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FORSCHUNG/154: Forschungen zur Psychopharmakaverordnung (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 132 - Heft 2, April 2011
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Forschungen zur Psychopharmakaverordnung
Welche Notwendigkeiten ergeben sich aus der Perspektive der Nutzerinnen und Nutzer?

Von Jasna Russo


Im Rahmen der Veranstaltung der Berliner Gesellschaft für Soziale Psychiatrie "BGSP-Pilotuntersuchung zur Psychopharmakaverordnung im außerklinischen Bereich(1) - Ergebnisse und Schlussfolgerungen" hielt die Autorin am 27.10.2010 im Berliner Pinellodrom folgenden Vortrag.


Ich freue mich über die Möglichkeit, heute hier reden zu können als Vertreterin der Körper, in welchen alle diese Substanzen landen, und möchte gleich zu Beginn daran erinnern, dass wir, die Psychopharmaka einnehmen oder eingenommen haben, viel mehr als Körper sind und viel mehr der Forschung zu Psychopharmaka und zu ihrer Verordnung anzubieten haben als anonymisierte Daten darüber, welches Geschlecht oder welche Diagnose wir haben und wie viele unterschiedliche Substanzen uns verschrieben werden. Das ist keine Kritik an der hier dargestellten Pilotstudie, sondern ein etwas grober und direkter Einstieg in mein heutiges Thema.


Zur Rolle des Erfahrungswissens in psychiatrischer Forschung

Psychiatrie ist eine Disziplin, die traditionell auf keinem Dialog mit den Objekten ihres Interesses basiert, was meiner Meinung nach bis heute zu fatalen Konsequenzen führt. Hierzu ein Zitat der englischen psychiatriebetroffenen Forscherin Jan Wallcraft: "Traditionell wurden Nutzer psychiatrischer Angebote aus der Produktion des Wissens, welches in unserer Behandlung benutzt wird, ausgeschlossen. Viele von uns haben unter dem Missverständnis unserer Bedürfnisse gelitten, seitens der Menschen, denen gelehrt wurde, uns per Definition als zu keinem rationalen Denken fähig anzusehen."(2)

Der Wert und die Notwendigkeit der Mitarbeit derjenigen, die mit den unterschiedlichen Forschungsthemen direkte Erfahrungen gemacht haben, bekommt immer mehr Anerkennung in Gesundheits-, sozialer und auch in psychiatrischer Forschung. Dieser Prozess ist unterschiedlich schnell in diversen westlichen Ländern, man kann aber sagen, dass er in Großbritannien am weitesten gekommen ist und sich gewissermaßen schon etabliert hat. Es gibt diverse Möglichkeiten, wie Psychiatriebetroffene in der Forschung mitwirken können, und unterschiedliche Aufgabenbereiche, die sie übernehmen können. Aus den gesammelten Erfahrungswerten diverser Projekte heraus bilden sich auch unterschiedliche Sichtweisen auf die Qualität und auf den Sinn solcher Partnerschaften sowie auf die hervorgebrachten Leistungen. Was klar bleibt, ist, dass diese Entwicklungen nichts mehr mit der uns traditionell zugewiesenen, reduzierten Rolle als "Subjekte der Forschung" zu tun haben und dass ein neues Verständnis der Rollenaufteilung im Forschungsprozess beginnt. Die Mitarbeit von Betroffenen an der Forschung ist Ausdruck von Anerkennung des Erfahrungswissens als eine legitime Wissensressource, und die Projekte unterscheiden sich voneinander im Stellenwert und dem Raum, der dieser Wissensquelle eingeräumt wird.

Meine Mitarbeit an der BGSP-Pilotstudie zur Medikamentenverordnung war für mich eine Sondererfahrung: Einerseits war ich das einzig bezahlte Teammitglied, andererseits begrenzte sich meine Rolle in erster Linie auf eine technische, nämlich der statistischen Analyse. Da diese Untersuchung ohnehin einen rein quantitativen Charakter hatte, bot sich in unserem kleinen multidisziplinären Team insgesamt kein wirklicher Rahmen für inhaltliche Diskussionen an. Es war meine erste derartige Arbeitserfahrung in Deutschland, und so freut es mich umso mehr, dass ich hier eingeladen wurde, um über meine 'technische' Rolle hinaus die Perspektive der Betroffenen auf weitere Forschungen zur Medikamentenverordnung zu erläutern.

