Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → REDAKTION


BEITRAG/005: Die Entsorgungsgesellschaft - es kostet ja nicht viel ... Teil 2 (SB)



Sterbefasten - Teil 2

Das Angenehme dieser Welt ...

Das Angenehme dieser Welt hab' ich genossen,
Die Jugendstunden sind, wie lang! wie lang! verflossen,
April und Mai und Julius sind ferne,
Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne!

Johann Christian Friedrich Hölderlin 1806/1811

Es gibt immer mehr alte Menschen und es gibt immer mehr Menschen, die allein und einsam sind. Die kommende Flut der Betagten und Alten, die betreut werden müssen oder einen Pflegebedarf haben, steigt. Und die Kosten, um ein Altern in Würde, d.h. gut eingebettet in die Familie und die Gesellschaft und mit angemessener medizinischer Betreuung, für alle zu gewährleisten, wachsen ins Unermessliche.

Viele Familienstrukturen sind Bündnisse auf Zeit. Oftmals müssen beide Lebenspartner arbeiten, um für den Unterhalt aufzukommen. Da ist kein Platz in den Wohnungen und keine Zeit, sich nebenher auch noch um die alten Eltern oder Großeltern zu kümmern. Ein Platz im Pflegeheim ist teuer und wird trotz des im November von Bundestag und Bundesrat verabschiedeten Angehörigen-Entlastungsgesetz zur Deckelung der Kosten zahlreiche Familien in die Armut stürzen.

Unter diesen Voraussetzungen ist es nur allzu verständlich, daß viele alte Menschen mit ihrem Schicksal hadern. Wer will schon zwangsumgesiedelt werden in ein Heim, wer kann den Gebrechen und zunehmenden Einschränkungen des Alters heutzutage mit Zuversicht und der Gewissheit ins Auge schauen, daß es Menschen gibt, die sich liebevoll um sie kümmern werden? Die Aussichten, daß sich die sozialen Verhältnisse für alle, die nicht mehr angemessen zum Bruttosozialprodukt beitragen können, die arm, einsam und ausgegrenzt sind und dazu auch noch ihrer eigenen Familie auf der Tasche liegen, zum Positiven verändern lassen, sind in einer Welt, die ausschließlich am Profit orientiert ist, geradezu vernichtend.

Alpträume von einsamen Stunden in einem Heim, das über unzureichendes Personal verfügt, von Stunden, in denen man eingenäßt oder mit Schmerzen in seinem Bett ausharren muß, weil keiner Zeit hat, rechtzeitig auf die Notklingel zu reagieren, von Nächten, die nicht enden wollen und Hoffnungen auf ein freundliches Wort oder jemanden, der kurz einmal verweilt um zuzuhören, die sich niemals erfüllen. Im Angesicht solcher Schrecken, die sich täglich in deutschen Pflegeheimen abspielen, oder der Befürchtung, die eigene Familie in den Ruin zu treiben, wer wollte sich nicht locken lassen von den Sirenenrufen, die auch in Deutschland immer lauter werden und einen leichten und würdevollen Tod versprechen?


Sterbefasten paßt zum Zeitgeist und kostet nicht viel...

Das Angebot liegt vor und heißt "Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit" (FVNF) oder kurz "Sterbefasten".

Der rechtliche und der ethische Weg sind gebahnt, das offizielle Plazet der Ärzteschaft und des Deutschen Ethikrats liegen vor und die Palliativmedizin ist dabei, diese Art des Sterbens in ihr reguläres Betreuungsprogramm mit aufzunehmen.

Wenn man sich Informationen zum freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF), der zunehmend in das Bewußtsein der Gesellschaft rückt, besorgt, so erfährt man aus zahlreichen Quellen, daß das Sterbefasten von vielen Menschen und insbesondere Pflegeprofis als sanfte Art bezeichnet wird, aus dem Leben zu scheiden. Es sei ein Weg, selbstbestimmt und unter Erhaltung der Würde den Zeitpunkt seines Todes selbst festzulegen.

Schon aus dem Altertum ist diese Art, selbstbestimmt zu sterben, überliefert. Es wird dem griechischen Philosophen Demokrit, der um 460 v. Chr. geboren wurde, zugeschrieben, daß er am Ende seines Lebens - je nach Quelle mit 90 oder aber auch mit über 100 Jahren - aufgehört habe, zu essen und zu trinken. Der Legende nach sei seine Schwester mit dem Wunsch an ihn herangetreten, doch noch wieder etwas zu essen, damit sein Tod nicht an einem Feiertag einträte. Er soll daraufhin einen Löffel Honig zu sich genommen haben - andere Quellen berichten, er habe lediglich an einem Löffel mit Honig geschnuppert - und sei dann einen Tag später verstorben.

