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ARTIKEL/393: Entstehung psychischer Erkrankungen in der Arbeitswelt (spw)


spw - Ausgabe 3/2010 - Heft 178
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Entstehung psychischer Erkrankungen in der Arbeitswelt

Von Thomas Bär


Zusammenfassung

Jährlich erkrankt knapp ein Drittel der deutschen Bevölkerung an einer psychischen Störung. Die Zahl der Krankschreibungen hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Arbeitnehmer sind gehäuft im Dienstleistungssektor aufgrund von psychischen Erkrankungen arbeitsunfähig, insbesondere im Gesundheits- und Sozialwesen, im Erziehungs- und Unterrichtswesen oder in der Telekommunikation. Dies kann als Ausdruck des Wandels der modernen Arbeitswelt interpretiert werden. Der Dienstleistungssektor gewinnt immer mehr an Bedeutung, was in der Arbeitswelt zu einer Zunahme der psychomentalen Belastungen und einer Abnahme der körperlichen Belastungen führt.

In dem folgenden Artikel wird zunächst eine Übersicht über die Bedeutung psychischer Erkrankungen bei betrieblichen Fehltagen gegeben. Im Anschluss werden zunächst der theoretische Hintergrund der Entstehung psychischer Erkrankungen und anschließend die diesbezüglichen Risiken der Arbeitswelt skizziert. Hieraus leiten sich Ansatzpunkte für präventive Maßnahmen oder für die humanere Gestaltung der Arbeitsprozesse ab.

Zunahme Psychischer Erkrankungen bei betrieblichen Fehltagen

Eine Übersichtsstudie der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) ergab, dass bei Fehltagen der Anteil psychischer Erkrankungen in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen hat(1). Die Gesundheitsreporte der Krankenkassen beschreiben dabei einen seit den 1980er Jahren bekannten Trend. Seit 1990 haben sich diese Krankschreibungen sogar fast verdoppelt. So gingen im Jahr 2008 knapp elf Prozent aller Fehltage auf psychische Erkrankungen zurück. Psychische Erkrankungen sind vor allem aufgrund der Länge der Krankschreibung von Relevanz (durchschnittlich ca. drei bis sechs Wochen im Vergleich zu sechs bis sieben Tagen bei Erkrankungen des Atmungs- oder Verdauungssystems).

Einige Fakten sprechen dafür, dass die Bedeutung psychischer Erkrankungen bei den AU-Daten eher noch unterschätzt wird. So werden nur die Erkrankungen berücksichtigt, die zu einer Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit führen. Auch das häufig diskutierte Phänomen des Präsentismus (d. h. Erscheinen auf der Arbeit trotz Krankheit) kann in diese Richtung interpretiert werden. Darüber hinaus existiert ein substanzieller Anteil "unspezifischer Diagnosen", die bei den AU-Statistiken nicht zu den psychischen Erkrankungen gezählt werden, wie beispielsweise "Burnout" oder weitere unter "somatischen Erkrankungen" kodierte Beschwerden (z. B. Rückenschmerzen), bei denen psychische Anteile in Entstehung und Aufrechterhaltung von zentraler Bedeutung sind.

Seelische Erkrankungen treten gehäuft in Dienstleistungsbranchen auf. Alle Krankenkassen verzeichneten bei den Beschäftigten im Sozial- und Gesundheitswesen, in der Telekommunikation und in öffentlichen Verwaltungen überdurchschnittlich viele Fehltage aufgrund psychischer Störungen. Eine besonders belastete Berufsgruppe sind Telefonisten, die in etwa doppelt so häufig, aufgrund psychischer Erkrankungen, ausfallen wie der Durchschnitt. Dagegen ist der Anteil der psychischen Erkrankungen am Krankenstand in klassischen Arbeiterberufen, wie beispielsweise in der Land- und Forstwirtschaft oder im Baugewerbe, ein Drittel bis um die Hälfte niedriger als im Durchschnitt aller Erwerbstätigen.

