Schattenblick →INFOPOOL →MEDIZIN → SOZIALES

SUCHT/598: Co-Abhängigkeit - Mitgefangen in der Sucht (Securvital)


Securvital 5/2011 - September/Oktober
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen

Co-Abhängigkeit
Mitgefangen in der Sucht

Von Petra Peschel


Wenn Alkohol zur Sucht wird, leiden die Angehörigen mit. Das betrifft einige Millionen Menschen in Deutschland. Die Belastung kann so groß werden, dass dadurch die Verantwortung für das eigene Leben verloren geht.


Zwei Jahre lang hat Marianne Koppold nicht wahr haben wollen, wie viel ihr Mann trinkt. »Ich habe mir die Situation schön geredet. Außerdem habe ich mich für ihn geschämt und versucht, nach außen die heile Familie zu leben«, sagt sie. Die 52-Jährige aus Süddeutschland hat jahrelang an der Seite ihres alkoholkranken Mannes gelebt. »Gottlob kam es nie zu Gewalttätigkeiten, aber die Stimmung war extrem angespannt. Er explodierte bei jeder Kleinigkeit. Das auszuhalten hat mich unbeschreiblich viel Kraft gekostet. Wenn ich wusste, gleich kommt er von der Arbeit, ging mein Pulsschlag hoch.« Ihn störte immer etwas: das Essen, die Kleidung seiner Frau oder umherliegende Sachen. »Also versuchte ich, ihm alles recht zu machen.«

Jeder Suchtkranke hat Menschen an seiner Seite, die so stark mitbetroffen sind, dass es bis zur Co-Abhängigkeit reicht. Suchtberater gehen dabei von einem überwiegend weiblichen Problem aus. Es sind vor allem Frauen, die ihren Männern oder Vätern zu helfen versuchen und sich in den Beziehungen aufreiben. 90 Prozent derer, die fachlichen Rat einholen, sind Frauen.


Scham und Angst

»Da sich unsere Gesellschaft in ihren Institutionen bisher einseitig um die Süchtigen kümmert, sind Angehörige ohne Lobby und leiden im Stillen«, sagt der Mediziner Dr. Helmut Kolitzus, Suchtexperte in München. Co-Abhängige denken ebenso zwanghaft rund um die Uhr an den Süchtigen, wie dieser selbst an seine Sucht. Sie sind süchtig danach, gebraucht zu werden, zu helfen oder zu gefallen. Schließlich entwickeln Co-Abhängige dieselben Symptome wie der Süchtige: Scham, Angst, Minderwertigkeitsgefühle, Überforderung oder Schlafstörungen.

Marianne Koppold spricht offen über ihre schmerzvollen Erfahrungen, die sie mit vielen anderen Menschen teilt. Schätzungen zufolge gibt es in jeder siebten deutschen Familie ein Suchtproblem. Acht Millionen Menschen gelten als »Co-Abhängige«, die als Familienangehörige oder Freunde von Süchtigen so sehr mit deren Problemen belastet sind, dass sie selbst schwer darunter leiden.

»Die etwa sieben Millionen Angehörigen von Suchtkranken sind ohne Lobby und leiden im Stillen.«
Facharzt Dr. Helmut Kolitzus

Eltern, Kinder, Ehe- und Lebenspartner von Alkoholikern, Drogenabhängigen oder anderen Suchtkranken: Co-Abhängigkeit kann jeden treffen. »Die meisten haben das Gefühl, mitschuldig zu sein und versagt zu haben«, sagt die Sozialarbeiterin Cornelia Reischmann-Walter von der Suchtberatungsstelle der Caritas in Ravensburg. »Dazu kommt die gesellschaftliche Stigmatisierung, selbst 'krank' zu sein, was häufig frühzeitig Hilfe verhindert.

Zwei Drittel aller Co-Abhängigen sind dafür erst offen, wenn der Süchtige therapiebereit ist. Ein Drittel bleibt ganz ohne Hilfe.«


Kein Einzelschicksal

Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. geht davon aus, dass es in Deutschland 1,7 Millionen erwachsene Alkoholabhängige gibt, die so weit sind, dass sie die Kontrolle über den Konsum verloren haben. Dazu kommen fast zehn Millionen, die in gesundheitlich riskanter Weise trinken. Außerdem über zwei Millionen, die von anderen Suchtstoffen wie Drogen oder Medikamenten abhängig ist.

Es ist schwer, Co-Abhängigkeit zu erkennen und die Grenze zwischen gesunder und krankmachender Hilfe zu ziehen. Offensichtlichstes Merkmal ist die völlige Ausrichtung eigenen Denkens, Handelns und Fühlens auf den anderen. Persönliche Gefühle werden negiert, die Beziehung zum Selbst geht verloren.

