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SUCHT/678: Wohnungslosigkeit und Sucht - zurück in welche Zukunft?! (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 155 - Heft 1/17, Januar 2017
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Auf der Strasse ... Wohnungslosigkeit und Sucht
Wohnungslosigkeit und Sucht: zurück in welche Zukunft?!

Von Christian Brück


Perspektivlosigkeit als Ursache für fehlende Abstinenzmotive und Suchtmittelrückfälle bei sucht- und psychisch erkrankten Wohnungslosen


Seit 2010 bin ich in Köln in der niedrigschwelligen, ambulant-aufsuchenden Sozialarbeit mit psychisch erkrankten wohnungslosen Menschen tätig, von denen etwa zwei Drittel auch Suchtmittel konsumieren. Die Arbeit erfolgt eins zu eins mit zeitlich und inhaltlich weitgehend flexibel gestaltbaren wöchentlichen Kontakten in der Lebenswelt der Klientel und dem sozialpsychiatrischen Hilfesystem. Lebenswelt meint hier beispielsweise die Straße, Notunterkünfte für wohnungslose Menschen (»Hotels«), besetzte Abrisshäuser, die Szene rund um den Hauptbahnhof und mitunter ein Wald oder Friedhofsanlagen, wo Obdachlose in Zelten wohnen. Viele Klientinnen und Klienten sind psychiatrisch massiv auffällig, lehnen aber eine medikamentöse Behandlung ab und konsumieren legale und illegale Drogen. Grundlage der Tätigkeit ist eine akzeptierende, vertrauensvolle, komplementäre und tragfähige Beziehungsarbeit. Gemeinsam können dann weitere Ziele erarbeitet werden.

Das folgende Fallbeispiel soll auf die berufliche und private Perspektivlosigkeit dieses Personenkreises aufmerksam machen und verdeutlichen, warum es für wohnungslose Suchtkranke wenig attraktiv ist, eine dauerhafte Abstinenzentscheidung zu treffen.

Vom Diplomvolkswirt zum Obdachlosen

Herr Z. ist etwa fünfzig Jahre alt, leidet seit über zehn Jahren an paranoider Schizophrenie, ist wohnungslos, langzeitarbeitslos, sozial isoliert und alkoholabhängig. Sein Konsum schwankt phasenweise zwischen ein paar Flaschen Bier und ein bis zwei Flaschen Wodka oder Korn pro Tag. Herr Z. steht exemplarisch für eine Gruppe von Menschen am Rande der Gesellschaft, die keine Motivation haben, ihren Suchtmittelkonsum dauerhaft vollständig aufzugeben bzw. sich überhaupt kritisch mit ihrem Konsumverhalten und sich selbst auseinanderzusetzen. Aus Angst vor der nüchternen Realität - und weil es ihnen an Perspektiven fehlt.

Ursprünglich hatte der äußerst eloquente und intelligente Herr Z. ein relativ normales, bürgerliches Leben: Abi, Wehrdienst, Studium, Wirtschaftsdiplom, Hochzeit, Frau und Kinder. Die Feierabendbierchen seit den Zwanzigern steigerten sich, Schnaps kam hinzu, und irgendwann mit Mitte, Ende dreißig eskalierte der Konsum. Nach der Scheidung und dem Arbeitsplatzverlust Ende der Neunzigerjahre folgten Obdachlosigkeit, Sucht, der Ausbruch einer Psychose und zunehmende körperliche Verwahrlosung.

Der Bruch mit der Familie und das beruflich-gesellschaftliche Scheitern waren für Herrn Z. traumatische Erfahrungen, mit denen er nicht mehr konfrontiert werden wollte. Hier hatte das Suchtmittel für ihn zusätzlich eine schützende Funktion. Auf der Flucht vor seinem Trauma trank sich Herr Z. durch diverse deutsche Städte, bis er sich in der Obdachlosenszene Kölns wiederfand. Vom Verwaltungsapparat und den psychiatrischen Kliniken als »suchtkrank«, »psychisch krank« und »wohnungslos« etikettiert, zog er von »Hotel« zu »Hotel« (Notunterkünfte für wohnungslose Menschen) oder machte irgendwo »Platte« und konsumierte exzessiv Alkohol. Sein Diplom verjährte, das Milieu und die Sucht hinterließen ihre Spuren, und es gab keinen Weg mehr zurück in den Beruf und zu seiner Familie.

