und KünstlerInnen. Sie sollen uns ein Konzert versprechen und ich höre sofort auf mit dem Todesfasten. Dieses Versprechen gaben sie ihr nicht. Ihre Beerdigung nach ihrem letzten Willen durchzuführen, haben sie auch verhindert.

Jetzt liegt Helin in Istanbul in einem Friedhof unter der Erde. Über ihr hängt ein Brautkleid. Das Zimmer neben mir ist jetzt leer und ich denke in dem Bett, in dem ich seit einer bestimmten Zeit bin, darüber nach und weiß nicht, wo meine Reise hingeht, und ob dieser Krieg, der in meinem Körper stattfindet, mit dem Tod zu Ende geht oder ob das Leben gewinnen wird. Das stärkste, was ich über diesen Krieg weiß und sagen kann ist, dass ich mich an das Leben festklammern werde und meinen Weg zum Tode weiterführen werde, bis man unsere Forderungen akzeptiert.

Ibrahim Gökcek

*

Quelle:
Initiative Freiheit


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Mai 2020

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