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ARTIKEL/516: Sozialforschung - Wie Gesundheit Bildungswege prägt (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 138/Dezember 2012
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Wie Gesundheit Bildungswege prägt
Frühe Beeinträchtigungen können lebenslange Folgen haben

von Jianghong Li


Kurz gefasst: Bekanntermaßen sind schwierige sozioökonomische Verhältnisse in der Kindheit für den Bildungsweg ungünstig. Weniger bekannt ist der unmittelbare Zusammenhang zwischen Gesundheit und Bildungsverlauf. Eine schlechte Gesundheitssituation in der frühen Kindheit kann einen lebensprägenden negativen Einfluss auf den Bildungsverlauf haben. Interventionen im frühkindlichen Alter können dazu beitragen, den Kreislauf von ungünstiger sozialer Lage und geringen Bildungserfolgen zu durchbrechen.


Der Zusammenhang zwischen sozioökonomischer Benachteiligung in der Kindheit und geringerem Bildungserfolg im Erwachsenenalter ist gut belegt. Dass Eltern mit höherem sozioökonomischem Status die Bildungsleistungen ihrer Kinder durch ihre eigenen Ambitionen, ihr persönliches Vorbild, die kognitive Förderung im Elternhaus, den Zugang zu hochwertigen (oft gebührenpflichtigen) Schulen sowie durch das Bereitstellen von Bildungsressourcen positiv beeinflussen, ist ebenfalls bekannt, wenn auch nicht in demselben Ausmaß. Was jedoch in der umfangreichen soziologischen Literatur zu diesem Themenkomplex noch so gut wie gar nicht behandelt wurde, ist die bedeutende Rolle, die die Gesundheit als Teil des Humankapitals im Prozess des Bildungserwerbs spielt. Den folgenden Ausführungen liegt ein allgemeiner Gesundheitsbegriff zugrunde, der körperliche Gesundheit, psychische Gesundheit (seelisches oder emotionales Wohlergehen), Ernährung sowie gesundheitsbezogene Verhaltensweisen bei Eltern und Kindern umfasst.


Schwangerschaft und Geburt

Die Forschung hat überzeugend nachgewiesen, dass die Ernährung der Mutter während der Schwangerschaft eine entscheidende Rolle für die Gehirnentwicklung des Fötus spielt. Eine durch falsche Ernährung der Mutter und des Fötus verursachte intrauterine Wachstumsretardierung führt zu einer Verringerung der Gehirngröße, der Anzahl der Nervenzellen und der neuronalen Komplexität. Da ein Großteil der Gehirnentwicklung beim Menschen zwischen dem letzten Trimester der Schwangerschaft und den ersten drei Lebensjahren stattfindet, hat eine Fehlernährung in der frühen Kindheit langfristige Konsequenzen für die kognitive Entwicklung, was wiederum die Bildungsleistungen im Erwachsenenalter beeinflusst. Sozioökonomische Ungleichheiten in der Qualität der Ernährung von der Empfängnis bis ins hohe Alter finden sich sowohl in Entwicklungs- wie in Industrieländern.

Auch zwischen der psychischen Gesundheit schwangerer Frauen und der kognitiven Entwicklung ihrer Kinder gibt es einen Zusammenhang. Wir haben die Daten der Western Australian Pregnancy Cohort Study ausgewertet, bei der 2.900 Frauen in der 18. Schwangerschaftswoche sowie 2.868 Kinder zum Zeitpunkt der Geburt und in den Jahren danach (aktuell bis zum 20. Lebensjahr) beobachtet wurden. Bei einem Teil der Kohorte wurden die sozioökonomischen und gesundheitlichen Merkmale der Befragten mit ihren im Alter von 10 Jahren erzielten Testergebnissen aus den Western Australia Literacy and Numeracy Assessments abgeglichen. Die Untersuchung ergab, dass einschneidende Ereignisse im Leben der Mutter zwischen dem Zeitpunkt der Empfängnis und der 34. Schwangerschaftswoche einen langfristig negativen Effekt auf die Lese- und Schreibfähigkeiten weiblicher, nicht-indigener Kinder im Alter von 10 Jahren haben, und zwar unabhängig von Familieneinkommen, Alter der Mutter, Bildungsgrad der Mutter, Familienstruktur, Nikotinkonsum der Mutter sowie einschneidenden Ereignissen im ersten oder zehnten Lebensjahr des Kindes. Im Vergleich mit Kindern, bei deren Müttern keine einschneidenden Lebensereignisse aufgetreten waren, erzielten diejenigen, deren Mütter während der Schwangerschaft vier oder mehr solcher Ereignisse erlebt hatten, bei den landesweit durchgeführten Lese- und Schreibtests deutlich schlechtere Ergebnisse im Bereich Leseverständnis.