Entstehung psychischer Erkrankungen

In einer repräsentativen epidemiologischen Studie, dem Bundesgesundheitssurvey(2) wird die Jahresprävalenz psychischer Erkrankungen auf 32,1 Prozent der Bevölkerung hochgerechnet. Diese Zahl klingt zunächst recht hoch, erklärt sich jedoch mit Blick auf die Vielfältigkeit der Erscheinungsformen (z. B. Depression, Posttraumatische Störungen, Alkoholabhängigkeit, Magersucht, Zwangserkrankung, Panikstörung, Cannabismissbrauch, Schizophrenie oder sexuelle Funktionsstörungen, um nur einige zu nennen). Die epidemiologische Prävalenz, d. h. die Häufigkeit der Erkrankung in der Allgemeinbevölkerung, ist dabei nicht gleichbedeutend mit der Bedeutung einer Erkrankung im AU-Wesen, da die Einschränkung der Arbeitsfähigkeit für die psychischen Erkrankungsformen unterschiedlich ausfällt. Einige psychische Erkrankungen, wie Blut-/Spritzenphobien oder sexuelle Funktionsstörungen, treten zwar relativ häufig auf, führen jedoch nur in Ausnahmefällen zu Beeinträchtigungen der Arbeitsfähigkeit. Andere Erkrankungen, wie z. B. Schizophrenien, führen häufig zu starken Beeinträchtigungen der Arbeitsfähigkeit, treten jedoch - zumindest bei erwerbstätigen Personen - vergleichsweise selten auf.

Von besonderer Bedeutung im AU-Wesen sind Depressionen. Diese sind über alle Krankenkassen hinweg die häufigste Form psychischer Erkrankungen bei betrieblichen Fehltagen. Danach folgen Belastungsreaktionen/Anpassungsstörungen, somatoforme Störungen (d. h. psychische Symptome, Befürchtungen oder Schmerzen, für die keine organische Ursache vorliegt) und unspezifisch-neurotische Diagnosen. Die Erhöhung der Fallzahlen psychischer Erkrankungen zeigt sich im AU-Geschehen relativ gleichmäßig bei den meisten Störungsbildern und ist somit nicht auf die Zunahme eines spezifischen Krankheitsbildes im Speziellen zurückzuführen.

Depressionen treten auch in der Allgemeinbevölkerung relativ häufig auf. Das Risiko, einmal im Leben an einer Depression zu erkranken, betrifft in Deutschland, den USA und Europa 16 bis 20 Prozent der Bevölkerung. Pro Jahr sind in Deutschland ca. vier Millionen Menschen bzw. 8,3 Prozent der Bevölkerung betroffen. Depressionen sind neben der Häufigkeit, vor allem aufgrund der langen Krankschreibungsdauer von Bedeutung bei betrieblichen Fehltagen. Die durchschnittliche AU-Dauer einer depressiven Erkrankung ist bei allen Krankenkassen deutlich länger als bei den nächsthäufigen psychischen Erkrankungsformen. Depressiv Erkrankte fallen durchschnittlich 35 bis 50 Tage lang aus. Studien und klinische Erfahrungen bestätigen, dass eine depressive Episode mit deutlichen Funktionseinschränkungen (eingeschränkte Konzentrationsfähigkeit und Flexibilität der Denkprozesse) assoziiert ist, was die Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit erklärt.

Die gängigen Entstehungsmodelle psychischer Erkrankungen gehen allgemein von einem "biopsychosozialen" Modell aus. Das heißt, dass die Wechselwirkung aus biologischen, psychischen und sozialen Faktoren von Bedeutung ist. Für die einzelnen psychischen Erkrankungen liegen spezifische Befunde zur jeweiligen Krankheitspathogenese vor, deren Darstellung den Rahmen dieser Ausführungen sprengen würde. Exemplarisch seinen an dieser Stelle Depressionen kurz skizziert.

Die Entstehung von Depressionen wird oft durch Stress oder belastende Ereignisse ausgelöst. Solche psychischen Belastungen treten beispielsweise durch körperliche Krankheiten, kritische Lebensereignisse (d. h. bedeutsame Ereignisse, die eine Veränderung der Lebenssituation mit sich bringen) oder andere chronische Belastungen auf, wie z. B. konflikthafte Beziehungskonstellationen, Arbeitsbelastungen oder allgemein schwierige Lebensbedingungen. So weiß man, dass alleinstehende, geschiedene und verwitwete Menschen ein mehr als doppelt so hohes Erkrankungsrisiko wie verheiratete haben. Ebenso ist die Prävalenz in unteren sozialen Schichten in etwa doppelt so hoch wie in hohen sozialen Schichten.

