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SUCHT/687: Folgen der Abhängigkeiten - Auch Angehörige der Süchtigen werden krank (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 10/2017

Sucht
Auch Angehörige der Süchtigen werden krank

von Dirk Schnack


400 Besucher beim Deutschen Suchtkongress in Lübeck. Angehörige, Kinder und Jugendliche standen im Fokus. Weiterhin steigende Tendenz bei der Zahl der Internetabhängigen.


Jeder zehnte Erwachsene in Deutschland hat mindestens einen Angehörigen mit einer bestehenden Suchterkrankung. Auf dem zehnten Deutschen Suchtkongress in Lübeck wurde vergangenen Monat auch über die Folgen der Abhängigkeiten für die erwachsenen Familienangehörigen gesprochen. Sie stehen nach Beobachtung von Experten bislang zu wenig im Blickpunkt von Politik und Öffentlichkeit, obwohl sie einen schlechteren allgemeinen Gesundheitszustand und häufiger Depressionen aufweisen als der Durchschnitt der Bevölkerung. Folge: Die erwachsenen Angehörigen von Suchtkranken erfahren in unserer Gesellschaft bislang kaum Unterstützung und finden nur schwer spezialisierte Behandlungsangebote.

"Unser Ziel ist auch, zu einer Entstigmatisierung für die Angehörigen beizutragen", sagte Kongresspräsident Dr. Gallus Bischof von der Uni Lübeck in einer Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Suchtpsychologie und der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie. Grund für die Ausrichtung auf diese Gruppe: Die erwachsenen Angehörigen sind - neben drei Millionen Kindern von suchtkranken Eltern und den Süchtigen selbst - die am schwersten betroffene Gruppe. "Neben unmittelbaren Folgen des Suchtverhaltens erleben Angehörige die Sorge um den Suchtkranken als sehr belastend. Die gesellschaftliche Stigmatisierung von Suchterkrankungen stellt einen weiteren bedeutsamen Stressor auch für Angehörige dar", so Bischof. Nach seiner Beobachtung haben wissenschaftlich geprüfte Behandlungskonzepte für Erwachsene bislang kaum Einzug in die Suchtkrankenversorgung gefunden. Bischof bezeichnete die Versorgungsangebote in Deutschland als "unterfinanziert und lückenhaft", die Hilfesysteme als "unzureichend vernetzt". Neben der Schließung der Versorgungslücken forderte er auch ein besseres Verständnis für die Situation der Angehörigen.

Die Situation von Kindern suchtkranker Eltern hatte schon im Mittelpunkt der Jahrestagung der Drogenbeauftragten der Bundesregierung im Sommer gestanden. Bei diesen Kindern prägen neben dem instabilen Elternhaus auch fehlende Verlässlichkeit, soziale Ausgrenzung und Scham den Alltag; vieles davon trifft auch auf die erwachsenen Angehörigen zu. Bei Kindern kommt hinzu, dass viele von ihnen ein hohes Risiko haben, eine eigene Suchterkrankung oder eine andere psychische Störung zu entwickeln.

Auch in Lübeck war die Situation von suchtgefährdeten und von Suchtstörungen betroffenen Kindern und Jugendlichen ein Schwerpunkt. Laut Prof. Rainer Thomasius vom UKE sind Alkohol, Tabak und Cannabis die am weitesten verbreiteten psychoaktiven Substanzen im Jugendalter. Exzessive Nutzungsformen wie das Rauschtrinken seien in dieser Altersgruppe häufig zu finden. Regelmäßiger Cannabismissbrauch betreffe rund zwei Prozent der 14- bis 17-Jährigen. Aus der Gruppe der sogenannten "Legal Highs" werden vor allem synthetische Cannabinoide probiert. Ein solcher Substanzmissbrauch im Kindes- und Jugendalter könne zu körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen, zur nachhaltigen Störung der altersgebundenen Entwicklungs- und Veränderungsprozesse, zu Schulversagen und zu sozialer Desintegration der Betroffenen führen. Im Vordergrund des klinischen Bildes bei Alkohol- und Cannabismissbrauch stünden neurokognitive Folgeschäden sowie Probleme mit Risikoverhalten und Emotionsregulation. "Bei den neuen psychoaktiven Substanzen vom Stimulanzientyp werden rasche Suchtentwicklung, erhöhte Gewaltbereitschaft und körperliche Auszehrung beobachtet", sagte Thomasius. Todesfälle durch den Konsum von Phenethylaminen, insbesondere synthetische Cathinone, seien in den vergangenen Jahren aus England berichtet worden. Depressive Störungen, Angststörungen, psychotische Episoden sowie kombinierte Störungen des Verhaltens und der Emotionen seien häufige, den Substanzmissbrauch begleitende psychische Störungen.

Thomasius verwies auch auf ein geändertes Suchtverhalten der Kinder und Jugendlichen im Vergleich zu früher. Bei Nikotin und regelmäßigem Alkoholkonsum ist eine rückläufige Entwicklung zu beobachten, dafür geben neue Konsum- und Suchtformen Anlass zur Sorge: Rauschtrinken, E-Shishas, neue synthetische Drogen. Thomasius kritisierte das nicht ausreichende Angebot an Behandlungs- und Therapieplätzen. Neben den ländlichen Regionen gelte dies auch für viele Metropolen wie Berlin, Köln und Frankfurt. Eine Ausnahme sei Hamburg: Dort finden sich 20 der bundesweit nur 220 Betten von Kliniken, die sich auf süchtige Kinder und Jugendliche spezialisiert haben. Dieser Mangel hat zur Folge, dass minderjährige Süchtige zum Teil in Erwachseneneinrichtungen behandelt werden, mit oft dramatischen Folgen. Es fehlt dort an pädagogischen Konzepten, nicht aber an falschen Vorbildern. "Manche lernen dort den Umgang mit härteren Drogen", gab Thomasius zu bedenken. Notwendig sei ein eigenes Beratungs- und Behandlungssetting, das dem jeweiligen Entwicklungsstand des Jugendlichen Rechnung trägt. Zur Prävention sei eine bessere Verzahnung zwischen Suchthilfe, Schule und Kinder- und Jugendpsychiatrie notwendig.