Einschneidende Lebensereignisse während der Schwangerschaft, etwa der Tod eines Freundes oder eines Verwandten, wirken sich besonders negativ auf die Lesekompetenz von Mädchen aus. Eine plausible Erklärung für diesen Befund könnte lauten, dass Stress während der Schwangerschaft die fetale Gehirnentwicklung stört, einschließlich der Entwicklung der stressregulierenden HPA-Achse, des limbischen Systems und des präfrontalen Kortex des Kindes, und somit langfristige Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung nach der Geburt hat. Junge, bildungsarme, geringverdienende oder alleinerziehende Mütter erlebten während der Schwangerschaft häufiger einschneidende Lebensereignisse.

Zwei größer angelegte Studien nicht-indigener, westaustralischer Kinder, die zwischen 2000 und 2007 geboren wurden und öffentliche Schulen besuchten (80.118 wurden in Mathematik geprüft, 55.240 in Leseverständnis), ergaben, dass Kinder, die voll ausgetragen wurden (mindestens 37 Schwangerschaftswochen) oder bei der Geburt einen größeren Kopfumfang hatten, im Alter von acht Jahren bessere Ergebnisse in den landesweit durchgeführten Mathematik- und Lesekompetenztests erzielten.

Außerdem hatte die Geburtsgröße einen deutlich positiveren Effekt auf die Testergebnisse von Kindern mit Müttern aus bildungsfernen Wohngegenden und von Kindern alleinerziehender Mütter.

Darüber hinaus zeigte sich, dass zweit- oder später geborene Kinder im Durchschnitt schlechtere Ergebnisse im Rechnen und Schreiben erzielten als Erstgeborene. Dieser Zusammenhang war deutlich stärker ausgeprägt bei Kindern, deren Mütter alleinerziehend waren oder in Gegenden mit geringeren Bildungsressourcen lebten. Dieser Befund steht im Einklang mit der resource dilution-Hypothese und lässt darauf schließen, dass die "Verdünnung" der elterlichen Ressourcen mit jedem weiteren Kind bei Familien aus sozioökonomisch benachteiligten Schichten besonders schnell stattfindet.

Einer auf einer Unterstichprobe der Panel Study of Income Dynamics basierenden US-Studie zufolge haben Kinder mit einem geringen Geburtsgewicht eine um 34 Prozent verminderte Wahrscheinlichkeit, im Alter von 19 Jahren die High School abzuschließen. Das gilt für alle sozioökonomischen Gruppen.


Die frühe Kindheit entscheidet über den Werdegang

Ein schlechter körperlicher Gesundheitszustand verringert die Konzentrationsfähigkeit von Kindern in der Schule. Häufige Infektionen und damit verbundene Krankenhausaufenthalte können zu Fehlzeiten in der Schule führen, die sich wiederum auf die schulischen Leistungen auswirken. Kanadische Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Kinder mit aktivitätseinschränkenden gesundheitlichen Problemen aufgrund ihrer verringerten kognitiven Funktion schlechtere schulische Leistungen erzielen.

Ein schlechter psychischer Gesundheitszustand (Unzufriedenheit und Verhaltensauffälligkeiten) kann bei Kindern zu mangelnder Lernmotivation und geringerer Konzentration im Unterricht führen. Studien mit amerikanischen und kanadischen Kindern haben ergeben, dass die Symptome einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) - eine zunehmend stärker verbreitete psychische Störung unter Kindern - mit Versetzungsgefährdung, Kriminalität, Leistungsabfall in Mathematik und Lesen sowie der Notwendigkeit sonderpädagogischer Förderung einhergehen. Darüber hinaus konnte ein Zusammenhang zwischen schlechten schulischen Leistungen und einer Vielzahl weiterer psychischer Gesundheitsprobleme im Kindesalter nachgewiesen werden.