Dieses Beispiel aus dem alten Griechenland ist natürlich hervorragend dafür geeignet, eine Lanze für das Sterbefasten zu brechen. Es zeigt die Größe, die Willensstärke und die Würde eines Menschen, der bis zum letzten Tag seines Lebens noch über soviel Kontrolle und Selbstbestimmung verfügt, daß er den Tod um einige Stunden hinauszuschieben vermag.

Zu den propagierten Vorteilen des Sterbefastens wird gezählt:

  • Sterbefasten wird nicht mehr als Selbstmord gewertet, sondern - und das gilt jetzt auch für Deutschland - als ganz eigener Weg zu sterben, der auf dem Totenschein dem "Natürlichen Tod" zugerechnet wird.
  • Man kann das Sterbefasten innerhalb der ersten vier Tage in der Regel noch ohne große Folgen abbrechen.
  • Ein Mensch, der sich für das Sterbefasten entscheidet, hat Zeit, von den Verwandten und Bekannten in Ruhe Abschied zu nehmen und wichtige Dinge noch zu klären. Umgekehrt besteht auch für Angehörige die Möglichkeit, Kontakt aufzunehmen und Unerledigtes zum Abschluß zu bringen.
  • Sterbefasten ist eine sanfte Art, aus dem Leben zu scheiden. Durch das zunehmende Nierenversagen wird man schläfrig und kann dann friedlich in den Tod hinübergleiten.
  • Probleme wie Durst können durch eine gute Mundpflege praktisch ausgeschlossen werden.

Pflegeprofis in der Schweiz sind der Meinung, daß sich meist willensstarke, gut organisierte und besonnene Menschen für das Sterbefasten entscheiden, die sich die Sache reiflich überlegt haben. Es geht, wie immer wieder ausdrücklich betont wird, um Autonomie und Selbstgestaltungswillen. Der Körper, der ja Hunger und Durst oder aber Appetit signalisiert, muß durch den Verstand bezwungen werden. "Man kann es nicht aus einer Laune heraus tun", sagt auch der Schweizer Forscher Prof. Dr. André Fringer, der sich seit vielen Jahren mit dem Thema Sterbefasten in der Schweiz beschäftigt, und gerade deshalb passe das Sterbefasten zum Zeitgeist. [1]

Ein weiteres Argument pro Sterbefasten führt die Trauer- und Sterbebegleiterin Christiane zur Nieden in einem Interview aus, das Werner Huemer von Thanatos-TV im Sommer 2019 mit ihr geführt hat. In dem Gespräch geht es unter anderem um das Sterbefasten ihrer 88jährigen Mutter:

Und das finde ich auch so schön an dieser Art des Sterbens: Es kostet nicht viel. Es kostet nur meine Zeit. Und die Zeit ist wertvoll. Verstehen Sie, ich würde mir dann frei nehmen.
Wir sagen auch den Leuten, wenn ihr jemanden begleitet, nehmt Euch diese 14 Tage Urlaub. Das Sterben, wenn man sagt: "Nee, das will ich nicht, meine Mutter soll ins Heim", dann muß man die eventuell über Jahre besuchen und leidet unter der Situation, in der sie dort ist, wo sie unglücklich ist, weil sie nicht selbstbestimmt sein kann. Auch nicht selbstbestimmt essen und aufstehen und sich anziehen und was immer ...
Also, diese Zeit, wenn man sagt: "Das dauert so lange das Sterben". Was sind 14 Tage auf 88 Jahre? Nix - und die sich freizunehmen für die Mutter, das finde ich wichtig und finde ich das letzte große Geschenk, was man machen kann. [2]

Sicherlich ohne es zu beabsichtigen, nennt Christiane zur Nieden hier eines der wesentlichen Argumente, die aus ganz anderen Gründen als sozialen für eine Kultur des Sterbefastens sprechen könnte: "Es kostet nicht viel."

In einem gesellschaftlichen System und einer Zeit, in der auch sämtliche Bereiche der Medizin, die Krankenhäuser, die ärztliche Versorgung und natürlich auch die Pflege am Lebensende, ökonomischen Zwängen unterliegen, kann das ein schlagendes Argument sein, zumal es sich bei der Hochleistungsmedizin am Lebensende um die teuerste Medizin überhaupt handelt. Was die Versorgung todkranker und sterbender Menschen in den Krankenhäusern betrifft, geht es dabei um dreistellige Milliardenbeträge pro Jahr. [3]

Eine "normale" Palliativbetreuung zu Hause mit Hilfe eines Pflegeteams und eines Palliativmediziners, die je nach Bedarf ein bis mehrmals wöchentlich den betreuenden Angehörigen zur Seite stehen, kostet im Durchschnitt ca. 220 Euro pro Tag, eine Intensivbeatmung zu Hause bis zu 900 Euro pro Tag.

