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INTERVIEW/044: Am Lebensrand - der assistierte Suizid ...    PD Dr. med. habil. Ute Lewitzka im Gespräch (SB)


Gibt es so etwas wie eine Pflicht zu leben?

Es ist nicht erlaubt, den begleiteten Suizid zu verbieten. Aber für alle, die in der Suizidprävention arbeiten, ist das wirklich ein Problem.

Christa Schaffmann im Gespräch mit PD Dr. med. habil. Ute Lewitzka vom Universitätsklinikum Dresden - Februar 2022



Porträt von PD Dr. med. habil. Ute Lewitzka - Foto: privat

PD Dr. med. habil. Ute Lewitzka arbeitet in der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Dresden. Sie engagiert sich ehrenamtlich in der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention und ist Vorstandsvorsitzende im Werner-Felber-Institut für Suizidprävention und interdisziplinäre Forschung im Gesundheitswesen e.V.
Foto: privat

Schattenblick: Im Jahr 2020 starben in Deutschland laut Statistischem Bundesamt 9.206 Personen durch Suizid. Wie sicher sind die vorhandenen Daten, und was wissen wir über die Gesamtzahl hinaus z.B. über Gründe und Vorerkrankungen?

Ute Lewitzka: Wir haben nicht wirklich viele Daten, ausgenommen die Anzahl der Suizide. Sie werden gemeldet, weil es sich um eine nicht-natürliche Todesursache handelt, bei der jedes Mal die Staatsanwaltschaft mit eingeschaltet wird. Die Anzahl der Suizidversuche wird von uns geschätzt; sie werden in vielen Fällen zwar festgestellt aber nirgendwo erfasst oder gemeldet. Es bleibt außerdem eine Dunkelziffer, z.B. durch Suizide in Altenheimen, die nicht immer erkannt werden. Das ist kein Vorwurf. Wir müssen nur davon ausgehen, dass, wenn ein alter Mensch im Heim über Nacht eingeschlafen ist, u.U. am Morgen nicht immer untersucht wird, ob im Körper Spuren z.B. extrem vieler Schlaftabletten nachweisbar sind.

Schattenblick: Das klingt nicht nach einer grundsoliden Datenbasis. Trotzdem erklärten Psychiater zuletzt beim DGPPN-Kongress im vergangenen Herbst, 60 bis 90 Prozent aller Suizide seien auf eine psychische Erkrankung zurückzuführen.

Ute Lewitzka: Es gibt schon Möglichkeiten, auch unter Menschen, die sich in keiner psychiatrischen Einrichtung, sondern zu Hause das Leben nehmen, nachzuforschen. Wir nennen das psychologische Autopsie. Dabei wird nicht nur mit einer Person aus dem Umfeld gesprochen, sondern mit mehreren: u.a. dem Hausarzt, dem Ehepartner, der Tochter und dem Arbeitskollegen. Darüber hinaus werden persönliche Schriftstücke gesichtet sowie verschiedene Lebensbereiche abgefragt, was danach eine recht valide diagnostische Einschätzung erlaubt. Dennoch halte ich die oft genannten Zahlen zwischen 60 und 90 oder noch mehr Prozent von psychisch Kranken unter den Suizidenten für zu hoch. Trotz der durchaus aufwendigen psychologischen Autopsie bleiben Unsicherheiten, denn eine Diagnose am Verstorbenen selbst ist nicht mehr möglich.

In Deutschland haben wir aber noch ein ganz anderes Problem, bei dem ich gerade gegen Windmühlen laufe. Suizide werden bei uns in eine bestimmte Kategorie eingeordnet - die X-Kategorie aus der internationalen Klassifikation von Krankheiten, kurz ICD 10. In dieser Kategorie werden alle Suizide verschlüsselt. Auf Grund der Datenschutzgrundverordnung wird ein Teil dieser Suizide von den statistischen Landesämtern in die sog. R-Kategorie - das bedeutet "sonstige Todesursachen" - eingeordnet. Das geschieht zum Schutz des Verstorbenen, denn diese Daten sind grundsätzlich öffentlich zugänglich. Das ist vom Standpunkt des Datenschutzes nachvollziehbar, für die Forschung aber problematisch, denn es führt zu Verzerrungen, wenn wir nicht wissen, wie hoch der Anteil der Suizide unter den "sonstigen Todesursachen" tatsächlich ist. Für uns wäre es schon relevant, ob es zehn oder einhundert Prozent sind.

Schattenblick: Alle Gesetzentwürfe enthalten den Begriff freiverantwortliches Handeln. Wird das bei psychisch Kranken grundsätzlich infrage gestellt?