Nicht jeder, der diesen Risikofaktoren ausgesetzt ist, entwickelt eine Depression. Als "moderierende Einflüsse" spielen u. a. Persönlichkeitszüge, psychodynamisch begründete Konflikte, frühere traumatische Erfahrungen, Attributionsstile oder soziale Fertigkeiten eine Rolle. Beispielsweise treten Depressionen gehäuft bei Menschen mit hohem Leistungsanspruch und ausgeprägtem Ordnungssinn auf ("Typus melancholicus"). "Soziale Ressourcen", also sozialer Rückhalt oder zufriedenstellende Beziehungen, können das Auftreten von Depressionen unwahrscheinlicher machen. Letztlich geht man davon aus, dass auch eine genetische Vulnerabilität hierbei zumindest bei bestimmten Formen der Depression eine Rolle spielt.

Aus den Ausführungen wird deutlich, wie schwer es ist, Größe und Tragweite des Einflusses der Arbeitsbedingungen auf die Entstehung psychischer Erkrankungen abzuschätzen, da die unterschiedlichen Aspekte natürlich zusammenhängen und sich nicht sauber voneinander trennen lassen. Beispielsweise kann eine Scheidung ("kritisches Lebensereignis") im Vorfeld mit beruflichen Belastungen assoziiert sein.

Aktuell liegen auch keine epidemiologischen Studien vor, die diese Frage weiterführend klären könnten. Allerdings gibt es eine ganze Reihe von Studien, die den Einfluss der genannten Belastungen - auch der Arbeitsbedingungen - auf das gehäufte Auftreten von psychischen Erkrankungen, i. S. v. Depressionen, nachweisen.

Psychologische Belastungen in der Arbeitswelt

Zur Präzisierung des Hintergrunds von psychischen Arbeitsbelastungen haben sich zwei Modelle bewährt, das "Anforderungs-Kontroll-Modell" und das "Modell beruflicher Gratifikationskrisen"(3). Nach dem "Anforderungs-Kontroll-Modell" aus der Arbeitspsychologie ist "Stress" bzw. eine hohe psychische Belastung zum einen dann zu erwarten, wenn hohe Anforderungen in Verbindung mit geringer Kontrolle über die Arbeitstätigkeiten auftreten. Hohe Anforderungen an Arbeitstätigkeiten zeigen sich beispielsweise in der Komplexität der Aufgaben, dem Ausmaß an Verantwortung, das an die Tätigkeiten gekoppelt ist, oder physischen Beanspruchungen. Die Kontrolle über die Arbeitstätigkeiten bezieht sich vor allem auf den Entscheidungsspielraum bezüglich der Tätigkeiten und Tätigkeitsabläufe, z. B. in der Möglichkeit, Teilaufgaben zu delegieren. Dies kann sowohl subjektiv (durch die Einschätzung der betroffenen Person) als auch objektiv festgestellt werden. Hierbei spielt auch der Zeitdruck, also die Anzahl der Anforderungen in einem bestimmten Zeitintervall, eine Rolle. Sozialer Rückhalt im Arbeitsteam kann sich in diesem Sinne protektiv gegen hohe psychische Belastungen auswirken.

Das "Modell beruflicher Gratifikationskrisen" postuliert, dass ein Ungleichgewicht zwischen beruflicher Leistung oder "Verausgabung" und als Gegenwert erhaltener "Belohnung" zu Stressreaktionen führt. Dabei ist mit "Belohnung" nicht nur das Gehalt, sondern vor allem auch menschliche Wertschätzung, beruflicher Status, Aufstiegschancen, Arbeitsplatzsicherheit und eine ausbildungsadäquate Beschäftigung gemeint. Die berufliche "Verausgabung" umfasst neben objektiven Merkmalen (z. B. Häufung von Überstunden) auch subjektive Merkmale, wie beispielsweise überperfektionistische Persönlichkeitszüge. Ausgeprägte Stressreaktionen sind nach diesem Modell dort zu erwarten, wo einer anhaltend hohen Verausgabung keine angemessenen Belohnungen gegenüberstehen, also in Situationen, die für Erwerbstätige durch hohe "Kosten" bei niedriger "Gratifikation" gekennzeichnet sind ("Gratifikationskrisen"). Im Modell werden drei Bedingungen spezifiziert, unter denen dies mit hoher Wahrscheinlichkeit der Fall ist: erstens bei fehlender Arbeitsplatzalternative (z. B. aufgrund geringer Qualifikation oder eingeschränkter Mobilität), zweitens bei ungünstigen Arbeitsverträgen, die aus strategischen Gründen über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten werden und drittens bei Vorliegen eines spezifischen psychischen Bewältigungsmusters angesichts von Leistungssituationen, das durch eine distanzlose, übersteigerte Verausgabungsneigung gekennzeichnet ist. Beispielsweise führt eine hohe persönliche Disposition zu beruflicher "Verausgabung" bei gleichzeitiger geringer Gratifikation, z. B. durch Gehalt, Wertschätzung, Arbeitsplatzsicherheit oder berufliche Perspektiven, mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zur Entwicklung psychischer Erkrankungen.