Bevor ich auf diese Perspektive näher eingehe, zitiere ich nochmals Jan Wallcraft zu den Beweggründen unserer Forschungsarbeiten: "In der Regel versuchen wir, der Psychiatrie das Geheimnisvolle zu nehmen und herauszufinden, was Psychiater wissen, aber auch wo die Grenzen ihres Wissens sind. [...] Klinische Untersuchungsmethoden werden von psychiatriebetroffenen Forschern kritisiert, weil sie die Art der möglichen Fragen und der benutzten Beurteilungskriterien begrenzen."(3)

Vor einem Monat nahm ich in Griechenland an der Konferenz des Europäischen Netzwerks der Psychiatriebetroffenen teil, auf welcher ein Psychologieprofessor der Universität in Thessaloniki, die Gastgeber dieser Konferenz war, unter anderem in seinem Vortrag sagte: "Wir streben die Abschaffung des psychiatrischen Monologs an, mit all seinen Konsequenzen."(4)


Erfahrungswissen - Psychopharmaka

Was die Psychopharmakaeinnahme betrifft, nehme ich mir die Freiheit zu behaupten, dass nur diejenigen, die diese Substanzen eine Zeit lang eingenommen haben, das letzte Wort in allen Diskussionen über ihre Wirkungen haben sollten. Das hört sich möglicherweise sehr vereinfacht an, aber ich bin davon überzeugt, dass das Erfahrungswissen der Betroffenen zu Psychopharmaka mit keinem anderen Wissen darüber ersetzt werden kann und deshalb einen zentralen Stellenwert in jeglicher Psychopharmakaforschung bekommen muss. Ebenso in anderen Bereichen und mit anderem Wissen, welches nicht lernbar ist, sondern daraus resultiert - wer wir sind und was uns widerfuhr.

Ärzte und Wissenschaftler können sicherlich viel darüber berichten, wie eine Geburt abläuft und welche physiologischen, psychologischen und sonstigen Prozesse involviert sind. Dennoch haben nur Frauen, die diese Erfahrung gemacht haben, Zugang zu einem Wissen darüber, die kein anderer haben kann.

Auch wenn direkte Erfahrung als Wissensform anerkannt wird, stellt sich die Frage nach dem Stellenwert dieser Wissensressource in der Medizin, insbesondere in der Psychiatrie. Eine mögliche Haltung dazu, die ich persönlich teile, zeigt die folgende Aussage vom Psychiater Peter Stastny: "Mit Bestimmtheit kann ich nur sagen, dass Psychiater und andere 'psychosozial Berufene' nie das letzte Wort haben dürfen. Die letztendliche Autorität liegt an den Orten der eigenen Erfahrung; sie stammt von Erinnerungen, Geschichten und Erklärungen vieler Millionen Menschen, die diese Erfahrungen gemacht haben. [...] Vielleicht hilft es, den Spiegel gegen sich selbst zu kehren, um die Leute gegenüber besser zu erkennen. In dem Augenblick, wo wir sie so sehen, wie sie da sind, können wir wieder daran denken, Beziehungen zueinander aufzubauen. Erst dann können wir auf eine Welt zuarbeiten, deren Inhalte von allen Menschen bestimmt werden und nicht nur von denen, die nur ihre Aufgaben erfüllen."(5)

Erfahrungswissen über Psychopharmaka ermöglicht Einblicke in die komplexen und vielfältigen Auswirkungen dieser Substanzen, die mit keinem fachlichen Wissen begriffen werden können. Die Tragweite bei Psychopharmakaeinnahme ist komplizierter und umfassender als das, was mit den Konzepten ihrer Wirkungen auf den Körper und auf die Psyche erklärt werden kann. Psychopharmaka wirken auf unsere Gesamtbiografien, auf unser Sozial- und Arbeitsleben, sie wirken auf die Fähigkeit zu lieben, darauf, was wir uns im Leben trauen; sie haben Auswirkungen auf die Größe unserer Wunschvorstellungen sowie auf unsere Kapazitäten, sich in diese Richtung zu bewegen. Eine vollständige und verantwortungsvolle Forschung müsste an der Entwicklung der Methoden und Konzepte arbeiten, die sie in die Lage versetzen, diese Felder mit einzubeziehen. Auch dann, wenn sie nur schwer messbar sind oder sich nicht direkt beobachten lassen.