Nazis, FBI-Agenten und Latexmasken

Im Klinik-Hilfeplan als »gewaltbereit« beschrieben, zeigte sich im persönlichen Kontakt ein freundlicher, kommunikativer Mann, groß und hager mit lichtem Haar und schlechten Zähnen. Wenn wir uns trafen, schlug er die Beine übereinander und philosophierte beim Kaffee, grinsend, wortgewandt und weitschweifig, mit zum Teil ausladender Gestik, über die verschiedensten Themen: amerikanische Geschichte, Technik, Wirtschaft, Weltpolitik. Er hatte ein sehr ausgeprägtes Rede- und Mitteilungsbedürfnis, das von unzensierter, sympathischer Offenheit zeugte. Gerne auch übte er sich in Gesellschaftskritik: »Sehen Sie mal genauer hin: Überall gibt es seelische Reparatur- und Heilberufe! Was sagt das über die mentale Verfassung einer Gesellschaft aus?!«

Durch sein Scheitern war Herr Z. narzisstisch gekränkt. Für ihn wäre es nicht nur ein unterfordernder Albtraum, sondern auch eine Beleidigung gewesen, hätte er in einer Werkstatt für behinderte Menschen Vogelhäuschen zusammenbasteln müssen.

Im psychotischen Zustand redete Herr Z. oft mit sich selbst und fiel im Stadtbild vielerorts durch zuckende Mimik und einen bizarren Gang auf. Er wirkte dann, als wäre er völlig in einer anderen Welt, abgekapselt und ohne Bezug zur realen Umgebung. Sprach man ihn bei zufälligen, nicht geplanten Begegnungen an, so dauerte es einige Momente, bis er einen erkannte, die Situation realisierte und dann unmittelbar in ein überwiegend »normales«, unauffälliges Sozialverhalten wechselte. Manchmal war er aber auch so betrunken, dass er überhaupt nichts mehr mitbekam und sich später an diese Begegnungen nicht mehr erinnerte.

Aufgrund des Verfolgungswahns und von Halluzinationen verkannte er unter anderem seine Mutter als »Dämon« und attackierte sie, was zu einem Polizeieinsatz und PsychKG-Klinikaufenthalt führte. Es hieß vonseiten der Klinik, er glaube, in Kontakt mit Eva Braun und Hitlers Enkel zu stehen, und treffe diese Personen nachts am Aachener Weiher im Kölner Grüngürtel. Phasenweise baute er auch mich in sein Wahnsystem ein, mal als FBI-Agent, mal als Beauftragter der Mutter. Die Menschen würden Latexmasken über ihrem Gesicht tragen, um nicht von Identitätsscannern erfasst werden zu können, und sein Zimmernachbar aus Kolumbien sei der meistgesuchte »Drogenzar« der Welt. Herrn Z.s Realität war somit durch einen wilden Verschwörungsmix aus Nazis, Agenten und Teufeln gekennzeichnet, dessen Sinn und Zusammenhänge sich mir jedoch nie wirklich erschlossen.

Alkoholabsturz bis in die Gosse

Herr Z. wurde von mir etwa vier Jahre lang auf der Straße begleitet, wobei er wiederholt für einige Wochen und Monate spurlos verschwunden war. Einmal vermutete ich sogar, dass er verstorben sei, denn keine Behörde, kein Krankenhaus oder Polizeirevier hatte Informationen über seinen Verbleib. Irgendwann lief er mir dann völlig unerwartet im tiefsten Winter bei Schneefall und Minusgraden im Kölner Hauptbahnhof über den Weg: exzessiv betrunken, abgemagert und abgewrackt, mit gelben Zähnen, schwarzen Fingern und aufgeschwemmtem Gesicht. Er »habe 'ne Platte unter der Brücke nebenan« (die sich bei Besichtigung als vollgepinkelte Matratze inmitten von Frost und Schnee herausstellte) und fragte mich, ob ich ihm vielleicht mit dreißig Cent weiterhelfen könnte. Es war eiskalt, und er zitterte am ganzen Körper. Per Rettungswagen kam er mal wieder in die Psychiatrie, wo er ein weiteres Mal entgiftet und medikamentös eingestellt wurde. Da zusätzlich Kopfläuse und Krätze diagnostiziert wurden, rasierte sich Herr Z. den Kopf. Seine Kleidung wurde vollständig entsorgt und die Haut behandelt. Zumindest hatte er nun im Winter ein Dach über dem Kopf, drei warme Mahlzeiten, konnte regelmäßig duschen und sich in einem geschützten Rahmen wieder stabilisieren. Bis zur nächsten Runde, denn nach der Entlassung begann alles wieder von vorn.