Beide Modelle ergänzen sich. Der Einfluss der Modelle auf die Entwicklung psychosomatischer Beschwerden konnte in metaanalytischen Studien nachgewiesen werden. Dabei zeigen einige Studien auch einen längsschnittlichen Einfluss der Arbeitsbedingungen, d. h. auf die Entwicklung von depressiven Erkrankungen zu einem späteren Zeitpunkt. In einer von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin geförderten Studie(4) konnte gezeigt werden, dass eine nach objektiven Kriterien festgestellte höhere Arbeitsintensität (z. B. Zeitdruck, Störungen des Arbeitsablaufs, wenig Möglichkeiten, Aufgaben an andere zu delegieren) mit einem höheren Risiko einer Depression bzw. Depressivität einhergeht. Nicht der objektiv festgestellte Entscheidungsspielraum der Angestellten, sondern die subjektive Wahrnehmung des Entscheidungsspielraums spielte zusätzlich eine Rolle. In ähnlicher Weise ergab eine schwedische Studie(5) einen Einfluss ungünstiger (objektiv festgestellter) Arbeitsabläufe und mangelnder sozialer Unterstützung von Kollegen und Vorgesetzten auf die Häufigkeit von Depressionen, der objektive Entscheidungsspielraum einer Person jedoch nicht.

Die erhöhten Krankschreibungen aufgrund psychischer Erkrankungen in den oben aufgeführten Berufssparten lassen sich durchaus in Bezug auf die arbeitspsychologischen Modelle interpretieren. So sind viele Berufe vor allem im Dienstleistungssektor, beispielsweise Angestellte im Gesundheitswesen, Wächter/Aufseher, Kontrolleure oder Telefonisten, vergleichsweise hohen psychischen Beanspruchungen ausgesetzt. Mitarbeiter in Callcentern müssen sich z. B. im Minutentakt mit unzufriedenen Kunden auseinandersetzen. Dabei bestehen oft nur geringe Möglichkeiten der Einflussnahme auf diese Tätigkeitsabläufe. Neben dieser hohen emotionalen Belastung werden von den Mitarbeitern u. a. hohe kommunikative Kompetenzen und Konfliktbewältigungsmöglichkeiten abverlangt, die jedoch bei der Vorbereitung auf den Beruf nur selten hinreichend trainiert werden. Daraus ergibt sich bei den Betroffenen ein Stress- oder Hilflosigkeitserleben mit den bekannten psychischen Folgen.

Letztlich führt die Veränderung der Arbeitswelt zu einer Veränderung der Arbeitsbedingungen, die die psychischen Belastungen ansteigen lassen. Im Sinne des "Anforderungs-Kontroll-Modells" hat in den letzten Jahren die zunehmende Flexibilisierung von Produktionsabläufen zu einer Arbeitsintensivierung geführt, die eine erhöhte Flexibilität erfordert. Im Sinne des Modells beruflicher Gratifikationskrisen hat die Zunahme unsicherer Beschäftigungsverhältnisse (v. a. Leih- und Zeitarbeit, befristete Arbeitsverträge) und eine wachsende Arbeitsplatzunsicherheit zu einer Abnahme der Gratifikation durch die Arbeitstätigkeiten geführt. Eine Befragung der Techniker Krankenkasse in ihrem Gesundheitsreport 2009 bestätigt dies zumindest indirekt. In der Zeitarbeitsbranche Berichteten die Angestellten über Unzufriedenheit mit ihrem Einkommen, der Arbeitsplatzsicherheit und den beruflichen Aufstiegschancen.