Hierzu Ausschnitte aus zwei Erfahrungsberichten:

"Hinter meiner neuroleptischen Mauer vegetiere ich vor mich hin und bin ausgesperrt aus der Welt und aus dem Leben. Die reale Welt ist weiter von mir weg als Pluto von der Sonne. Meine eigene heimliche Welt ist auch weg - diese letzte Zuflucht habe ich mir mit Haldol zerstört. Dies ist nicht mein Leben. Das bin ich nicht. Genauso gut könnte ich tot sein."(6)

"Moditen(7) in mir tragend, sehnte ich mich nach irgendeinem Gefühl, wenn auch dem schlimmsten. Ich sehnte mich danach, dass die Mauer zwischen mir und der Welt zerbrach, dass die Watte, die mich einhüllte, alles entrückte und weich machte, verschwand, so dass Eindrücke mich wieder als Eindrücke erreichen konnten und nicht nur als Erinnerungen an sie. Meine Entfernung von allem war unerträglich, die Wirklichkeit besänftigt und irgendwie abgeflacht, die Tage waren unendlich lang. Und ich hätte alles getan, damit das aufhörte, doch ich hatte keine Kraft etwas zu tun."(8)

Wenn Sie zwischen diesen Zeilen Suizidalität vernahmen, haben Sie recht - in beiden Fällen. Eine von uns beiden Autorinnen beschreibt auch ihren Suizidversuch im darauf folgenden Text, aber ich werde jetzt die Ebene kurz wechseln, um auch den Sinn von Zahlen und quantitativer Forschung aufzuzeigen, obwohl es hierbei eigentlich um keine Forschungsergebnisse geht, sondern um die offiziellen Daten des Schwedischen Nationalausschusses für Gesundheit und Sozialwesen aus dem Jahr 2007. Die Veröffentlichung dieser Daten in 2009(9) durchbricht die übliche Praxis der Nichtdokumentation und Nichtbekanntmachung von Informationen über die Verbreitung der Psychopharmakaeinnahme bei den Menschen, die Selbsttötung begehen.

Von insgesamt 1126 Personen, die sich in Schweden im Jahr 2007 das Leben nahmen, wurden 64 Prozent im Jahr ihres Suizides Psychopharmaka ärztlich verordnet. Die toxikologische Analyse bei den 1109 Personen, die sich selbst töteten, wies in 52 Prozent der Fälle Spuren von Psychopharmaka nach.(10) Der Bericht gibt darüber hinaus auch einen Überblick über die Geschlechtsunterschiede, die verordneten Medikamentengruppen und einiges mehr. Der Autor geht davon aus, dass keine großen Unterschiede zur Situation in anderen westlichen Ländern zu erwarten sind. Er beschließt, dass der hohe Prozentsatz der Menschen, die im Jahre ihres Suizides Psychopharmaka verordnet bekamen, klar dafür spricht, dass Psychopharmaka nicht als Lösung betrachtet werden können und es in diesem Sinne nicht mehr, sondern weniger davon geben sollte.(11)

Ich habe mich dazu entschieden, dieses Thema anzureißen, weil ich der Meinung bin, dass Suizid eines der am wenigsten dokumentierten und erforschten Aspekte der Psychopharmakabehandlung bleibt und immer noch fast ausschließlich im Kontext der "psychischen Krankheit" und mit der individuellen Pathologie erklärt wird. Das Erfahrungswissen der Betroffenen über Suizidalität findet auch in diversen Präventionsprogrammen keinen Platz. Unsere Mitarbeit betrachte ich als unersetzlich für die Entwicklung einer Wissenschaft, welcher andere Werte als die traditionell psychiatrischen zugrunde liegen.


Psychopharmaka in der personenzentrierten Hilfe - Ergebnisse einer betroffenenkontrollierten Untersuchung

Um die Perspektive der Nutzerinnen und Nutzer im komplementär-psychiatrischen Bereich zu öffnen, werde ich mich auf einige Forschungsergebnisse einer umfangreichen Evaluation der personenzentrierten Hilfe beziehen, an welcher ich in Berlin von 2006 bis 2009 mitarbeitete. Diese war bundesweit die erste Evaluation im Psychiatriebereich, die mit dem betroffenenkontrollierten Forschungsansatz durchgeführt wurde. Obwohl der Schwerpunkt des "Evaluations- und Praxisprojektes: Personenzentrierte Hilfe aus Sicht von Nutzer/innen" nicht bei der Medikamentenvergabe lag, da Psychopharmaka einen konstitutiven Bestandteil der angebotenen Hilfe darstellen, haben wir uns auch dieses Themas sowohl mit Nutzerinnen und Nutzern als auch mit professionell Tätigen im ambulanten Bereich angenommen.