Ute Lewitzka: Nein. Auch ein gesunder Mensch kann u.U. nicht freiverantwortlich handeln - z.B. durch Beeinflussung durch Angehörige. Auch bei psychisch Kranken gehen wir in vielen Fällen - z.B. bei der Einwilligung in eine Operation - von einem freiverantwortlichen Handeln aus. Im Zusammenhang mit dem Suizid ist das - weil es eine unumkehrbare Handlung ist - jedoch schwieriger zu beurteilen.

Ob eine autonome Entscheidung vorliegt, muss bei jedem Suizidenten nachgefragt bzw. geprüft werden, nicht nur bei den psychisch Kranken. Ich tue mich schwer, krisenhafte Zustände immer als Krankheit abzustempeln. Manchmal handelt es sich um eine Lebenskrise, die in einigen Wochen oder Monaten nicht mehr existiert. Gerade bei psychischen Erkrankungen ist der Langzeitverlauf wichtig für die Beurteilung. In einer halben Stunde kann der beste Arzt nicht mit 100prozentiger Sicherheit entscheiden, ob sein Gegenüber freiverantwortlich handelt, ob sein Wunsch dauerhaft sein wird oder "nur" im Rahmen einer Lebenskrise besteht. Noch ein weiteres Problem: welcher Zeitpunkt ist für die freiverantwortliche Entscheidung ausschlaggebend: Der Tag, an dem der Suizident mit dem Arzt gesprochen hat oder der Tag, an dem er sich das Leben dann tatsächlich nimmt? Dafür kann es m.E. kein Gesetz geben. Wichtig ist hierbei, sehr differenziert zu beurteilen. Die Situation für Menschen mit terminalen Erkrankungen ist eine andere als die mit behandelbaren psychischen Krankheiten.

Schattenblick: Und dann gibt es ja noch eine weitere Gruppe: die, die gar nicht erkrankt sind und trotzdem sterben wollen.

Ute Lewitzka: Die müssen aus meiner Sicht nochmal anders betrachtet werden. Sie stellen die größte Herausforderung dar.

Schattenblick: Warum? Wenn jeder Mensch das Recht hat, sich das Leben zu nehmen (und das hat das BVerfG bestätigt), und wenn das ein Recht auf Hilfe beim Suizid einschließt (steht ebenfalls im Urteil), was soll ein Arzt - die Freiverantwortlichkeit vorausgesetzt - denn dann noch begutachten? Soll er dann entscheiden, dass das Leben des Suizidenten doch lebenswert ist, ihm eine Bescheinigung für einen assistierten Suizid verweigern und damit indirekt empfehlen, sich doch einfach vor die U-Bahn zu werfen? Dazu hat der Arzt aber überhaupt kein Recht. Oder wie sehen Sie das?

Ute Lewitzka: Ich habe keine saubere Lösung dafür oder nur eine, die es wieder unpraktikabel machen würde. Es ist nicht erlaubt, den begleiteten Suizid zu verbieten. Aber für alle, die in der Suizidprävention arbeiten, ist das wirklich ein Problem.

Schattenblick: Sollten die beiden Aufgaben dann mindestens voneinander getrennt werden?

Ute Lewitzka: Vielleicht wäre das eine Lösung. Durch meine klinische Arbeit begegnet mir ein solcher Zustand (d.h. ein gesunder Mensch möchte nicht mehr leben) nicht wirklich, ich gebe aber zu, dass ich eben auch durch meine "psychiatrische Brille" schaue. Es gibt einige Argumente, die dagegensprechen, dass sich ein wirklich gesunder Mensch das Leben nehmen möchte. Meist besteht ein Verlust, eine Kränkung oder eine Angst, und die sollte man zunächst erst mal besprechen können.

Schattenblick: Beschäftigen Sie sich auch damit, wie andere Länder und Kulturkreise mit dem Thema Suizid umgehen?

Ute Lewitzka: Der Blick über den Tellerrand ist uns wichtig. Wir tauschen uns mit Forschern in anderen Ländern aus. Das ist auch etwas, was uns in Sorge bringt. Dortige Erfahrungen belegen, wie eng das Recht auf den Suizid und dessen Unterstützung und das Thema "Tötung auf Verlangen" zusammenhängen. Belgien und die Niederlande machen es vor. So sind in Belgien die Fälle assistierter Suizide bei Depressiven stark angestiegen. Ich musste bei dieser Nachricht an den Fall eines schwer Depressiven denken, den ich jahrelang, auch mit experimentellen Verfahren, behandelt habe - ohne Erfolg. Und dann gab es ein persönliches Ereignis und innerhalb weniger Wochen veränderte er sich zusehends zum Positiven. Ich würde deshalb gern immer alle Optionen probieren und nicht aufgeben.