Da erscheint ein Sterben innerhalb einer absehbaren Frist von sieben Tagen bis wenigen Wochen, das ohne teure Krankenhausaufenthalte und aufwendige Therapien auskommt und lediglich einige Mittel zur Linderung der auftretenden Symptome benötigt, aus ökonomischer Sicht mehr als attraktiv.

Dabei sind die Argumente, die die Autonomie und den Selbstgestaltungswillen eines Menschen, der sich dazu entscheidet, sein Leben mit Hilfe des Sterbefastens zu beenden, in den Vordergrund rücken, durchaus fragwürdig. In dem Moment nämlich, in dem das Sterbefasten nicht nur legalisiert, sondern auch als gesellschaftlich geachteter und ethisch gangbarer Weg, aus dem Leben zu scheiden, anerkannt ist, werden dem Mißbrauch unter den vorherrschenden Verhältnissen Tor und Tür geöffnet.

Anhaltspunkte dafür, daß es sich hierbei nicht nur um eine finstere Zukunftsvision handelt, liefern erste Ergebnisse einer Schweizer Studie, die in der Herbstausgabe 3/2019 der "Zeitschrift für medizinische Ethik" publiziert wurden. [4]


Erste empirische Daten zum Sterbefasten aus der Schweiz

Die standardisierte Gesundheitsbefragung, die pflegewissenschaftliche Erkenntnisse über die Betroffenen, den Verlauf und die Begleitung beim freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit liefert, ergab, daß von den 627 in der Studie berücksichtigten Personen, die ihr Leben durch den FVNF vorzeitig beendet haben, 28,9% zwar an Altersgebrechen, darüber hinaus aber an keinen schweren Erkrankungen litten.

Bei etwa der Hälfte aller Personen beeinflussten physische (z.B. geringe Lebensqualität 56,3%, Leiden ohne Aussicht auf Verbesserung 54,8%) und psychische Beweggründe (z.B. Müdigkeit / Erschöpfung 61%) den Entscheid zum FVNF. Als soziale Einflussfaktoren zeigten sich 'Angst vor einem Abhängigkeitsverhältnis' (59,5%) mit dem miteinhergehenden 'Verlust der Autonomie' (57,1%) als entscheidender Aspekt. Als spirituelle Faktoren wurden 'aufkommende Lebensmüdigkeit' (56,9%) als auch die 'Sinnlosigkeit des Lebens' (50,6%) angegeben.

Auch Einsamkeit (39,7%) und der Wunsch, der Familie nicht zur Last fallen zu wollen (57,1%), wurden genannt.

Bei den Gesprächen, bei denen es darum ging, das Leben vorzeitig zu beenden und die Option des Sterbefastens zu erwägen, waren laut Auswertung der Studie nur 92,8% der betroffenen Personen selbst beteiligt, in der Gruppe der demenziell erkrankten Personen war dieser Anteil sogar noch geringer 84,4%. In konkreten Zahlen bedeutet das, daß mit 0,8%, das sind 5 von den 627 Menschen, die medizinisch und pflegerisch begleitet durch das Sterbefasten ums Leben kamen, nie über die Entscheidung zu einem "Freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit" gesprochen wurde.

Und ebenso zweifelhaft ist der Fakt, daß bei 10% der untersuchten Fälle eine kontinuierliche Sedierung notwendig war, womit den Betroffenen nicht nur ihre Selbstbestimmung, sondern auch die Möglichkeit, ihre Entscheidung für das Sterbefasten noch rechtzeitig zu revidieren, genommen wurde.

Es gibt also genügend Anhaltspunkte, die es nahelegen, sich mit dem Thema Sterbefasten noch einmal gründlich und jenseits der Propaganda und der Euphorie, die mit der Bekanntmachung und Verbreitung dieser angeblich würdevollen Methode, kostengünstig, unkompliziert und selbstbestimmt aus dem Leben zu scheiden, einhergeht, auseinanderzusetzen.


Fußnoten:

[1] Luzerner Zeitung, 31.3.2017
"STERBEN: Fasten bis zum Tod", von Melissa Müller und Christian Peter Meier
https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/luzern/sterben-fasten-bis-zum-tod-ld.97025

[2] Thanatos-TV: Der Weg des Sterbefastens | Christiane zur Nieden im Gespräch mit Werner Huemer
https://youtu.be/ztwvI-8qYyM?t=1516

[3] Sterben verboten - Wenn die Medizin den Tod hinauszögert | WDR Dokumentation
https://www.youtube.com/watch?v=Sr9qGJCJFqk

[4] Zeitschrift für medizinische Ethik 65 (2019), S. 237-248
"Pflegewissenschaftliche Erkenntnisse über die Betroffenen, den Verlauf und die Begleitung beim freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit aus einer standardisierten schweizerischen Gesundheitsbefragung"
Autoren: Sabrina Stängle / Wilfried Schnepp / Daniel Büche / Christian Häuptle / André Fringer

27. Dezember 2019


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang