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PFLEGE/417: Eine neue Kultur der Sterbebegleitung (Einblicke/Uni Oldenburg)


Einblicke - Forschungsmagazin der Universität Oldenburg
Nr. 50/Herbst 2009

"Haltung als Herzstück palliativer Begleitung"

Von Gerlinde Geiss-Mayer, Christina Ramsenthaler, Michael Otto


Die demographische Entwicklung führt in den kommenden Jahrzehnten zu einer rapiden Zunahme der Sterbefälle. Dabei geht die Zahl der Personen, die Schwerstkranke pflegen und Sterbende begleiten können, kontinuierlich zurück. Mit diesem Dilemma beschäftigt sich die Palliativ-Forschungsgruppe der Universität Oldenburg. Sie sucht nach Ansätzen einer menschenwürdigen Versorgung von Sterbenden und erforscht die Lebenswelt der Angehörigen sowie der professionellen SterbebegleiterInnen.


Am liebsten würde ich ja so sterben, dass ich gar nichts davon mitbekomme - im Schlaf oder ganz plötzlich ..." So oder ähnlich antworten die meisten Menschen auf die Frage, wie sie am liebsten sterben möchten. Die Themen Lebensende und Tod verdrängen viele aus ihrem Leben. Sie möchten sich damit nicht beschäftigen. Im Gegensatz dazu setzen sich die Medien in letzter Zeit intensiv damit auseinander: Sei es durch eine spektakuläre Berichterstattung wie beim Tod von Terry Shiavo, durch Diskussionen um aktive Sterbehilfe bzw. assistierten Suizid (Stichwort: Dignitas) oder Debatten über Patientenverfügungen.

Die Themen Sterben und Tod sind von eine hoher Brisanz in unserer Gesellschaft. Aufgrund der demografischen werden in den kommenden vier Jahrzehnten die Sterbefälle um 30 Prozent zunehmen. Die Sterbenden werden häufig zu Hause von Angehörigen gepflegt. Doch durch die prognostizierte Abnahme der Bevölkerung um ca. 16 Prozent in den nächsten Jahren gibt es immer weniger Personen, die die Versorgung schwerstkranker und sterbender Menschen übernehmen können. Früher wurde im Kreise der Familie gestorben. Sie galt als Ort und System der Sterbebegleitung. Heute werden die Aufgaben durch spezialisierte Institutionen und geschulte SterbebegleiterInnen übernommen.

Wie eine menschenwürdige Versorgung von Sterbenden unter Sicherung einer guten Lebensqualität und einer effektiven Leidenslinderung gestaltet werden kann, untersucht die palliativmedizinische Forschung. Palliativ steht dabei für eine ganzheitliche Behandlung von PatientInnen mit einer progredienten, d.h. weit fortgeschrittenen Erkrankung und einer begrenzten Lebenserwartung. Die Erkrankung spricht zu diesem Zeitpunkt nicht mehr auf eine kurative Behandlung an; die Beherrschung von Schmerzen und anderen Krankheitsbeschwerden sowie die Linderung der psychischen, sozialen und spirituellen Probleme der PatientInnen hat deshalb oberste Priorität.

In der Abteilung für Gesundheits- und Klinische Psychologie des Instituts für Psychologie der Universität Oldenburg beschäftigt sich die Arbeitsgruppe "Palliative Forschung", die von Dr. Gerlinde Geiss-Mayer geleitet wird, seit 2003 in mehreren Projekten mit der Lebenssituation sterbender Menschen und ihrer Angehörigen sowie mit den Arbeitsbedingungen professioneller SterbebegleiterInnen.


Lebensende und Sterbebegleitung

In der palliativmedizinischen Forschung stehen drei Personengruppen im Mittelpunkt: der schwerstkranke und sterbende Mensch an seinem Lebensende, seine Angehörigen sowie professionelle und ehrenamtliche SterbebegleiterInnen. Bei Schwerstkranken oder Sterbenden wird untersucht, wie belastende Symptome wie Schmerzen, Luftnot oder Übelkeit gelindert und die Bedürfnisse und Wünsche der Kranken am Lebensende erfüllt werden können. Bei den Untersuchungen über die Angehörigen der Schwerstkranken oder Sterbenden oder ihren professionellen und ehrenamtlichen Begleitern geht es häufig um belastende und entlastende Faktoren der Sterbebegeleitung sowie um die Frage nach geeigneten Hilfsmaßnahmen. Wichtig dabei ist eine systemische Betrachtungsweise, um das komplexe Geschehen der Interaktionen zwischen allen Beteiligten abzubilden. Nur so kann auf Konflikte im Beziehungsgefüge reagiert werden, und nur so können umfassende Hilfsmaßnahmen fruchten.