Halb nackt auf der Autobahn

Im Laufe der Jahre eskalierte der Alkoholkonsum bei Herrn Z. regelmäßig. Mal wurde er halb nackt auf der Autobahn aufgegriffen und als »hilflose Person« in die Psychiatrie eingewiesen, mal randalierte er betrunken im Supermarkt und beschimpfte Mitarbeiter und Kunden als »Judenschweine«. In der einen Woche verwüstete er sein Hotelzimmer und setzte es unter Wasser, in einer anderen lag er vor irgendeinem Haus im Blumenbeet mit dem Gesicht in seinem Erbrochenen.

Nach der Aktion auf der Autobahn hatte er sein Portemonnaie und jegliche Erinnerung verloren. Da die Klinik leider nicht protokolliert hatte, von wem Herr Z. eingeliefert worden war, betrieben wir Detektivarbeit und klapperten sämtliche Polizeireviere und Feuerwachen in der Region ab: »Haben Sie mich letzte Woche nachts nackt auf der Autobahn aufgegriffen und in die Psychiatrie gebracht? Ich war betrunken, habe keine Erinnerung mehr und mein Portemonnaie ist weg.« Schließlich beantragten wir alle Ausweise neu. Wir kehrten sozusagen immer wieder die Scherben zusammen, doch an den Kernproblemen änderte sich nichts: Bettelnd und konsumierend vegetierte Herr Z. vor sich hin. Flog er wegen seiner Eskapaden aus einem Hotel für Wohnungslose, machte er »Platte« und trank auf der Straße weiter. Seine psychotischen Fantasien gediehen dadurch unbehandelt weiter. Es war ein Trauerspiel ohne Aussicht auf Besserung.

Die Angehörigen-Perspektive: Sorgen und Vorwürfe

Die einzige familiäre Bezugsperson in Köln war Herrn Z.s Mutter, eine ältere Dame, die in der Stadt einen Kiosk betrieb. Sie machte sich stets Sorgen und Vorwürfe wegen ihres erwachsenen Sohnes und bot ihm Kontakt und Hilfe an, was er jedoch ablehnte. Vermutlich tat er das, weil sie ihn an sein »altes Leben« mit Ehefrau und Kindern, also an sein Trauma, erinnerte und sie diese Menschen auch persönlich kannte. Daher wird hier emotionaler Selbstschutz wahrscheinlich eine tragende Rolle gespielt haben. Aus Sicht von Herrn Z. war sie eine »scheinheilige Hexe«, gehörte zum FBI und gab Informationen weiter. Wenn ich seine Mutter traf, bat sie mich, ihm auszurichten, er solle doch mal etwas essen und nicht immer nur Alkohol trinken, zumal er immer mehr abmagerte. Die Mutter stellte mich wiederholt vor eine Herausforderung: Ich stand unter Schweigepflicht, also konnte ich ihr nichts über ihren Sohn sagen, sondern diesem allenfalls etwas von ihr ausrichten. Was ich jedoch hier und da durchsickern lassen konnte, war zumindest ein Lebenszeichen: »Ich habe ihn letztens in der Stadt gesehen. Er lebt noch und sah richtig gut aus.« Phasenweise stimmte das sogar. »Ach, dass freut mich ja jetzt. Vielen Dank, dann bin ich erleichtert. Sie wissen gar nicht, was das jetzt für mich bedeutet. Vielleicht kriegt er ja jetzt endlich mal die Kurve. Der ist doch so ein hochintelligenter Mensch.«

Im Umgang mit Herrn Z.s Mutter dachte ich oft auch an meine eigene. Was wäre, wenn ich selbst ein wohnungsloser, psychisch kranker Alkoholiker wäre und meine Mutter vor lauter Sorgen, wilder Spekulation und Selbstvorwürfen verzweifeln würde? Da wäre sie doch auch für jede Information dankbar.