Diese Untersuchung wurde, ebenso wie die BGSP-Pilotstudie zur Medikamentenverordnung, im Berliner ambulanten psychiatrischen Bereich durchgeführt und auch bei den Trägern, die unter dem Dach des PARITÄTISCHEN organisiert sind. Es handelt sich hierbei um eine sehr komplexe Studie, die in drei Hauptphasen durchgeführt wurde und in deren Rahmen insgesamt drei Projektberichte(12) und eine Videodokumentation(13) entstanden sind. Ich werde mich hier nur auf eine sehr kleine Auswahl der Ergebnisse begrenzen, die sich auf das Thema Psychopharmaka beziehen(14):

- 75 Prozent der befragten Nutzer/-innen (n=518) haben angegeben, dass sie Psychopharmaka nehmen. Wir gehen davon aus, dass diese Zahl noch größer ist, da wir in einigen Einrichtungen nach der Bedeutung des Wortes Psychopharmaka im Fragebogen gefragt wurden.

- 39 Prozent der befragten Nutzer/-innen (n=492) wurden über die Wirkungsweisen und Risiken von Psychopharmaka ausreichend aufgeklärt (Selbsteinschätzung).

- 45 Prozent der befragten Nutzer/-innen (n=492) denken, dass Psychopharmaka ihnen helfen.

- Es besteht ein klarer Zusammenhang zwischen der Einstellung der Nutzer/-innen zu Psychopharmaka und der Frage, ob sie sich frei fühlen, mit den Betreuern darüber zu reden: Nutzer, welche der Meinung sind, dass Psychopharmaka ihnen helfen, fühlen sich auch häufiger frei, mit den Betreuern über dieses Thema zu sprechen, im Gegensatz zu den Nutzern, die eine negative Einstellung zu Psychopharmaka haben (p=.000**).

In ihren Antworten auf die offene Frage zur Gesamtmeinung über die Hilfe thematisierte die Mehrheit der befragten Nutzer/-innen Psychopharmaka. Aus einigen Antworten wird klar, dass sie sich zur Psychopharmakaeinnahme auch im ambulanten Bereich gezwungen fühlen können. Hierzu zwei Antworten aus dem Fragebogen:

"Ich befürchte, dass ich keine Hilfsangebote der Fachkräfte mehr erhalte, wenn ich meine Medikamente absetze. Dann werde ich wieder zur Medikamenteneinnahme gezwungen, wie schon so oft!"

"Wenn ich Medikamente nicht nehme, wird meine Wohnung gekündigt."

Nach der Evaluation befragten wir im Rahmen dieses Projektes auch Mitarbeiter/-innen in Einrichtungen der therapeutischen Hilfe unter anderem auch zu Psychopharmaka. Hier einige Ergebnisse aus den 25 Einzelinterviews und vier Teamgesprächen(15):

- Bei der Frage zum Informationsstand haben über ein Drittel der befragten Mitarbeiter/-innen geantwortet, dass sie sich nicht ausreichend über die Wirkungsweisen von Psychopharmaka informiert fühlen. Einige sagten, dass sie sich die Informationen entweder selbst beschaffen oder im Austausch mit den Klientinnen und Klienten.

- Nur wenige Mitarbeiter/-innen haben eine kritische Haltung gegenüber Psychopharmaka.

- Der Großteil hält sich bei ihrem Umgang mit diesem Thema an die Vorgaben der Ärzte. In manchen Einrichtungen teilen die Mitarbeiter den Nutzer/-innen die Psychopharmaka ein.

- Die Bereitschaft, die Klienten beim Reduzieren oder Absetzen zu unterstützen, gestaltet sich sehr individuell. Viele Mitarbeiter/-innen äußerten, dass das Absetzen oder Reduzieren zwar theoretisch möglich ist, in der Praxis aber nur sehr selten unterstützt wird.

Und noch zwei Zitate aus den Teamgesprächen(16):

"Die Gefahr vielleicht oder der Denkanstoß für uns jetzt als Einrichtung [ist], dass man natürlich schon dazu neigt, einen Zustand so zu lassen, wenn er so relativ angenehm ist. Also zu sagen - gut, derjenige ist ein bisschen gedädscht und kommt nicht mehr so richtig auf die Beine, aber wenigstens dreht er nicht durch oder macht keinen großen Ärger [...] Also, dass man sich da gemütlich einrichtet und zu wenig dahinter her ist."

