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STUDIE/675: Queer und schwanger - Diskriminierungserfahrungen und Verbesserungsbedarfe in der geburtshilflichen Versorgung (pro familia)


pro familia Magazin 02/2022

Queer und schwanger -
Diskriminierungserfahrungen und Verbesserungsbedarfe in der geburtshilflichen Versorgung

vom Netzwerk Queere Schwangerschaften


Schwangerschaft und Geburt werden in der Regel cisgeschlechtlichen (1) Frauen in heterosexuellen Zweierbeziehungen zugeschrieben. Dies entspricht jedoch nicht der Lebensrealität aller schwangeren Menschen: Auch lesbische, bisexuelle, trans* (2) und intergeschlechtliche (3) Menschen können Kinder bekommen. Darauf sind Institutionen der Gesundheitsversorgung häufig nicht vorbereitet.


Was bedeutet das für die gesundheitliche Versorgung queerer schwangerer Menschen? Dies haben wir, das Netzwerk Queere Schwangerschaften, in Kooperation mit dem Gunda-Werner-Institut und der Sigmund-Freud-Universität untersucht und eine quantitative Online-Befragung zu Erfahrungen queerer (4) und nicht-queerer (5) Personen mit der Gesundheitsversorgung im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt durchgeführt. Die Befragung fand 2021 statt und richtete sich an Personen, die zwischen 2016 und 2021 schwanger waren oder werden wollten. Insgesamt beteiligten sich 1.445 Personen an der Befragung (554 queer, 873 nicht-queer).

Wir haben drei Bereiche identifiziert, in denen es Verbesserungsbedarf in der geburtshilflichen Versorgung gibt: in a) der Versorgungsqualität der klinischen Geburtshilfe, in b) der Aus- und Weiterbildung der Fachkräfte und in c) der Information, Aufklärung und Repräsentation der schwangeren Personen selbst.

Die Ergebnisse und daraus abgeleiteten politische Empfehlungen stellen wir hier gekürzt dar. Die ausführlichen Ergebnisse und Empfehlungen wurden als Policy Paper durch das Gunda-Werner-Institut veröffentlicht. (6)

Versorgungsqualität in der klinischen Geburtshilfe

612 der 733 Befragten, die geboren hatten, waren zur Geburt im Krankenhaus. Deutlich weniger entbanden im Geburtshaus oder zu Hause, nämlich nur 72 beziehungsweise 49 Personen.

Fast ein Viertel aller Befragten (23 Prozent), die in einer Klinik geboren hatten, berichteten von Gewalt oder Diskriminierung während der Geburt. 16 Prozent aller Befragten waren unsicher, ob sie Gewalt erlebt hatten. Hier zeigten sich große Unterschiede zwischen cisgeschlechtlichen und trans* beziehungsweise intergeschlechtlichen Personen: 21 Prozent der cisgeschlechtlichen Personen gaben Gewalt- beziehungsweise Diskriminierungserfahrungen an, von den 26 trans* und intergeschlechtlichen Personen hingegen 54 Prozent. Deutlich seltener berichteten die Befragten von Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen bei Hausgeburten (4 Prozent) und im Geburtshaus (3 Prozent).

Die Befragungsergebnisse weisen auf eine bekannte Problematik hin: Die Ökonomisierung der klinischen Geburtshilfe führt zu Zeitdruck, Personalmangel und einer Kultur der defensiven Behandlung. Eine individuelle Betreuung schwangerer Personen ist in diesem System unmöglich und es kommt zu einer unnötig hohen Anzahl geburtshilflicher Interventionen.

Wir empfehlen daher unter anderem:

• Die Geburtshilfe aus dem Fallpauschalensystem ausgliedern und eine bedarfsgerechte Vergütung einführen.

• Die 1:1-Betreuung aller Menschen unter der Geburt durch die vollständige Finanzierung der notwendigen Personalkosten gewährleisten.

• Eine flächendeckend ausreichende sowohl ambulante als auch klinische Versorgung sicherstellen.

Diskriminierungssensible Aus- und Weiterbildung

Die befragten queeren Personen gaben signifikant häufiger als die nicht-queeren Personen an, Angst vor Diskriminierung bei Terminen mit Ärzt*innen zu haben: 45 Prozent der trans* beziehungsweise intergeschlechtlichen Personen hatte "größtenteils" Angst vor Diskriminierung, bei den cisgeschlechtlichen queeren Personen waren es 16 Prozent, bei den nicht-queeren Personen 6 Prozent. 51 Prozent der Befragten machten - unabhängig von der sexuellen Orientierung - die Erfahrung, dass Ärzt*innen automatisch davon ausgingen, dass sie heterosexuell waren. Nur bei 32 Prozent der trans* und intergeschlechtlichen Personen wurden Name, Anrede und Pronomen größtenteils richtig verwendet. Queeren Personen wird dadurch das Gefühl vermittelt, dass ihre Lebensweise in der Gesundheitsversorgung nicht vorgesehen ist und nicht respektiert wird. In medizinischen Ausbildungen kommen queere Lebensweisen nur marginalisiert vor, und es werden stark vergeschlechtlichte Vorstellungen über Reproduktion vermittelt. Dies führt dazu, dass medizinischen Fachkräften häufig inhaltliches Wissen über und Verständnis für die Lebenssituation queerer Menschen fehlen.