Schwerstkranke und sterbende Menschen

Exemplarisch für die Forschung im palliativmedizinischen Bereich ist das Projekt "Grundhaltungen in der Arbeit mit schwerstkranken und sterbenden Menschen", das seit 2005 von der Forschungsgruppe in Kooperation mit Dr. Steffen Simon vom Institut für Palliative Care Oldenburg (ipac) durchgeführt und vom niedersächsischen Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit gefördert wird. Die Studie entwickelte sich aus der Frage, welche Elemente bei der Begleitung von schwerstkranken und sterbenden Menschen tatsächlich wirksam sind.

Auf einer Palliativstation oder in einem Hospiz sofort die besondere Atmosphäre auf. Anders als im Akutkrankenhaus steht neben der medizinischen Behandlung vor allem die geistig-seelische Unterstützung des Patienten im Vordergrund. Um sie zu gewährleisten, ist neben medizinischen Fertigkeiten und Wissen eine weitere Komponente fachlicher Kompetenz nötig: die "Grundhaltung". Damit beschreibt die Oldenburger Forschergruppe den besonderen "palliativen Geist", also die Auffassungen und Werte, auf die sich Menschen in ihrer Arbeit mit Sterbenden stützen. Ziel des Projekts ist es, verschiedene Komponenten der inneren Haltung von SterbebegleiterInnen zu ermitteln und auf dieser Basis den Begriff der Grundhaltung mit Inhalten zu füllen.

Da dieser Begriff in verschiedensten psychologischen Kontexten z.B. in der Psychotherapie verwendet wird, ohne explizit geklärt worden zu sein, stand in der Pilotphase des Projekts eine offene Annäherung an das Konzept der Grundhaltung im Vordergrund. Zu diesem Zweck wurden zehn halbstandardisierte Experteninterviews durchgeführt. Daraufhin wurden aus der qualitativen Auswertung fünf offene Fragen abgeleitet. Auf dieser Grundlage wurden Fragebögen an Einrichtungen versandt, die auf Sterbebegleitung spezialisiert sind. 350 Professionelle (ÄrztInnen, Pflegende, SeelsorgerInnen, SozialarbeiterInnen, PsychologInnen sowie weitere Berufsgruppen wie z.B. MusiktherapeutInnen) in 63 Institutionen (Palliativstationen, stationären Hospizen und ambulanten Hospizdiensten) aus dem nordund mitteldeutschen Raum nahmen an der Studie teil.

Die Befragten nannten eine Vielzahl von Umschreibungen und Definitionsansätzen für das Konzept Grundhaltung. Sie wiesen meist eine Gemeinsamkeit auf: Die Grundhaltung bestimmt die Art und Weise des Umgangs untereinander und wird als eine tiefe, innere Überzeugung beschrieben, als eine Werthaltung und Auffassung, die das Denken und Handeln einer Person bestimmt. Das Konzept kann mit den Synonymen Menschenbild oder Weltsicht umschrieben werden. Daraus lässt sich schließen, dass die Grundhaltung in der Sterbebegleitung nicht nur aus einer professionellen Kompetenz oder einem Rollenbild besteht, sondern dass sich auch die SterbebegleiterInnen selbst als Personen in die Begleitung einbringen. Die innere Arbeitseinstellung hat demnach viel mit dem eigenen Selbstverständnis, der eigenen Identität und dem inneren Halt zu tun. Professionelle SterbebegleiterInnen setzen sich selbst permanent mit der eigenen Endlichkeit auseinander - als Resultat ständiger Konfrontation mit dem Sterben und Tod.

Es sind gerade Werte - neben dem Einbringen der eigenen Person -, die in der Begleitung des Sterbenden und in der Beziehungsgestaltung wirksam sind. Das Hauptaugenmerk liegt auf dem respektvollen und ehrlichen Umgang miteinander. Sterbende und ihre Angehörigen sollen empathisch auf ihrem Weg unterstützt werden. Die aktive Unterstützung des Patienten muss mit einem Zurücknehmen der eigenen Person und dem Aushalten auch schwieriger Situationen ausbalanciert werden.