"[m]ir geht es auch so, dass ich mich da hinter den Ärzten verstecke. [...] dass ich auch nicht unzufrieden bin, wenn die Gruppe nicht gesprengt wird, jetzt mal im Extremfall. Also, dass ich das nicht hinterfrage, 'nimmst du nicht vielleicht zu viele Medikamente', wenn einer sehr gedämpft ist oder so. [...] Was mich nicht ganz froh macht. Aber es erleichtert die Arbeit."

Die Ergebnisse dieses Projektes zeigten deutlich, wie viele Themen aus dem Alltag der therapeutischen Hilfe untersucht werden könnten. Der Informationsstand und die tatsächlichen Wahlmöglichkeiten der Nutzer/-innen in Bezug auf die Einnahme von Psychopharmaka bleiben dabei sehr zentrale Themen.

Regina Bellion schreibt: "Etwas Lauwarmes, das halbwegs nach geregeltem Tagesablauf aussieht, kann nicht mein Leben sein. Ich will kein Leben auf Sparflamme."(17)

Diese Beschreibung fasst sehr gut die Eindrücke zusammen, die ich in Heimen, Übergangswohnheimen, therapeutischen WGs und Beschäftigungstagesstätten in Berlin im Laufe meiner dreijährigen Forschungsarbeit zur personenzentrierten Hilfe sammelte. Die zentrale und dominante Rolle von Psychopharmaka war im größten Teil dieser Einrichtungen nicht zu übersehen. Gleichzeitig habe ich schnell verstanden, dass dieses Thema nicht zur Tagesordnung gehört. Weder mit den Nutzern noch mit den Professionellen.


Schlussfolgerungen für weitere Forschungen

Die Ergebnisse der BGSP-Pilotstudie zur Medikamentenverordnung werfen viel mehr Fragen auf, als dass sie Antworten anbieten können. Ich wünsche mir weitere Forschungen, die den Mut haben, sich komplexeren Fragen anzunehmen und die unterschiedlichen Perspektiven aufzumachen. Wenn die Perspektive derjenigen, in deren Körper all diese Substanzen landen, ernsthaft zu Wort kommen soll, kann ich mir keine Studie ohne eine substanzielle Mitwirkung von Betroffenen vorstellen. Mit substanzieller Mitwirkung meine ich die Mitarbeit von Psychiatriebetroffenen in allen Aufgabenbereichen - von der Fragestellung, der Methodenentwicklung bis zur Analyse und Berichterstellung.

Partnerschaftliche Arbeiten sind jedoch nicht einfach und können nur dann produktiv werden, wenn ein ehrliches Interesse und die Bereitschaft zu kollegialer Arbeit besteht sowie Respekt und Transparenz über unterschiedliche Standpunkte. In diesem Sinne möchte ich nicht uneingeschränkt für partnerschaftliche Forschungsarbeiten zu Psychopharmaka werben, nehme mir aber die Freiheit, zu behaupten, dass den weiteren Forschungen, die ohne uns gemacht werden, immer ein wesentlicher Teil fehlen wird, auch wenn sie in besten Absichten durchgeführt werden. Die Betroffenenperspektive in die Forschung mit einzubeziehen bedeutet, mit uns zusammenarbeiten zu wollen und unserem Wissen einen Stellenwert in der Wissenschaft zu erlauben.

Zum Schluss noch zwei Zitate, von einem Psychiater und einem
Betroffenen, die beide leider nicht mehr leben:

"Diese psychopharmakologischen Begrenzungen unserer Fähigkeiten, vollständige Mediziner zu sein, begrenzen auch unseren intellektuellen Horizont. Wir bemühen uns nicht mehr darum, den gesamten Menschen in seinem sozialen Kontext zu verstehen, sondern sind dazu da, die Neurotransmitter unserer Patienten auszurichten. Das Problem ist, dass es sehr schwierig ist, eine Beziehung zu einem Neurotransmitter zu haben, wie auch immer seine Konfiguration auszusehen vermag."(18)

"Die Unterstützung wird nicht von den Leuten kommen, die uns für krank erklärt haben. Sie muss bei denen gesucht werden, die uns mit anderen Augen sehen, die eine ehrliche Wertschätzung für uns empfinden und ein wirkliches Interesse an uns haben."(19)


Jasna Russo ist Diplom-Psychologin und freiberuflich tätig in den Bereichen Forschung und Fortbildung.
E-Mail-Kontakt: jasnarusso@yahoo.com


Anmerkungen:

1) Vgl. Berg, R./Burian, R./Delcamp, A./Reumschüssel-Wienert, C./Russo, J.: Medikamentenverordnung in der ambulanten psychiatrischen Versorgung in Berlin. In: Soziale Psychiatrie 4/2010, S. 44-46.