Die Ernährung nach der Geburt ist und bleibt ein zentraler Faktor. Über ihre Verbindung zur Gehirnfunktion, zur Kognition und zum sozialen Verhalten hat sie einen Einfluss auf die schulische Leistung. Anhand von Daten aus der Western Australian Pregnancy Cohort Study konnten wir feststellen, dass zehnjährige Kinder, die als Säuglinge mindestens sechs Monate lang gestillt wurden, unabhängig vom familiären sozioökonomischen Status und vom Ausmaß der kognitiven Stimulation im Elternhaus bessere Ergebnisse in Mathematik, Lesen und Schreiben erzielten. Jungen reagieren besonders positiv auf eine längere Stillzeit. Über seine allgemeinen positiven Gesundheitseffekte hinaus kann das Stillen einen Einfluss auf die schulischen Leistungen eines Kindes ausüben, weil die Muttermilch Nährstoffe enthält, die für eine optimale Hirnentwicklung unverzichtbar sind.

Auch die Gesundheit der Eltern wirkt sich auf die Bildungsleistungen ihrer Kinder aus. Hier ist insbesondere die psychische Gesundheit der Eltern von Bedeutung, da ernsthafte körperliche Gesundheitsprobleme oft erst in einer späteren Phase des Lebensverlaufs auftreten, wenn die Kinder bereits von zu Hause ausziehen. Psychische Gesundheitsstörungen hingegen kommen in jedem Lebensabschnitt vor. Eine britische Studie hat ergeben, dass Kinder, deren Eltern unter erhöhtem psychischem Stress leiden, sowohl in ihren Kommunikations-, Sprach-, Lese- und Mathematikkompetenzen wie auch in ihrer persönlichen, sozialen und emotionalen Entwicklung zurückbleiben. Eltern mit psychischen Gesundheitsproblemen bieten ihren Kindern zu Hause seltener eine hochwertige Fürsorge und adäquate kognitive Stimulation. Eltern mit geringeren sozioökonomischen Ressourcen sind häufiger von psychischen Beschwerden betroffen.


Gesundheitsförderung kann Benachteiligung kompensieren

Soziale Benachteiligung im Kindesalter hat einen negativen Einfluss auf den späteren Bildungserfolg. Gleiches gilt für eine schlechte Gesundheit in der Kindheit. Menschen, die in Armut leben oder allgemein über geringere sozioökomische Ressourcen verfügen, sind überproportional häufig von Erkrankungen betroffen. Dies wird deutlich, wenn man sich die Ungleichheitsdimension in einigen der genannten Studien ansieht: Einschneidende Lebensereignisse treten tendenziell häufiger in den armen Bevölkerungsschichten auf. Frühgeburten oder Kinder mit niedrigem Geburtsgewicht finden sich häufiger in sozioökonomisch benachteiligten Familien. Es scheint, dass die Verdünnung elterlicher Ressourcen mit jedem weiteren Kind bei Familien aus sozioökonomisch benachteiligten Schichten besonders schnell stattfindet. Eine wichtige Konsequenz dieser Forschungsergebnisse für die Politik lautet, dass Interventionen, die auf die Verbesserung der Schwangerschaft abzielen, auch langfristige Vorteile für den Bildungserwerb mit sich brächten. In mancher Hinsicht könnten diese Vorteile für benachteiligte Mütter und Kinder besonders groß sein.

Von Armut betroffene Menschen sind somit im Hinblick auf ihre Humankapital-Akkumulation und ihre Arbeitsmarktchancen doppelt benachteiligt. Dies erzeugt einen generationenübergreifenden Teufelskreis aus Armut und mangelhafter Gesundheit.

Viele gesundheitsbezogene Probleme wie Fehlernährung, Infektionen und psychische Beschwerden lassen sich jedoch durch Interventionen verhindern. Eine britische Interventionsstudie hat gezeigt, dass die Zubereitung hochwertiger Mahlzeiten in 81 Grundschulen über einen Zeitraum von zwei Jahren zu einer signifikanten Verbesserung der schulischen Leistungen der Kinder und einem 15-prozentigen Rückgang bei den entschuldigten, wahrscheinlich krankheitsbedingten Fehlzeiten geführt hat. Einer kanadischen Studie zufolge hat eine Gesundheitsintervention über die Schulverpflegung zu signifikanten Verbesserungen in den Leistungen von Jugendlichen aus einkommensschwachen, von Ernährungsunsicherheit betroffenen Familien geführt.