Pfandflaschensammeln gegen die Sucht

Nach dem x-ten Absturz und der x-ten Entgiftung, einhergehend mit Scham, Angst, Depressionen und suizidalen Äußerungen, wurde Herrn Z. bewusst, dass es so auf Dauer nicht weitergehen konnte. Irgendwann begann ein bewegender Kampf gegen den Alkohol. Wir kamen fast an einen Punkt, an dem die Gespräche auf der Straße, im Café, im Auto oder im Büro therapeutischen Charakter bekamen. Herr Z. betonte die Nachteile des Konsums und die Vorteile eines abstinenten Lebens. Für einige Wochen geriet er regelrecht ins Schwärmen: Er habe wieder einen klaren Kopf, schmecke wieder etwas (»Wahnsinn, alleine dieser Kaffee hier, so was habe ich seit über zehn Jahren nicht mehr wahrgenommen!«), habe Appetit, weniger Magenschmerzen und Geld für neue »Klamotten«. Wir trafen uns zweimal pro Woche, und er berichtete von Tagesstruktur durch Flaschensammeln. Dabei zeigte er mir jedes Mal stolz seine Ausbeute, die er in Tüten bei sich hatte.

Herr Z. kleidete sich neu ein und trug saubere Schuhe, Hosen, Hemden und eine passende Jacke. Er rasierte sich gründlich, kämmte sich die nachgewachsenen Haare zurück und seine Augen waren klar und nicht mehr glasig. Im Gespräch fantasierten wir bereits von einer sinnvollen EX-IN-Tätigkeit in ein paar Jahren, durch die er anderen Menschen in einer solchen Situation helfen und seine Erfahrung weitergeben könnte. Das sprach Herrn Z. an, und er kämpfte weiter, blieb stark. Wenn man die Umstände bedenkt, dann wuchs er über sich hinaus, auch wenn er von der Trinkerszene dafür ausgegrenzt und belächelt wurde. Er war stolz auf seine Erfolge, und einige Monate lief es so weiter. Doch dann machten sich die ersten Anzeichen bemerkbar, dass er wieder trank: Er kam nicht mehr zu den vereinbarten Terminen und war nicht mehr erreichbar, rief nicht mehr zurück. Wenn wir uns sahen und das Thema Abstinenz aufkam, dann schwärmte er nicht mehr, und das überzeugte Leuchten in seinen Augen war verschwunden: »Also hier und da mal 'ne Flasche Wein muss ja schon drin sein. Andere trinken ja noch wesentlich mehr, dadurch bin ich ja jetzt noch kein Alkoholiker.«

»Was bringt es mir, als Obdachloser nüchtern zu bleiben?!«

Nach ein paar Wochen des Kontaktabbruchs suchte ich ihn in einem Hotel am Rande der Stadt in der Nähe des Flughafens auf. Er schämte sich und gab zunächst vor, nicht da zu sein. Als er dann öffnete, sah ich, dass vor seinem Bett ein gutes Dutzend leere Bier- und Schnapsflaschen standen. Aschenbecher quollen über, der Spiegel war abgebrochen, Chaos überall. Er fühlte sich mir gegenüber »wie eine Ehefrau, die fremdgegangen ist«. Mit Tränen in den Augen hob sich seine Stimme um eine Oktave, und er schluchzte verzweifelt: »Ich bin am Ende meiner Kräfte! Ich kann einfach nicht mehr! Was bringt es mir, als Obdachloser nüchtern zu bleiben?! Die Leute lachen und ignorieren mich, wenn ich mit 'ner Limo auf der Domplatte sitze! Asoziale, dumme Menschen, mit denen man kein klares Wort reden kann, und keine Hoffnung, kein Sinn, keine Perspektive, da hat man irgendwann einfach keine Kraft mehr zum Leben und zur Abstinenz.«

Normativ-missionierende »Gatekeeper«

Nachdem Herr Z. sich gefangen hatte, wollte er wieder weiterkämpfen, eine Langzeittherapie machen, der Szene entkommen. Hierzu musste er allerdings an einem »Gatekeeper« vorbei, einem normativ-missionierenden Suchtberater: »Ihnen ist klar, dass Sie aber auch mit dem Rauchen aufhören müssen! Sonst werden Sie niemals Herr über Ihr eigenes Leben sein!« Ich erinnere mich noch daran, dass Herr Z. diesen Menschen von Anfang an nicht ernst nehmen konnte und auch mehrfach im Kontakt mit ihm kopfschüttelnd lachen musste. »Also kommen Sie mal, ja? Das mit dem Alkohol sehe ich ja ein, deswegen bin ich ja hier. Aber Sie können von mir jetzt nicht fordern, dass ich auch mit den Zigaretten aufhöre. Das möchte ich auch gar nicht. Wissen Sie eigentlich, wie mein Leben aussieht?!« - »Herr Z., Sie werden schon noch einsehen müssen, dass ...«

Herr Z. fühlte sich unverstanden und bevormundet und nannte diesen »Berater« scherzhaft »kleiner Napoleon«. Dennoch waren drei Termine beim »kleinen Napoleon« erforderlich, um die Zusage für die Langzeittherapie zu erhalten. Ohne meine damalige Unterstützung retrospektive zu wichtig zu nehmen, bin ich mir sicher, dass Herr Z. von sich aus nicht wieder zum »kleinen Napoleon« gegangen wäre und seine Pläne verworfen hätte.