2) Wallcraft, J. (2009): From activist to researcher and part-way back. In: Sweeney, A./Beresford, P./Faulkner, A./Nettle, M./Rose, D. (Hrsg.): This is Survivor Research. Ross-on-Wye: PCCS Books, S. 133.

3) Wallcraft, J. (2007): Betroffenenkontrollierte Forschung zur Untermauerung alternativer Ansätze. Die Rolle von Forschung im psychosozialen System. In: Lehmann, P./Stastny, P. (Hrsg.): Statt Psychiatrie 2. Berlin: Antipsychiatrieverlag, S. 360.

4) Shulkes, D./ Donskoy , A.L.: "Determing Our Own Future: The way forward for all European users and survivors of psychiatry", A report of the 6th Congress of European Network of (ex) Users and Survivors of Psychiatry (ENUSP) 28.09.-01.10.2010, Thessaloniki, Greece. S. 145, download vom www.enusp.org

5) Stastny, P. (1993): Persönliche Beweggründe für antipsychiatrisches Handeln. In: Kempker, K./Lehmann, P. (Hrsg.): Statt Psychiatrie. Berlin: Antipsychiatrieverlag, S. 406.

6) Bellion, R. (2002): Nach dem Absetzen fangen die Schwierigkeiten erst an. In: Lehmann, P. (Hrsg.): Psychopharmaka absetzen. Berlin: Antipsychiatrieverlag, S. 304.

7) In Deutschland unter den Handelsnamen Dapotum oder Lyogen zu finden; Wirkstoff: Fluphenazin.

8) Russo, J. (2002): Was, wenn ich nicht mehr schlafe. In: Lehmann, P. (Hrsg.): Psychopharmaka absetzen. Berlin: Antipsychiatrieverlag, S. 54.

9) Larsson, J. (2009): Psychiatric drugs & suicide in Sweden 2007. A report based on data from the National Board of Health and Welfare. Internet:
http://www.theoneclickgroup.co.uk/documents/ME-CFS_docs/Psychiatric%20Drugs%20&%20Suicide,%20Sweden%202007.pdf

10) Vgl. Larsson, J. (2009), S. 2.

11) Vgl. Larsson, J. (2009) S. 25.

12) Lorenz, A./Russo, J./Scheibe, F. (2007): Aus eigener Sicht. Erfahrungen von Nutzer/innen mit der Hilfe. Berlin: Für alle Fälle e.V. (erhältlich im Referat für Psychiatrie beim PARITÄTISCHEN, Berlin).
Russo, J./Scheibe, F. (2008): Sicht der Mitarbeiter/innen. Zwischenbericht (Download von www.paritaet-berlin.de).
Russo, J./Scheibe, F./Hamilton, S. (2009): Versuch einer Einmischung. Bericht der Praxisarbeit. Berlin: Für alle Fälle e.V. (erhältlich im Referat für Psychiatrie beim PARITÄTISCHEN, Berlin).

13) Auf Augenhöhe. Beteiligung von Nutzer/innen an der Hilfe. Synopsis Film Berlin, 2008.

14) Vgl. Lorenz, A./Russo, J./Scheibe, F. (2007), S. 95-100.

15) Vgl. Russo, J./Scheibe, F. (2008), S. 22-26.

16) Russo, J./Scheibe, F. (2008), S. 54.

17) Bellion, R. (2002), S. 305.

18) Mosher, L. (1998): Letter of Resignation from the American Psychiatric Association. Internet: www.moshersoteria.com;
deutsche Übersetzung unter http://www.psychiatriegespraech.de/texte/pol_001.php

19) Redig, E. (2002): Ein mentaler Kampf. Wie ich Psychopharmaka abgesetzt habe. In: Lehmann, P. (Hrsg.): Psychopharmaka absetzen. Berlin: Antipsychiatrieverlag, S. 320.


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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 132 - Heft 2, April 2011, Seite 40 - 43
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der
Redaktion
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Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
Bezugspreis: Einzelheft 10,- Euro
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Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juni 2011