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SUCHT/714: Studie zur Entwicklung der Mediensucht bei Kindern und Jugendlichen in der Pandemie (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 5, Mai 2021

Noch nicht die perfekte Welle

von Dirk Schnack


MEDIENSUCHT. Die DAK-Gesundheit und das UKE Hamburg untersuchen die Entwicklung der Mediensucht bei Kindern und Jugendlichen in der Pandemie. So hoch wie die Welle mit Rekordwerten im April 2020 war die Zeit an den Spiele-Konsolen im zweiten Lockdown zwar nicht mehr - dennoch appellieren Experten, die Nutzungsdauern im Blick zu behalten.


Die aktuellen Zwischenergebnisse der gemeinsamen Längsschnittstudie des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters von UKE und DAK-Gesundheit zeigen, dass die Nutzungszeiten von Computerspielen und Social Media nach dem ersten Lockdown im April 2020 wieder deutlich zurückgegangen sind. Jugendliche zwischen elf und 18 Jahren spielten im November 2020 an einem Werktag im Durchschnitt 115 Minuten digitale Spiele. Das ist ein Rückgang von 15 Prozent. Nachdem sie im September 2019 wochentags noch durchschnittlich 83 Minuten digitale Spiele nutzten, waren es im April 2020 ganze 132 Minuten täglich. Damit lag die Nutzungszeit um 59 Prozent höher als noch vor der Pandemie. Bei der dritten Befragung im November 2020 lag der Wert also deutlich niedriger, jedoch weiter über dem Vorkrisenniveau.

Die Längsschnittstudie untersucht in bundesweit 1.200 Familien die digitale Mediennutzung von Kindern, Jugendlichen und deren Eltern. "Die Zwischenergebnisse unserer Studie zeigen, dass sich im Verlauf der Pandemie eine gewisse Entspannung eingestellt hat. Die Kinder und Jugendlichen hatten wieder Alternativen zur Online-Welt, die sie auch nutzten. Das ist eine positive Entwicklung", sagte Andreas Storm, Vorstandschef der DAK-Gesundheit, bei der Vorstellung der Studie im vergangenen Monat. "Wir müssen die Nutzungszeiten der Mädchen und Jungen weiterhin im Blick behalten, um das bestehende Risiko einer steigenden Mediensucht weiter zu verringern."

Auch bei den sozialen Medien flachte die Welle nach einem deutlichen Hoch wieder ab: Im November vergangenen Jahres nutzten die Befragten die sozialen Medien durchschnittlich 147 Minuten an einem normalen Wochentag - ein Rückgang um 29 Prozent im Vergleich zum ersten Lockdown im April. Hier verbrachten Kinder und Jugendliche täglich 189 Minuten mit Social Media; das sind etwas mehr als drei Stunden und 63 Prozent länger als noch im September vor der Pandemie. Damals waren es 116 Minuten. "Die aktuelle Richtung stimmt", sagt Daniela Ludwig, Drogenbeauftragte der Bundesregierung. "Selbst wenn die Kinder und Jugendlichen nach wie vor mehr als vor der Pandemie chatten, surfen und gamen, hat sich der Anstieg der Nutzungsdauer immerhin nicht fortgesetzt. Dennoch ist es weiterhin sehr wichtig, genau hinzuschauen, was die Kids mit digitalen Medien machen, wie sie die Zeit mit und ohne Handy oder Spielkonsole sinnvoll nutzen können. Das heißt: auch mal gezielt 'offline' sein."

Dabei zeigt sich bei den sozialen Medien jedoch ein deutlicher Geschlechterunterschied: Während sich Jungen im November 2020 zumindest an den Wochenenden wieder dem Nutzungsniveau vor der Pandemie annäherten (186 Minuten vs. 184 Minuten), reduzierten Mädchen ihren Social-Media-Gebrauch nur marginal. Er ist an einem normalen Wochenende mit 224 Minuten immer noch auf ähnlichem Niveau wie im April 2020 (243 Minuten) und damit deutlich höher als bei den Jungen und als vor der Pandemie (186 Minuten). Auch in den Altersgruppen gibt es Unterschiede: Jungen zwischen 15 und 18 Jahren spielten im Herbst 2020 werktags mit 161 Minuten durchschnittlich knapp eine Stunde länger Computer als die 11- bis 14-Jährigen (102 Minuten). An Wochenenden waren es sogar knapp eineinhalb Stunden mehr. "Die Veränderungen der Nutzungszeiten gehen auf unterschiedliche Gründe zurück. Während die Bürger im April 2020 dazu angehalten waren, zu Hause zu bleiben, waren im Herbst Schulen und Geschäfte zumindest teilweise geöffnet", sagte Prof. Rainer Thomasius, Ärztlicher Leiter am Deutschen Zentrum für Suchtfragen. "Darüber hinaus gehen wir von einer Adaption an die Herausforderungen der Pandemie aus: Während die Situation im April noch ungewohnt war, fanden die Kinder und Jugendlichen einen zunehmend konstruktiven Umgang mit der Pandemie und den eingeschränkten Möglichkeiten, die sie mit sich bringt."