Exemplarisch zeigte sich bei diesem Suchtberater, zusätzlich zu dessen fragwürdiger Art, dass er in keiner Weise die psychosoziale Realität von wohnungslosen Suchtkranken im Blick hatte: Da kommt ein fünfzigjähriger traumatisierter obdachloser Mann mit Psychose, der seit Jahren isoliert in Wahnsinn und Elend »watet«, aber dennoch den Mut aufbringt, sich vom Alkohol loszusagen - und der Berater berücksichtigt dessen besondere Umstände nicht und begegnet ihm belehrend. Dies macht auf ein grundlegendes Problem im Umgang mit wohnungslosen Suchtkranken aufmerksam. Hier fehlt es an Geduld, Wertschätzung, Beziehungsarbeit, aber vor allem auch an einem ausgeprägten Bewusstsein für die Lebenssituation dieses Personenkreises.

In Begleitung nahm Herr Z. die drei Termine dennoch wahr und bekam nach einigen Wochen die Zusage für die Langzeittherapie, weit weg von Köln in der schönen Eifel. Jetzt musste er nur noch bis zum Einzugstag durchhalten und abstinent bleiben.

»Da fehlt ein Baustein im System!«

Doch in den Tagen vor dem Einzug brach Herr Z. wieder ein. Zunächst verheimlichte er den Rückfall aus Scham. Dann folgte das volle Programm: Angst, Überforderung, Tränen, Suizidgedanken: Er wolle nicht mehr leben. Je näher der Termin rückte, desto schlimmer wurde alles und drohte zu kippen. Er trank weiter, musste aber nüchtern ankommen. Schließlich erfolgte eine weitere stationäre Entgiftung, und anschließend fuhr ich Herrn Z. mit dem Auto in die Klinik in der Eifel. Aus der Großstadt heraus schlängelten wir uns durch Kleinstädte, Dörfer, Wälder und Wiesen. Was für die einen die idyllische Natur darstellt, wurde für Herrn Z. ein immer angstbesetzteres Szenario. Hier gab es keine Ablenkung und kein Suchtmittel mehr. Alles war darauf ausgelegt, sich nüchtern mit den eigenen Ängsten und Traumata auseinanderzusetzen. Wir checkten ein, aßen zu Mittag und ich fuhr wieder zurück nach Köln. Auf der Rückfahrt war ich mir sicher, dass Herr Z. diese Therapie abbrechen würde. Wahrscheinlich würde er schon in der ersten Woche Panik bekommen, abhauen, mit dem Bus zum Bahnhof fahren, sich dort ein paar Bier kaufen und mit dem Zug zurück nach Köln fahren. Dort würde er dann mit einer Flasche Schnaps komplett abstürzen.

Doch es kam ganz anders: Herr Z. zog die dreimonatige stationäre Therapie komplett durch. Er rief mehrmals an und schrieb einen langen Brief. Dabei war seine größte Angst, nach seiner Rückkehr keine Perspektive zu haben. »Ich brauche eine Wohnung, eine Arbeit. Noch nicht mal eine Frau. Aber wenn ich wieder in so ein Obdachlosen-Hotel-Loch komme, dann geht alles von vorne los!« Nach der Therapie kam Herr Z. in eine Adaption, die er ebenso erfolgreich absolvierte wie ein unbezahltes Praktikum in einer Bürofirma. Besonders eine Aussage aus dem Brief ist mir im Gedächtnis geblieben, die meines Erachtens ein Kernproblem suchtkranker Wohnungsloser beschreibt: »Man zieht das alles durch - und dann?! Da fehlt ein Baustein im System, eine Anschlussperspektive!«

Nach seiner Rückkehr konnte Herr Z. in Köln keine Wohnung finden und war erneut in einem Hotel für Wohnungslose in einem Mehrbettzimmer untergekommen. Einen Platz in einer Einrichtung für trockene Alkoholiker lehnte er vehement ab und entzog sich dem Kontakt. Mir war klar, dass er wieder trinken würde, und so war es dann auch. Mit dem Rückschritt in die Obdachlosigkeit wurde er auch wieder rückfällig. Langfristig hatte sich nichts verändert, obwohl Herr Z. die Therapie und die Adaption erfolgreich absolviert hatte.