Wir empfehlen daher unter anderem:

• (Sexuelle und geschlechtliche) Diversität als Querschnittsthema in medizinischen und geburtshilflichen Ausbildungen verpflichtend integrieren.

• Verpflichtende Fort- und Weiterbildungsangebote für geburtshilfliches Personal (klinisch und außerklinisch) entwickeln und implementieren.

Inklusive Informationen, Aufklärung und Repräsentation

Schwangere Menschen haben einen großen Informationsbedarf zu unterschiedlichen Themenbereichen. Im Schnitt gaben die Befragten an, eher viel Aufwand betreiben zu müssen, um die für sie relevanten Informationen zu finden. Queere Personen mussten dabei signifikant mehr Aufwand betreiben als nicht-queere Menschen.

75 Prozent der nicht-queeren Personen fand, dass bei Ärzt*innen ausliegendes Material zumindest teilweise zu ihnen passte. Bei queeren cisgeschlechtlichen Personen waren es nur 52 Prozent, bei trans* beziehungsweise intergeschlechtlichen Personen sogar nur 18,5 Prozent. Fehlende Information und Repräsentation führen dazu, dass es queeren Personen an grundlegenden medizinischen und rechtlichen Informationen mangelt.

Wir empfehlen daher unter anderem:

• Eine Aufklärungskampagne zu queerer Reproduktion bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) ansiedeln.

• Förderprogramme zur Erstellung von Informationsmaterialien und Kampagnen zur Aufklärung von queeren Schwangeren initiieren.

Fazit und Ausblick

Die Ergebnisse der Studie weisen auf grundsätzliche strukturelle Probleme der Geburtshilfe hin, die alle schwangeren Menschen betreffen. Die klinische Geburtshilfe muss dringend reformiert werden. Queere - insbesondere trans* und intergeschlechtliche - Schwangere erleben in der geburtshilflichen Versorgung häufig Diskriminierung. Eine bessere Aus- und Weiterbildung medizinischen Fachpersonals sowie umfassende Aufklärung sind notwendig.

Die hier vorgestellte Studie präsentiert lediglich erste Ergebnisse zur geburtshilflichen Versorgung queerer Schwangerer. Es bedarf weiterer Forschungsprojekte zu zum Beispiel Mehrfachdiskriminierung oder Intergeschlechtlichkeit und Reproduktion - nur so können alle Bedarfe erkannt und angegangen werden. Politische Entscheidungsträger*innen müssen die dargestellten Empfehlungen unter Beteiligung der Communitys umsetzen, um gute Gesundheitsversorgung und reproduktive Selbstbestimmung für alle Menschen sicherzustellen.

Endnoten

(1) Cisgeschlechtlich: Adjektiv für Menschen, die sich ihrem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht zugehörig fühlen.

(2) Trans*: Oberbegriff für Menschen, deren gelebtes Geschlecht nicht dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht entspricht. Der Stern (*) dient als Platzhalter für unterschiedliche Selbstbezeichnungen wie transgender, transident oder transsexuell.

(3) Intergeschlechtlich: Adjektiv für Menschen, deren angeborene Geschlechtsmerkmale von der medizinisch vorgesehenen zweigeschlechtlichen Norm abweichen. Das Adjektiv dyadisch ist der Gegenbegriff und bezeichnet Menschen, deren angeborene Geschlechtsmerkmale der medizinischen Norm entsprechen.

(4) Queer: Diese Bezeichnung wird hier verwendet als Sammelbegriff für Menschen, die nicht-hetero-sexuell und/oder trans* und/oder intergeschlechtlich sind.

(5) nicht-queer: Diese Bezeichnung wird hier verwendet als Sammelbegriff für Menschen, die hetero-sexuell, cisgeschlechtlich und dyadisch sind.

(6) Abrufbar unter: https://gwi-boell.de/sites/default/files/2022-02/E-Paper%20Queer%20und%20schwanger%20Endf.pdf Das Netzwerk Queere Schwangerschaften hat sich 2020 gegründet mit dem Ziel, die Sichtbarkeit und die Gesundheitsversorgung von queeren Menschen, die schwanger sind, waren oder es werden wollen, zu verbessern.


Das Netzwerk Queere Schwangerschaften hat sich 2020 gegründet mit dem Ziel, die Sichtbarkeit und die Gesundheitsversorgung von queeren Menschen, die schwanger sind, waren oder es werden wollen, zu verbessern.

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Quelle:
pro familia Magazin 02/2022, 50. Jahrgang, Seite 22-23
Herausgeber und Redaktion:
pro familia Deutsche Gesellschaft für Familienplanung,
Sexualpädagogik und Sexualberatung e.V., Bundesverband
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Erscheinungsweise: Vierteljährlich
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Jahresabonnement: 19,50 Euro (Ausland 21,50 Euro) und einschl. MwSt.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 13. August 2022

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