Das Wesen der Begleitung besteht in dem "Ganz-anwesend-Sein", in dem authentischen Präsent-Sein. Die Sterbebegleiterin und Autorin Daniela Tausch-Flammer bringt dies so zum Ausdruck: "Sicher, wir können durch unser Tun helfen, aber auf der tiefsten Ebene helfen wir durch die Qualität dessen, was wir sind. Darum ist es so wichtig, dass wir uns selbst entwickeln, uns selbst kennen lernen." Dies führt dazu, dass Befragte einerseits einen hohen Anspruch bzw. ein Idealbild einer guten Sterbebegleitung entwickeln. Andererseits haben sie auch ihr eigenes Wohlbefinden im Blick, es geht ihnen um das Wahrnehmen und Achten der eigenen Grenzen.


Eine neue Kultur der Sterbebegleitung

Palliative Forschung trägt dazu bei, die Versorgung von Schwerstkranken und Sterbenden und ihren Angehörigen zu verbessern und damit Leiden zu lindern und individuelle Lebensqualität zu ermöglichen. Dabei ist es wichtig, das Besondere zu sehen, was diese Menschen und ihre Angehörigen brauchen. Es ist aber ebenso wichtig, die Anforderungen zu sehen, die sich in diesem Arbeitsfeld den professionellen SterbebegleiterInnen stellen. Neben erlernbarem Wissen und Fertigkeiten sind die Haltung und das Einbringen der eigenen Person in die Arbeit von essenzieller Bedeutung, wie unsere Forschung gezeigt hat. Gleichzeitig wird durch die hohe Selbstbeteiligung der SterbebegleiterInnen deutlich, dass eine Förderung personaler Ressourcen und die Unterstützung durch Supervision der besonderen Beanspruchung in diesem Arbeitsfeld entgegenwirken können.

Die Begleitung Sterbender hat deren Würde zu respektieren. Sie gewinnt an Bedeutung, je mehr Perspektiven sich durch medizinische und technische Fortschritte ergeben. Aktuell entstehen zahlreiche Hospizinitiativen und Hospizvereine, Hausbetreuungsdienste, stationäre Hospize sowie Palliativstationen an Krankenhäusern. Dies sind ermutigende Signale, die die Entfaltung einer Kultur der achtungsvollen Begleitung Sterbender erkennen lassen.


Die AutorInnen

Dr. Gerlinde Geiss, Psychologin in der Abteilung Gesundheits- & Klinische Psychologie der Universität Oldenburg, studierte Psychologie an der Universität Regensburg und der Wesleyen University (USA). Geiss war in einem Hospiz und bei einer AIDS-Orangisation in Seattle (USA) tätig und machte Weiterbildungen u.a. zur Hospizhelferin und zur Gesprächstherapeutin. Sie promovierte in Oldenburg über "Soziale Ressourcen in der Begegnung mit Sterben und Tod".

Michael Otto, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, absolvierte nach einem Studium der Kultur- und Theaterwissenschaften an der Universität Leipzig eine Fachschulausbildung zum Ergotherapeuten und studierte in Oldenburg Psychologie. Seit 2004 ist er Dozent an der Berufsfachschule für Ergotherapie in Oldenburg. Er ist in einer Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie in einem Therapiezentrum für autistische Menschen tätig.

Christina Ramsenthaler, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, studierte Psychologie in Oldenburg und Bremen. Sie absolvierte eine Ausbildung in der ehrenamtlichen Hospizarbeit. Seit 2005 arbeitet Ramsenthaler in dem Projekt "Kognitive Profile von Kindern mit Aufmerksamkeitsdefiziten-/Hyperaktivitätsstörung (AHDS) und Leserechtschreibschwäche" an der Universität.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Fotos der Originalpublikation:

Veränderte Voraussetzungen: Früher wurden die Schwerstkranken und Sterbenden im Kreise der Familie betreut, heute übernehmen spezialisierte Institutionen und professionelle SterbebegleiterInnen diese Aufgaben.

Ziele der palliativen Behandlung: Die Beherrschung von Schmerzen und anderen Krankheitsbeschwerden sowie die Linderung der psychischen, sozialen und spirituellen Probleme der PatientInnen.


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Quelle:
Einblicke Nr. 50, 24. Jahrgang, Herbst 2009, Seite 16-19
Herausgeber: Das Präsidium der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Presse & Kommunikation:
Ammerländer Heerstraße 114-118, 26129 Oldenburg
Telefon 0441/798-5446, Fax 0441/798-5545
e-mail: presse@uni-oldenburg.de
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Einblicke erscheint zweimal im Jahr und informiert
eine breite Öffentlichkeit über die Forschung der
Universität Oldenburg.


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Dezember 2009