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GEWALT/214: Die unsichtbaren Opfer des Kashmir-Konflikts (IPPNWforum)


IPPNWforum | 121 | 10
Mitteilungen der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Die unsichtbaren Opfer des Kaschmir-Konflikts

Ein Essay von Bharat Kumar


Die größte Gefahr liegt in dem Einfluss bewaffneter Konflikte auf leicht zu beeindruckende Kinder. Wenn sie in einem Umfeld der Angst aufwachsen, sind sie später im Erwachsenenalter anfälliger für Aggressionen. Dadurch entsteht der lange Schatten des gewaltsamen Konflikts, der noch lange nachdem die Waffen schweigen negativ auf die Bevölkerung einwirkt.


"Vergeben Sie mir, Herr Doktor." sagte Sakina Syed auf Urdu, als sie ihre Hände umklammerte. "Ich weiß dass das, was ich mache, falsch ist, aber mein Leben hier in Kaschmir ist einfach unerträglich. Sie nahm ein Geschirrhandtuch aus ihrer Tasche, die auf dem Tisch lag und rollte vorsichtig vier verschmutzte Spritzen aus. Sie stieß die Spritzen augenblicklich mit großem Ekel weg und sagte unter Tränen: "Ich kann diese Abhängigkeit nicht kontrollieren - mein Leben ist in Trümmern." Von seinem Tisch aus schaute sich der Psychiater die Spritzen genauer an und fragte ruhig "Was ist dir passiert, Sakina? Warum bist du so aufgewühlt?" Sakina atmete tief ein um ihre Fassung wiederzuerlangen und wischte sich mit ihrem Handrücken einige Tränen weg.

Sie berichtete uns, dass sie vor ein paar Monaten mit ihrem 13-jährigen Bruder auf dem Markt war, um Gemüse zu kaufen, als es plötzlich nach dem Freitagsgebet zu einer Demonstration kam. Als sie die Gefahr erkannt hatten, schlängelten sich beide eilig durch die Massen, um zu entkommen. Doch ihre Flucht wurde von einem lauten Bums gestoppt. Ihr Bruder wurde von einem Querschläger getroffen. Sie erzählte uns in einer atemberaubenden Genauigkeit, wie sein gesamter Körper einknickte und er zu Boden fiel - die Knie zu erst.

Sein grün geschecktes T-Shirt und seine blauen Jeans erschienen in einer tiefrötlichen Farbe, als das Blut aus der Eintrittswunde den Bauch und die Beine runterlief. Und dann sprach sie stockend seine letzten Worte aus - "Gott schütze dich, Sakoo. Pass auf Mama und Papa auf." Sakina blieb unversehrt, aber ihre Gefühle wurden tief erschüttert. Von diesem Tage an ist sie die quälenden Bilder wieder und wieder in ihrem Kopf durchgegangen - bei Tag und Nacht. Sie kann keine Hausaufgaben mehr erledigen, weil sie sich nicht auf die Schule konzentrieren kann. Sie kann keine Hausarbeit machen, weil sie immer nervös ist und mit einem erneuten Schuss rechnet. Sie kann nicht einmal schlafen, weil sie Angst hat, dass sie von Alpträumen heimgesucht wird. Ihre einzige Entspannung ist Fentanyl, das ihr von einem Nachbarn besorgt wurde. "Jetzt bin ich behindert," sagt Sakina, "ich kann weder zur Schule noch zu hause bleiben. Ich kann mich nur selbst betäuben." An diesem Punkt drehte sich der behandelnde Psychiater zu mir, seinem Studenten, und sagte "Posttraumatisches Stress-Syndrom und Drogenmissbrauch sind sehr verbreitet in Kaschmir. Sie ist eine von Tausenden in diesem seit 20 Jahren andauernden Konflikt." Vergessen ist sicherlich das beste Wort, um Sakinas Situation zu beschreiben.

In dieser visuellen Welt, dominiert von den Zeitungen, dem Fernsehen und dem Internet, können wir die Opfer von gewaltsamen Konflikten sehen, wenn sie offensichtliche Stigmata wie Einschusswunden oder Infektionen tragen. Weniger sichtbar sind die Millionen wie Sakina, die durch physische Gewalt mindestens genauso in ihrer Psyche betroffen sind. Ihre Verletzungen ertragen sie meist in Isolation, weit weg von Unterstützung von Menschen, die ihnen sonst helfen würden.

Die nächsten Worte des Arztes zeigten den beklagenswerten Zustand der psychiatrischen Versorgung in gewalterschütterten Gegenden: "Es tut mir leid, Sakina - aber es gibt wenig, was das Krankenhaus tun kann. Ich kann dir nur empfehlen, dass du über deine Probleme sprichst und allmählich deine Sucht in den Griff bekommst. Eine Gruppe, die gleiches durchmacht, trifft sich zweimal im Monat hier."

Man konnte die Frustration in den Augen des Arztes und seiner Patienten sehen, aber wahrscheinlich ist das die beste Behandlung die man in Kaschmir, wie in allen Konfliktregionen, bekommen kann. In der größten psychiatrischen Einrichtung des Kaschmirs in Kaathi Darwaza, gibt es keine Programme für Drogenentzug, finanzielle Unterstützung bei Psychopharmaka oder Begleituntersuchungen. Der Mangel an Ressourcen macht deutlich, dass das Krankenhaus selbst ein Opfer dieses andauernden Konfliktes ist. Man bekommt ein Gefühl für die Psyche von Kaschmir, wenn man durch die Labyrinthe der schummerigen Korridore des Krankenhauses läuft. Die dicken Wände und engen Gänge zeugen noch von der Zeit, als es unter dem damaligen Maharaja ein Gefängnis für politische Gegner war. Seit der Errichtung 1950 wird das Gefängnis als "Irrenanstalt" bezeichnet, was die Stigmatisierung von psychischen Störungen im Kaschmir-Tal verdeutlicht. Genau betrachtet zeigt selbst das Krankenhauspersonal Unbehagen, wenn es auf die Besucher schaut - immer scheint die Angst dabei zu sein, einer könnte ein Militanter sein. Aber trotz aller Probleme funktioniert das Krankenhaus außergewöhnlich gut, wenn man bedenkt, dass nur 10 Ärzte hier arbeiten.