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Medienabhängigkeit und gesunde Mediennutzung sind ein Schwerpunkt der Arbeit der Drogenbeauftragten der Bundesregierung, Daniela Ludwig. In 2021 hält sie das Thema für besonders wichtig, weil viele Kinder und Jugendliche, die wegen der Pandemie deutlich mehr Zeit zu Hause verbringen müssen, diese mit digitalen Medien füllen. Um "Zocken zum Zeitvertreib" geht es auch in einem Erklärfilm für Lehrer, Schüler und Eltern, der genauso wie Arbeitsmaterialien auf www.familiefreundefollower.de oder auf Youtube eingestellt ist. Auf den Film verweist auch die schleswig-holsteinische Bildungsministerin Karin Prien (CDU) auf der Website des Kieler Ministeriums.
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Im April 2020 gaben fast 90 Prozent der Kinder und Jugendlichen an, digitale Spiele und soziale Medien zu nutzen, um Langeweile zu bekämpfen. Über ein Drittel wollte online "der Realität entfliehen". Bereits im September 2019 zeigten zehn Prozent der 10- bis 17-Jährigen ein riskantes Spielverhalten. Pathologisches Gaming wurde bei 2,7 Prozent festgestellt.

Die repräsentative Längsschnittstudie zur Mediennutzung im Verlauf des Corona-Lockdowns untersucht erstmalig an rund 1.200 Familien die Häufigkeiten pathologischer und riskanter Internetnutzung für Spiele und soziale Medien bei Kindern und Jugendlichen nach den neuen ICD-11-Kriterien der WHO. Die DAK-Gesundheit führt dazu gemeinsam mit dem Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) in mehreren Wellen Befragungen durch das Meinungsforschungsinstitut Forsa durch. Dafür wird eine repräsentative Gruppe von Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 10 und 17 Jahren mit je einem Elternteil zu ihrem Umgang mit digitalen Medien an vier Messzeitpunkten befragt. Nach den Befragungen im September 2019, im April 2020 und im November 2020 soll die Studie mit einer vierten Befragungswelle im April 2021 abgeschlossen werden. Die Ergebnisse werden im Sommer erwartet. Diese Studie, die Zusammenhänge zwischen Nutzungsmustern, Nutzungsmotiven und familiären Nutzungsregeln über den Verlauf der Pandemie hinweg untersucht, ist nach Angaben der Projektpartner in Deutschland einmalig.

Auf die Risiken digitaler Medien hatte kürzlich auch Prof. Christian Möller von der Fachhochschule Kiel in einem Interview mit der TK-Landesvertretung hingewiesen. Er beobachtet Sorglosigkeit und fehlende Medienkompetenz in allen Altersgruppen. Als Gründe hatte er u.a. die Angst, etwas zu verpassen, die ständige Verfügbarkeit und die zunehmende Zeit, die wir seit Corona zu Hause verbringen, angeführt.

Für Kinder und Jugendliche, die ein problematisches Online-Nutzungsverhalten haben, sowie für deren Eltern hat die DAK-Gesundheit gemeinsam mit der Computersuchthilfe Hamburg eine neue Online-Anlaufstelle Mediensucht entwickelt, die seit August 2020 erreichbar ist: Auf www.computersuchthilfe.info erhalten Betroffene und deren Angehörige Informationen und Hilfestellungen rund um die Themen Online-, Gaming- und Social-Media-Sucht. Das kostenlose DAK-Angebot ist offen für Versicherte aller Krankenkassen. Auf die Rolle der Schulen hat in diesem Zusammenhang schon zu Jahresbeginn die Vorsitzende der Kultusministerkonferenz der Länder, Britta Ernst (SPD), hingewiesen. Die Bildungsministerin des Landes Brandenburg betonte, dass im Unterricht für das Thema sensibilisiert werden könne. Eine von den Ländern erarbeitete Strategie ("Bildung in der digitalen Welt") soll erreichen, dass Kinder und Jugendliche einen reflektierten Umgang mit Medien entwickeln.

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 5, Mai 2021, 74. Jahrgang, Seite 26-27
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juni 2021

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