Schattenblick: Das verstehe ich aus Ihrer Perspektive. Aber der Patient hat doch auch das Recht, nichts mehr probieren zu wollen. Es ist sein Leben. Wollen Sie ihm das Recht, über dessen Fortsetzung zu entscheiden, absprechen?

Ute Lewitzka: Das ist eine sehr komplexe Frage: Gibt es so etwas wie eine Pflicht zu leben? Ich empfehle hier das Buch von Giovanni Maio "Medizin ohne Maß", in welchem er wunderbar diesen Aspekt beleuchtet. Eine andere Konstellation macht mir viel größere Sorgen: was ist, wenn ein Mensch den Wunsch nach einem assistierten Suizid geäußert hat, am Ende aber aus unterschiedlichen Gründen das Mittel nicht mehr selbstständig einnehmen kann. Soll ihm dann jemand die tödliche Injektion verabreichen und ihn ins Jenseits bringen? Wir sprechen da von Tötung auf Verlangen. Da entstehen hochproblematische Situationen, weshalb die in der Suizidprävention Tätigen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht begrüßt haben. Sie sehen besorgt schon jetzt die Sterbehilfevereine auf der Matte stehen.

Schattenblick: Und denen unterstellen Sie in jedem Fall ein Profitinteresse?

Ute Lewitzka: Diese Organisationen sind international gut vernetzt, haben aus meiner Sicht eine große Macht. Wenn der Gesetzgeber das nicht sehr klar regelt, wird es garantiert neue Klagen geben, und dann bin ich sehr gespannt, wie das Gericht darauf reagieren würde. Mich beschäftigt aber noch ein anderes Problem: Wir haben durch das Urteil jetzt die für das Gesundheitssystem kostengünstigere Lösung, denn jahrelange Psychotherapie und psychiatrische Behandlung und erst Recht der Ausbau der Palliativmedizin sind natürlich teurer als die einmalige Dosis eines zum Tod führenden Medikaments. Aber gegen diese Rechnung sträube ich mich.

Schattenblick: Allerdings hat das Verfassungsgericht sein Urteil nicht mit Blick auf das staatliche Gesundheitsbudget, sondern mit Blick auf Menschenrechte und Menschenwürde gefällt. Oder wollen Sie ihm finanzielle Motive unterstellen?

Ute Lewitzka: Das Verfassungsgericht hat keine finanziellen Interessen im Sinn. Im Gegenteil: auch hier wird ja der Schutzauftrag des Staates dokumentiert. Aber um dies zu tun ist eine bessere palliative Versorgung nötig, eine bessere Pflege in Heimen, um so den Wunsch nach einem Suizid bei vielen gar nicht erst entstehen zu lassen. Denn warum wollen z.B. alte Menschen sterben? Um ihren Angehörigen nicht zur Last zu fallen, weil sie wissen, wie "teuer" die Versorgung ist; um einer nicht-menschenwürdigen Versorgung im Alter zu entgehen. Die Lösung dieser Probleme kann aus meiner Sicht nicht darin bestehen, den assistierten Suizid zu ermöglich, sondern es muss dafür gesorgt werden, dass Menschen in Würde altern und auch sterben können. Denn das gehört zum Leben dazu.

Schattenblick: Das ist der Wunsch vieler Menschen, auch ganz unabhängig von ihrer Einstellung zum assistierten Suizid. Eine bessere Versorgung ist notwendig, wünschenswert, aber sie ist nicht die Alternative zum Recht, das eigene Leben beenden zu dürfen, warum auch immer. - Wenn alle Ärzte so denken würden wie Sie, wer könnte dann Sterbehilfe leisten?

Ute Lewitzka: Ich schätze, dass genügend Ärzte den assistierten Suizid nicht nur als Möglichkeit unterstützen, sondern dafür auch selbst zur Verfügung zu stehen werden, darunter auch Psychiater. Theoretisch müssten es gar nicht immer Ärzte sein, aber das wünschen sich halt viele Suizidenten. Auf der anderen Seite habe ich gerade von einer Patientin den Satz gehört: "Was macht es mit mir, wenn ich nicht einmal dem Arzt vertrauen kann, dass er in erster Linie mein Lebensretter ist?" Das signalisiert für mich, dass man bei verschiedenen Gruppen von Menschen mit dem Wunsch nach Suizidassistenz auch verschieden vorgehen muss. Ich kenne auch Kollegen, die sagen, die Ärzte sollten die Sterbebegleitung einschließlich Medikamentengabe besser Sterbehelfern überlassen.