Die Co-Abhängigkeit verläuft oft in mehreren Stufen. In der ersten Phase geht es um beschützen und verstehen. Co-Abhängige glauben zu verstehen, warum der Partner süchtig ist. Sie sind überzeugt: »Das wird schon wieder« und nehmen ihm jede Verantwortung ab. Sie schützen Süchtige damit vor den Konsequenzen der Sucht.

In der zweiten Stufe kommt die Kontrolle. Wenn Co-Abhängige frustriert sind, weil der Suchtkranke sich trotz allen Verstehens nicht ändert, beginnt die Kontrollphase. Der Flüssigkeitspegel in der Flasche wird markiert, Alkohol weggeschüttet oder zur Rationierung der Alkoholeinkauf übernommen. Gleichzeitig steigen Hoffnungslosigkeit und Resignation. In der dritten Phase macht sich Sinnlosigkeit breit, weil sich der süchtige Mensch nicht kontrollieren lässt. Versteckspiele führen zu einem Kreislauf aus Streit und Versöhnung, Hass und Verzweiflung wechseln sich mit Liebe und Selbstvorwürfen ab.


Raus aus dem Teufelskreis

Bei Marianne Koppold blieb das Alkoholproblem ihres Mannes unausgesprochen, auch nach außen. Stattdessen log sie für ihn. In der Familienberatung, die sie wegen der Schulauffälligkeit ihres jüngsten Sohnes aufsuchte, sagte sie, dass zuhause alles in Ordnung sei. Es hat Jahre gedauert, bis sie einen Weg aus diesem Teufelskreis herausfand.

Als »Gebot des Schweigens« bezeichnen Fachleute das Phänomen, dass Co-Abhängige eisern ihr Leid verschweigen. Heilung ist häufig möglich, wenn die Betroffenen akzeptieren, dass Krisen zum menschlichen Dasein gehören: »Eines Tages dachte ich, ich möchte lieber tot sein«, erzählt Marianne Koppold. »Ich war körperlich und psychisch völlig fertig.« Sie ließ sich beraten, besuchte eine Selbsthilfegruppe und lernte, ihr Verhalten nicht länger von ihrem Mann steuern zu lassen.

»Die meisten haben das Gefühl, mitschuldig zu sein und versagt zu haben.«
Cornelia Reischmann-Walter, Suchtberatung der Caritas

Nach einer psychosomatischen Kur trennte sie sich von ihm. Heute kann sie offen über ihre Erfahrungen und Schwierigkeiten sprechen und damit auch anderen helfen.

Trennung muss nicht immer die Konsequenz sein. Doch ist eine wachsende Bereitschaft erforderlich, den Suchtkranken völlig loszulassen, um das eigene Selbst wieder wahrnehmen zu können. »Früher hat man zum Beispiel betroffenen Ehefrauen gesagt: Lassen Sie sich scheiden. Es ist sein Problem, wenn er kaputt geht«, sagt der Mediziner und Suchtexperte Dr. Thomas Fritschi aus Ravensburg.

»Heute sehen wir das differenzierter. Man kann nicht verlangen, dass sich ein liebender Partner nicht mehr um den anderen kümmern soll. Es geht vielmehr darum, dass sich Co-Abhängige darüber klar werden, dass sie mit ihrem Verhalten dem Abhängigen nichts Gutes tun und ihm erlauben, seiner Sucht weiter zu folgen. Ein Weg ist, dem Süchtigen zu sagen, dass man sich um ihn sorgt und deswegen möchte, dass er in eine Behandlung geht. Das immer wieder klar zu machen ist schwierig, kann aber funktionieren.«


Empfehlenswerte Bücher

Melmut Kolitzus:
Ich befreie mich von deiner Sucht.
München 2010,
16,95 EUR

Jens Flassbeck:
Co-Abhängigkeit: Diagnose, Ursachen und Therapie
für Angehörige von Suchtkranken,
Stuttgart 2011, 26,95 EUR

Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V.
Tel. 02381/9015-0, www.dhs.de

Deutscher Caritasverband e.V.
Tel. 0761/200-0, www.beratung-caritas.de


*


Quelle:
Securvital 5/2011 - September/Oktober, Seite 32 - 34
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen
Herausgeber: SECURVITA GmbH - Gesellschaft zur Entwicklung
alternativer Versicherungskonzepte
Redaktion: Norbert Schnorbach (V.i.S.d.P.)
Lübeckertordamm 1-3, 20099 Hamburg
Telefon: 040/38 60 800, Fax: 040/38 60 8090
E-Mail: presse@securvita.de
Internet: www.securvita.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. November 2011