Psychische Belastungen durch Arbeitslosigkeit

Mehr noch als berufliche Belastungen führt jedoch der Verlust des Arbeitsplatzes zu psychischen Erkrankungen. Arbeitslose sind drei- bis viermal so häufig aufgrund psychischer Erkrankungen krankgeschrieben wie Erwerbstätige. Gmünder Ersatzkasse und BKK berichten, dass Arbeitslose besonders häufig wegen Alkoholabhängigkeit und Depressionen in Krankenhäusern behandelt werden. Auch die Verordnungen von Antidepressiva sind bei Arbeitslosen um ein Vielfaches im Vergleich zur erwerbstätigen Bevölkerung erhöht. Dies wird durch epidemiologische Studien gestützt. Zahlreiche Studien zeigen mindestens doppelt so häufig psychische Erkrankungen wie bei Erwerbstätigen.

Eine Metaanalyse von 87 längsschnittlichen Studien konnte zeigen, dass die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf die Entwicklung psychischer Erkrankungen deutlich stärker ausgeprägt sind als der Effekt, dass psychisch kranke Menschen ihre Arbeit verlieren. Arbeitslosigkeit kann somit als gravierendes Risiko für die psychische Gesundheit angesehen werden(6).

Etablierte Modelle der Arbeitspsychologie führen den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und der Entstehung psychischer Erkrankungen auf die Deprivation von Grundbedürfnissen, d. h. den Verlust der Zeitstruktur des Tages, Verlust von Sozialkontakten, kollektiven Zielsetzungen, Sozialprestige und allgemeinem Aktivitätsverlust, zurück(7). Diese Aspekte können auch im Sinne des oben skizzierten Modells zur Entstehung von Depressionen als chronische Belastungen bzw. belastende Lebensumstände gesehen werden. Eine arbeitspsychologische Metaanalyse verweist auf die zusätzliche Bedeutung von "Inkongruenzerleben" bei Arbeitslosen(8). Die meisten arbeitslosen Menschen zeigen demnach in ihrem persönlichen Wertesystem ein ähnlich hohes Commitment bezüglich einer Arbeitstätigkeit wie Erwerbstätige. Aus klinisch-psychologischer Forschung ist bekannt, dass solche "Inkongruenzen", d. h. chronische psychische Konflikte, auf Dauer ein hohes Risiko für die Entwicklung psychischer Erkrankungen darstellen.

Gesundheitspolitische Schlussfolgerungen

Die arbeitspsychologischen Modelle bieten in Kombination mit den empirischen Befunden zunächst einen guten theoretischen Rahmen für die Optimierung der objektiven Arbeitsbedingungen. Die Erkenntnisse zur humanen Arbeitsgestaltung, die bezogen auf die industrielle Massenfertigung erarbeitet wurden und dort meist bei der Gestaltung der Arbeitsprozesse berücksichtigt werden, sind im Dienstleistungssektor bisher nur unzureichend angekommen. Die Arbeitsbedingungen müssen auch bei Dienstleistungen so gestaltet werden, dass Arbeitsstakkato und Überforderung vermieden werden. Ziel ist es außerdem, dass der einzelne mehr Kontrolle über seine Arbeitsabläufe zurückgewinnt. Dies kann einerseits durch eine Optimierung der Arbeitsabläufe (z. B. mehr Entscheidungsspielraum bei bestimmten Tätigkeitsabläufen, Möglichkeiten zur zeitlichen Einteilung oder Delegation von Teiltätigkeiten) oder andererseits durch Trainings zur Optimierung des subjektiven Kontrollerlebens erfolgen. Bei Letzterem ist zu bedenken, dass viele Menschen bestimmte objektiv mögliche Entlastungsmöglichkeiten nicht nutzen oder sich beispielsweise durch perfektionistische oder rigide Grundhaltungen ihren Handlungsspielraum einschränken.

Um anhaltendes Überforderungserleben zu vermeiden, sollten speziell bei Dienstleistungsberufen psychosoziale Fertigkeiten bei der Vorbereitung auf die moderne Arbeitswelt eine höhere Bedeutung erhalten. Unabhängig von der oben beschriebenen speziellen Belastung von Callcentertätigkeiten könnte dies beispielsweise zur Folge haben, dass sich sehr ängstliche Menschen trauen, objektiv vorhandene Möglichkeiten, um sich zu entlasten, zu nutzen.