Schattenblick: Also doch Sterbehilfeorganisationen? Wie sollten Menschen erfahren, wer, wo für die Sterbebegleitung zur Verfügung steht? Wenn wir an die Debatte darüber denken, was Werbung für und was Information über Schwangerschaftsabbrüche ist, dann bin ich da sehr skeptisch. Ich erwarte, dass Krankenkassen und Ärztekammern dazu auskunftsfähig und -willig sein werden.

Ute Lewitzka: Da fast alle Gesetzentwürfe eine Beratung zwingend vorsehen, wäre das auch eine mögliche Aufgabe am Ende einer Beratung. Im Übrigen sorgen genau diese Sterbehilfevereine dafür, dass dieses Wissen "bekannt" wird. Werbung ist in allen Gesetzentwürfen richtigerweise ausgeschlossen worden.

Schattenblick: Ja, aber das Beispiel beim Schwangerschafts-Abbruch hat doch gezeigt, dass Gegner von Abbrüchen jegliche Information zu unterschiedlichen Methoden, zu Risiken und über die durchführenden Kliniken als Werbung ansehen.

Ute Lewitzka: Informationen sind notwendig. Aber zu denen müssen dann auch die gehören, in denen über mögliche Risiken bei der Medikamentengabe bzw. Injektion eines todbringenden Cocktails aufgeklärt wird. Die verbreitete Vorstellung von einem ganz entspannten Einschlafen, trifft eben nicht in allen Fällen zu. Wie überall in der Medizin bleibt auch hier ein Restrisiko.

Schattenblick: Gibt es unter den vorliegenden Gesetzentwürfen für Sie einen Favoriten?

Ute Lewitzka: Angreifbar sind alle. Mein persönlicher Favorit ist der von Kirsten Kappert-Gonther (Die Grünen) und Lars Castellucci (SPD); er scheint mir der Vernünftigste zu sein.

Schattenblick: Fast alle Entwürfe verlangen eine Beratung, einige nicht aus dem Parlament stammende wollen nur dann Beratung, wenn der Suizidwillige sie selbst nachfragt. Braucht Ihres Erachtens jeder Beratung?

Ute Lewitzka: Auch an diesem Punkt würde ich differenzieren. Ich musste oft die Erfahrung machen, dass viel zu wenige Menschen ausreichend über Palliativ-Medizin informiert sind. In Fällen mit schwerer Erkrankung würde ich eine Beratung unbedingt empfehlen. Ein Palliativmediziner kann erklären, was hier möglich ist. Ein anderer umstrittener Punkt ist die Zeit, die in den unterschiedlichen Entwürfen festgesetzt wird, bis ein Betroffener tatsächlich Sterbehilfe erhält. Ich weiß, dass viele Menschen diese zu lang finden. Aber gerade bei psychisch Kranken muss ich eine lange Dauer befürworten, braucht es doch oft Wochen, bevor z.B. ein Medikament überhaupt anschlägt. Eine psychotherapeutische Behandlung dauert Monate bis Jahre. Auch bei diesem Punkt halte ich eine Differenzierung unter den Suizidenten für sinnvoll.

Schattenblick: Geben Sie der Verabschiedung des Gesetzes noch in diesem Jahr eine Chance?

Ute Lewitzka: Nicht mehr vor der Sommerpause, aber das würde ich mir auch gar nicht wünschen, denn wir brauchen unbedingt noch Zeit für einen Diskurs über unterschiedliche Sichtweisen sowie unter den betroffenen Berufsgruppen - den Medizinern, den Psychiatern, den Juristen, Psychologen, Soziologen - als Anstoß für sinnvolle Korrekturen und Kompromisse zur Reduzierung von Entwürfen. Eine Verabschiedung im späten Herbst kann ich mir jedoch vorstellen.


Über die Autorin:

Christa Schaffmann ist Diplomjournalistin und arbeitet seit zehn Jahren als freie Autorin und PR-Beraterin, nachdem sie zehn Jahre Chefredakteurin von Report Psychologie, der Fach- und Verbandszeitschrift des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen, war.

Einen einleitenden Text zum Sachstand sowie weitere Beiträge der Autorin zum Thema "Assistierter Suizid" in Form von Gesprächen mit Expert*Innen verschiedener Berufs- und Interessengruppen sind im Schattenblick unter dem kategorischen Titel "Am Lebensrand - der assistierte Suizid ..." zu finden unter:

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veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 173 vom 9. April 2022


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