300 Menschen kommen täglich, um die Berater und Psychiater zu sehen und annähernd 100 werden hier beherbergt. Aber selbst diese 400 Patienten sind nur ein winzig kleiner Teil der Tal-Bewohner, von denen vermutet wird, dass sie unter psychischen Erkrankungen leiden. Die Aufstände im Kaschmir haben zwar die Datenerhebung zu diesem Problem erschwert, doch gibt es eine der zuverlässigsten Statistiken von den "Ärzten ohne Grenzen" (MSF) von 2005. MSF ist eine von zwei NGOs, denen es erlaubt ist, im Kaschmir zu arbeiten. Die Studie fand heraus, dass sich nur die Hälfte der Menschen im Kaschmir-Tal gelegentlich oder gar nicht sicher fühlt. Eine(r) von zehn BewohnernInnen des Tals hat mindestens einen Angehörigen verloren und 11.6% gaben an, Opfer sexueller Gewalt geworden zu sein. Allgemein gab über ein Drittel an, schon an Selbstmord gedacht zu haben. Das ist eine überraschend hohe Zahl, wenn man den hohen Anteil konservativer Moslems dort bedenkt. Zudem wurde herausgefunden, dass psycho-somatische Erkrankungen weitverbreitet sind: Über 23.5% haben regelmäßig Kopfschmerzen, 20.5% haben körperliche Schmerzen und 16.9% haben Unterleibsbeschwerden, die nicht mit anderen Ursachen in Zusammenhang stehen. Andere Daten der lokalen NGO "Voluntary Health Association of India" belegen, dass Kaschmir eine der höchsten Drogenmissbrauchs-Raten weltweit hat, in einigen ländlichen Gebieten liegt diese sogar bei 45%. Diese Entwicklungen stehen im scharfen Widerspruch zu der Situation vor dem Konflikt, als von Krankheiten wir Drogenmissbrauch, und posttraumatisches Stresssyndrom praktisch nichts zu hören war.

Noch alarmierender ist die Tatsache, dass das verstärkte Auftreten von nicht behandelten psychischen Erkrankungen den Konflikt noch verlängeren könnte. Konfliktforscher betonen bereits seit Längerem die Rolle von gegenseitigen Verdächtigungen, rigidem Denken und Pessimismus bei der Generierung und Eskalation von Gewalt. Die düstere Sicht auf die Welt, die durch psychische Erkrankungen wie Depressionen, posttraumatischem Stress-Syndrom und Drogenmissbrauch gefördert wird, könnte eine Abwärtsspirale in Gang setzen, an deren Ende noch mehr Gewalt und Missbrauch steht. Psychische Erkrankungen untergraben auch die sozio-ökonomischen Voraussetzungen für die Lösung des Konflikts. Sie behindern darüber hinaus auch die moderaten und pragmatischeren Kräfte, die sich gegen die Extremisten der kriegführenden Parteien zu behaupten versuchen. Auch wird die für Frieden notwendige wirtschaftliche Entwicklung aufgehalten. Auf jeden Fall gilt: wenn der innere Frieden gestört ist, ist auch der Frieden auf dem Boden gestört. Aber wahrscheinlich liegt die größte Gefahr in dem Einfluss bewaffneter Konflikte auf leicht zu beeindruckende Kinder. Wenn sie in einem Umfeld der Angst aufwachsen, sind sie später im Erwachsenenalter anfälliger für Aggressionen. Dadurch entsteht der lange Schatten des gewaltsamen Konflikts, der noch lange nachdem die Waffen schweigen negativ auf die Bevölkerung einwirkt.

Sakina war nur eine von hundert Patienten dort, so dass ich während meines Aufenthalts dort kaum über ihre Geschichte nachdachte. Aber ich wurde an sie erinnert, als ich Kaschmir in einem Taxi verlies. Der Taxifahrer und ich fuhren gerade nach Süden in Richtung der etwas ruhigeren Region Jammu, als wir in eine teilweise abgesperrte Straße einbogen. Männer in Uniform und großen Gewehren standen herum an einem Schauplatz blutiger Zusammenstöße zwischen Aufständischen und der Polizei. Die Leichen der Aufständischen wurden von der Polizei nicht verhüllt, um jeden Unterstützer zu entmutigen. Auch die Gesichter der Toten wurden nicht verdeckt, sie wurden den Blicken der Schaulustigen preisgegeben. Als ich in die Gesichter von zwei Fremden blickte, erstarrte ich für einen Moment. Von da an dachte ich an Sakina, die ihren eigenen Bruder so sterben sah, und mir wurde klar, wie schmerzvoll das Leben für diejenigen sein muss, die die Last mentaler Wunden, verursacht durch Konflikte, schultern müssen. Am Ende bleiben sie alleine und vergessen.


GEWINNER-ESSAY

Mit diesem Essay hat der Medizinstudent Bharat Kumar den Aufsatzwettbewerb zur Global Response Konferenz 2010 gewonnen.
Übersetzt aus dem Englischen von Jens Heinrich


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Quelle:
IPPNWforum | 121 | 10, März 2010, S. 10 - 11
Herausgeber:
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
Anschrift der Redaktion: IPPNWforum
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Dezember 2010