Eine allgemeine, kostenlose Gesundheitsversorgung ist eine vorbeugende Intervention, die über das Potenzial verfügt, die negativen Auswirkungen der sozio-ökonomischen Benachteiligung auf Kinder und ihre Bildungsleistungen abzuschwächen. Solch ein Gesundheitssystem muss jedoch umfassend genug sein, um auch den Bedarf von Kindern und Eltern aus niedrigeren sozioökonomischen Schichten nach spezialisierter Behandlung, etwa im Bereich der psychischen Gesundheit, abzudecken. Kinder aus unteren Einkommensschichten haben einen höheren Bedarf an psychologischer Betreuung - nicht nur weil sie aufgrund ihrer Lebenssituation tendenziell einer höheren psychischen Belastung ausgesetzt sind, sondern auch, weil ihre Eltern weder über die Ressourcen noch über die erzieherische Kompetenz verfügen, ihre Kinder bei deren emotionalen und verhaltensbezogenen Problemen zu unterstützen.

Für die mangelhaften Ergebnisse im Hinblick auf die Gesundheit und die schulischen Leistungen von Kindern gibt es mehrere Ursachen. Daher müssen auch die Interventionsstrategien multidisziplinär sein. Anstatt getrennt voneinander zu arbeiten, müssen sich Gesundheits-, Sozial- und Bildungsforschung mit der Politik zusammensetzen, um gemeinsame Interventionsmaßnahmen zu entwickeln. Ein innovativer Ansatz wird derzeit in Westaustralien verfolgt, wo Wissenschaftler und Regierungsbehörden aus den Bereichen Gesundheit, Bildung, Behinderung, Kinderschutz, Jugendkriminalität und sozialer Wohnungsbau multidisziplinär zusammenarbeiten, von der Formulierung der Forschungsfragen bis hin zur Politikgestaltung und -implementierung, vereint in dem Ziel, die gesundheitlichen und sozialen Erträge für jedes Kind zu verbessern (Developmental Pathways Project in Western Australia). Ich wünsche mir, dass Wissenschaft und Politik auch andernorts einen solchen holistischen Ansatz in ihre Bemühungen zur Verbesserung der Gesundheit und des Wohlergehens von Kindern integrieren. Denn die Kinder sind unsere Zukunft.


Jianghong Li ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Projektgruppe der Präsidentin. Zuvor war sie an der Curtin University in Perth, Australien, wissenschaftliche Mitarbeiterin sowie Associate Professor am Telethon Institute for Child Health Research, University of Western Australia. Sie erforscht soziale, wirtschaftliche und kulturelle Determinanten der Gesundheit und Entwicklung von Kindern.
jianghong.li@wzb.eu


Literatur

Langridge, Amanda/Li, Jianghong/Nassar, Natasha/Stanley, Fiona: "Community-level Socioeconomic Inequalities in Infants with Poor Fetal Growth in Western Australia, 1984 to 2006". In: Annals of Epidemiology, 2011, Vol. 21, No. 7, pp. 473-80.

Li, Jianghong/Robinson, Monique/Malacova, Eva/Jacoby, Peter/Foster, Jonathon/van Eekelen, Anke A.: "Maternal Life Stress Events in Pregnancy Link to Children's School Achievement at Age 10". In: Journal of Pediatrics (in press).

Malacova, Eva/Li, Jianghong/Blair, Eve/Leonard, Helen/de Klerk, Nicholas/Stanley, Fiona: "Association of Birth Outcomes, Maternal, School and Neighbourhood Characteristics with Subsequent Numeracy Achievement". In: The American Journal of Epidemiology, 2008, Vol. 168, No. 1, pp. 21-29.

Winick Myron/Rosso Pedro: "The Effect of Severe Early Malnutrition on Cellular Growth of the Human Brain". In: Pediatrics Research, 1969, No. 3, pp. 181-184.

Oddy, Wendy H./Li, Jianghong/Zubrick, Stephen R./Whitehouse, Andrew J.O./Malacova, Eva: "Breastfeeding Duration and Academic Achievement at Ten Years". In: Pediatrics, 2011, No. 127, pp. e137-e145.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 138, Dezember 2012, Seite 13-16
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph. D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 49 10, Fax: 030/25 49 16 84
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. März 2013

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