Gezielte Resilienztrainings, die verstärkt über die allgemeinen Angebote "Entspannung" oder "Stressbewältigung" hinausgehen, sollten in diesbezüglichen "Hochrisikobranchen" angeboten werden. Hierdurch sollte es den Mitarbeitern ermöglicht werden, subjektive Handlungsspielräume zu erweitern oder mehr Distanz zu der beruflichen (Über-)Verausgabung erlangen zu können, wovon letztlich eine Besserung des Wohlbefindens für den Einzelnen und eine Verringerung des Krankenstands zu erwarten ist. Beim Engagement für betriebliche Gesundheitsförderung sind somit auch die Krankenkassen gefordert.

Die zunehmende Unsicherheit der Arbeitsplätze und die zunehmend unsicheren Beschäftigungsverhältnisse erfordern darüber hinaus zumindest einen Ausgleich durch andere Gratifikationen, sei es durch eine Kultur der Wertschätzung, einen speziellen finanziellen Ausgleich oder andere Formen der Anerkennung der beruflichen Leistung. Dies ist vor allem eine Aufgabe für die Arbeitgeber, die hierbei ihrer Verantwortung für die humane Gestaltung der Arbeitsbedingungen gerecht werden sollten.

Der betrieblichen oder kassengeförderten Prävention bzw. Organisationsentwicklung sind jedoch Grenzen gesetzt, weil maßgebliche Risiken für die psychische Gesundheit der Erwerbstätigen auch außerhalb des beruflichen Bereichs liegen können. Daher kommt es auch darauf an, die Grenzen betrieblicher Gesundheitsförderung zu erkennen und psychisch kranken Menschen einen niedrigschwelligen Zugang zum Gesundheitssystem anzubieten.

Notwendig ist auch, die Kooperation zwischen Krankenkassen und der Agentur für Arbeit auszubauen, um Beziehern von Arbeitslosengeld mehr Optionen zu bieten, ihre psychische Gesundheit zu erhalten bzw. ihnen einen niedrigschwelligen Zugang zum Versorgungssystem zu eröffnen, wenn psychische Erkrankungen akut drohen bzw. eingetreten sind. Die aktuellen Maßnahmen für Arbeitslose sollten aus den o. a. Befunden Konsequenzen ziehen. Notwendig sind neben den üblichen Angeboten (v. a. Bewerbungstrainings) auch psychologische Inhalte, die auf eine Bearbeitung der Zeitstruktur, der Sozialkontakte, Tagesaktivitäten oder Sinnfindung abzielen, vor allem bei Langzeitarbeitslosen. Speziell bei schwer vermittelbaren Langzeitarbeitslosen muss der Anteil von Inhalten, die darauf abzielen, die Menschen zu motivieren, sich bei der Jobsuche noch mehr anzustrengen, individuell justiert werden, da damit implizit das Commitment für eine Erwerbstätigkeit gestärkt wird und sich dadurch die Inkongruenz mit der aktuellen Arbeitslosigkeit mit den bekannten psychischen Folgen verstärkt.

Dr. Thomas Bär ist Wissenschaftlicher Referent der Bundespsychotherapeutenkammer

ANMERKUNGEN:

(1) http://www2.bptk.de/uploads/psychische_erkrankungen_im_fokus_der_berichte_der_krankenkassen.pdf

(2) Wittchen H.U. & Jacobi F. (2001). Die Versorgungssituation psychischer Störungen in Deutschland. Bundesgesundheitsbl Gesundheitsforsch Gesundheitsschutz 44:993-1000.

(3) Siegrist J. (2008). Chronic psychosocial stress at work and risk of depression: evidence from prospective studies. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 258 Suppl 5, 115 119.

(4) Rau R., Morling K. & Rösler U. (2010). Is there a relationship between major depression and both objective assessed and perceived job demand and job control? Work Stress, 24, 1-18.

(5) Waldenström K., Ahlberg G., Bergman P., Forsell Y., Stoetzer U., Waldenström M. & Lundberg I. (2008). Externally assessed psychosocial work characteristics and diagnoses of anxiety and depression. Occup Environ Med 65:90 97.

(6) Paul K.I. & Moser K. (2009). Unemployment impairs mental health: Meta-analyses. J Voc Behav 74 264 82.

(7) Jahoda M. (1982). Employment and unemployment: A social-psychological analysis. Cambridge, England: Cambridge University Press.

(8) Paul K.I. & Moser K. (2006). Incongruence as an explanation for the negative mental health effects of unemployment: Meta-analytic evidence. J Occupat Organiz Psychol 79, 595 621.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 3/2010, Heft 178, Seite 35-41
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juli 2010

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