Peter Missel, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Suchtpsychologie, sieht ebenfalls Defizite im Behandlungsangebot: "Nur neun bis 15 Prozent aller süchtigen Menschen erhalten eine qualifizierte Behandlung. In der Rehabilitation sind es sogar nur fünf Prozent. Es ist dringend geboten, ergänzende Wege über die Versorgung durch Hausärzte oder Psychologen zu schaffen."

Steigende Bedeutung bei den Suchtgefahren für Kinder und Jugendliche hat das Internet. PD Dr. phil. Hans-Jürgen Rumpf, Past-President der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie, beschrieb, wie es zu diesen Abhängigkeiten kommen kann. Jungen beschäftigten sich online eher mit kompetitiven Rollenspielen, an die sie durch einen Mix aus frühen Erfolgen und steigenden Anforderungen gebunden werden, ein "perfides Konzept", so Rumpf. Mädchen seien anders, aber nicht weniger gefährdet: Sie verbringen deutlich mehr Zeit mit sozialen Medien, wo ihnen positives Feedback eine Selbstwertsteigerung vermittelt. Am höchsten ist der Anteil der internetabhängigen Heranwachsenden in der Altersgruppe der 14- bis 16-Jährigen. Hier liegt er schon bei vier bis fünf Prozent. Die Zahl der Gefährdeten wird auf das Dreifache geschätzt. Die Warnungen will Rumpf nicht als pauschale Verunglimpfung des Internets verstanden wissen. "Die Nutzung des Internets gehört für uns alle zum Alltag, erleichtert uns Vieles und schafft uns neue Möglichkeiten. Neben den Annehmlichkeiten verändert die Internet-Smartphone-Nutzung allerdings auch unsere Kommunikation und unser Nutzungsverhalten von digitalen Medien. Diese Nutzung ist bei einem relevanten Anteil der Bevölkerung als problematisch anzusehen, bei einem weiteren Teil treten negative Konsequenzen auf und ein bis zwei Prozent der Bevölkerung leiden unter einer süchtigen Nutzung", sagte Rumpf. Es sei damit zu rechnen, dass die Zahl der Betroffenen weiter steigen wird.

Wie ist darauf zu reagieren? Die Antwort fällt schwer, weil das Thema noch nicht ausreichend erforscht ist und ständige technische Neuerungen auch neue Formen des problematischen oder süchtigen Verhaltens ermöglichen. Insofern stellt die Internetabhängigkeit die Gesellschaft vor eine neue Herausforderung, für Rumpf insbesondere in Bezug auf Beratung, Behandlung und Prävention. Er gab zu bedenken: "Es gilt weiterhin, den Jugendschutz bei besonders suchtgefährdeten Spielen oder anderen Anwendungen anzupassen. Suchtgefahr wird hierbei bislang noch gar nicht berücksichtigt."

Dr. Daria Kuss, Lehrbeauftragte an der Nottingham Trent University, stellte in Lübeck neueste Untersuchungen im Bereich der sozialen Netzwerke vor. "Foto-Sharing-Angebote bergen gerade für junge Frauen eine besondere Gefahr. Die Posts prominenter Personen begeistern vor allem Nutzerinnen, weil sie ihr Leben als weniger interessant empfinden als das der Stars, denen sie folgen. Die Veränderungen in den digitalen Medien sind rasant. Das stellt die aktuelle Forschung vor besondere Herausforderungen", sagte Kuss.

Prof. Jim Orford, Forscher an der University of Birmingham und einer der international bedeutsamsten Wissenschaftler in der Suchtforschung, berichtete in Lübeck aus seinen Studien über die sozialen Aspekte von Suchterkrankungen. Mehr als 800 Angehörige aus verschiedenen Ländern hat der Brite befragt. "Wir müssen bei der Prävention von Suchterkrankungen noch viel stärker auf das soziale Umfeld schauen. Niedrige Einkommen und geringe Bildung stellen erhebliche Risiken da. Grundsätzlich gilt: Je niedriger der Sozialstatus, umso höher das Suchtrisiko", sagte Orford.

Auch eine öffentliche Lesung gehörte zum Programm. Der Journalist und Publizist Dominik Schottner las aus seinem Buch "Dunkelblau" und berichtete damit über seine Erfahrungen mit einem alkoholkranken Vater, passend zum Motto der Jahrestagung 2017: "Die Kinder aus dem Schatten holen".


1,8 Mio.

Menschen in Deutschland gelten als alkoholabhängig, gut 500.000 sind glücksspielsüchtig, rund 560.000 Menschen onlineabhängig. In der Altersgruppe der 14- bis 16-Jährigen ist der Anteil der Internetabhängigen mit vier bis fünf Prozent vergleichsweise hoch.

400
Teilnehmer aus unterschiedlichen Bereichen des Gesundheitswesens kamen zum zehnten Deutschen Suchtkongress vom 18. bis 20. September nach Lübeck. Unter ihnen waren neben Ärzten u.a. auch Sozialarbeiter, Psychologen und Vertreter von Selbsthilfegruppen.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 10/2017 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2017/201710/h17104a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
70. Jahrgang, Oktober 2017, Seite 16 - 17
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung
Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Dezember 2017

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