Fehlende Perspektiven

Eine erfolgreiche Suchtbehandlung basiert bekanntlich auf intrinsischer Veränderungsmotivation der abhängigen Person. Ist diese nicht vorhanden, kann sie durch entsprechende Methoden der Gesprächsführung zwar gefördert werden, doch dies setzt voraus, dass der Konsum für die Betroffenen Nachteile hat und eine Abstinenz bzw. Reduktion ihnen Vorteile bietet. Solange ein suchtmittelfreies Leben keinen Gewinn und keine Perspektiven mit sich bringt, wird ein solches für Abhängige nicht (dauerhaft) attraktiv sein und kaum bis keine Motivation geweckt werden können, um die Drogen aufzugeben. Dies ist ein zentrales und essenzielles Problem in der Sozialen Arbeit und Suchttherapie mit Klientinnen und Klienten, die nicht nur süchtig, sondern auch wohnungslos, langzeitarbeitslos, sozial isoliert und an massiven psychischen Störungen, wie z.B. schizophrenen Psychosen, erkrankt sind.

Wohnungslose und nicht wohnungslose Suchtkranke

Suchtkranke Menschen, die nicht wohnungslos sind und suchttherapeutisch behandelt werden, können oftmals eine Vielzahl von Motiven für ihre Abstinenzentscheidung artikulieren, sofern sie sich dieser bewusst sind. Meist sind das Verbesserungen bezüglich familiärer oder beruflicher Verhältnisse, wie z.B. die Rettung der Ehe, die Beziehung zu den Kindern oder der Erhalt der gut bezahlten sowie sinn- und statusgebenden Arbeit. Auch kann durch die suchtbedingten Exzesse das Mietverhältnis gefährdet sein. Belohnungen für Erfolge könnten zum Beispiel ein neues Auto sein, Reisen in ferne Länder, eine Kreuzfahrt oder ein teures Hobby. Diese Optionen haben suchtkranke Wohnungslose mit psychischer Erkrankung und inmitten von Armut und ihrem Milieu in der Regel nicht, insbesondere je älter und länger sie in der Szene unterwegs sind.

Zudem stellt sich bei Menschen wie Herrn Z. die Frage, ob ein nüchternes Leben in ihrer Situation für sie auch ein attraktiveres wäre. Sicherlich hat der Konsum erhebliche Nachteile, die Herrn Z. auch bewusst sind. Aber ohne Aussicht auf eine Wohnung, eine Arbeit, Familie und ein »gesünderes« Umfeld fehlt es einfach an Motivation, um inmitten gesellschaftlicher Exklusion und zum Teil asozialer Zustände dauerhaft glücklich abstinent zu bleiben. Wer kann denn sagen, was für jemanden wie Herrn Z. unter seinen Umständen »besser« ist: nüchtern auf der Straße seinen Traumatisierungen und dem eigenen Scheitern ins Auge zu sehen oder sich mehr oder weniger erfolgreich mit einem Suchtmittel selbst zu behandeln?

Was könnte helfen?

Vor und parallel zu der Suchtbehandlung - bei gleichzeitiger Behandlung der psychischen Erkrankung - müsste man Menschen wie Herrn Z. konkrete Inklusionsperspektiven anbieten, wie z.B. eine Wohnung oder eine respektable Arbeit, und sie damit aus diesem menschenunwürdigen Milieu herausholen. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass die Betroffenen dies auch selbst wollen. Eine solche Veränderung würde sich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nur erheblich positiv auf die psychische Verfassung vieler Betroffener auswirken, sondern auch die intrinsische Motivation erhöhen, um den Suchtmittelkonsum vielleicht vollständig aufzugeben.

Vor etwa zwei Jahren konnte Herr Z. in ein Einzelzimmer im Projekt »Hotel Plus« des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) in Köln vermittelt werden. Dort erhält er sozialpsychiatrische Unterstützung und arbeitete zeitweise bei einer Telefonseelsorge. Seine mentalen Besonderheiten und ein gewisser Alkoholkonsum werden, ohne zu werten, akzeptiert.

Das Beispiel von Herrn Z. zeigt, dass - sofern sich zum richtigen Zeitpunkt für die Betroffenen eine attraktive Perspektive eröffnet - auch für diese Klientel Hoffnung besteht.

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 155 - Heft 1/17, Januar 2017, Seite 12-15
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. April 2017

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