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THERAPIE/364: Wo bleiben die neuen Wege beim Absetzen von Psychopharmaka? (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 176 - Heft 2/22, April 2022
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Wo bleiben die neuen Wege beim Absetzen von Psychopharmaka?

von Uwe Gonther, Peter Lehmann, Katrin Rautenberg, Gudrun Weißenborn, Peter C. Groot und Paul Harder


Im Rahmen der DGSP-Jahrestagung 2021 in Bremen organisierten Uwe Gonther und Peter Lehmann ein Symposium, für dessen inhaltliche Ausrichtung sie verantwortlich zeichneten: "Wo bleiben die neuen Wege beim Absetzen von Psychopharmaka?" Die Podiumsteilnehmenden des Symposiums haben ihre dort gehaltenen jeweiligen Beiträge für "Soziale Psychiatrie" zusammengefasst.*


Einleitung

Seit über einem halben Jahrhundert weiß man von den immensen Problemen beim Absetzen von Psychopharmaka. Seit drei Jahrzehnten weiß man von der um 20 bis 25 Jahre reduzierten Lebenserwartung von Menschen mit ernsten psychiatrischen Diagnosen (und entsprechender Verabreichung oft gesundheitsschädlicher Psychopharmaka). Immer wieder wird von Betroffenenseite und von engagierten psychiatrisch Tätigen eine kompetente Begleitung beim Absetzen von Psychopharmaka eingefordert, mittlerweile sogar von der "S3-Leitlinie Schizophrenie". Doch abgesehen von zaghaften Ansätzen ambulanter, teilstationärer und stationärer Unterstützung beim Absetzen bleibt die Masse der Betroffenen ohne jegliche Unterstützung. Dazu desinformiert die Pharmaindustrie die Ärzte- und Patientenschaft. Es gebe keine Abhängigkeit und Entzugsprobleme, man könne die Psychopharmaka meist rasch in ein bis zwei Wochen absetzen. Wie kann dies zum Wohle der Betroffenen geändert werden? Wo bekommen Betroffene Hilfe? Wie können Angehörige konstruktiv in Reduktionsprozesse einbezogen werden? Wie sähe eine optimale Hilfe beim Absetzen von Psychopharmaka aus?
Uwe Gonther, Peter Lehmann


Ambulante Begleitung beim Absetzen von Psychopharmaka im AMEOS-Klinikum Bremen

Der Wunsch, wieder ohne oder mit weniger Psychopharmaka zu leben, kommt bei fast jedem Menschen auf, der eine seelische Krise mithilfe oder trotz dieser Substanzen überstanden hat. Wir halten diesen Wunsch für gut nachvollziehbar und unterstützenswert.

Die Motivation ist häufig, sich wieder so zu spüren, wie man wirklich ist, sich als sich selbst zu erleben, ohne die Beeinflussung von chemischen Einflüssen. Oder es treten Nebenwirkungen auf, die nicht weiter toleriert werden können, Menschen haben das Gefühl, die Substanzen wirken nicht mehr oder nicht so wie geplant. Es treten trotz Medikation seelische Krisen, Psychosen oder Depressionen auf.

Sich über die eigene Motivation auf dem Weg zur Reduktion klar zu werden, ist der erste wichtige Schritt. Einige haben einen längeren und anstrengenden Weg vor sich.

In unserer Institutsambulanz bieten wir neben Einzel- oder Netzwerkgesprächen durch das multiprofessionelle Team (Ärztinnen/Ärzte, Psychologinnen/Psychologen, Sozialarbeiterin, Genesungsbegleiter/innen, Kunst- und Theatertherapeutinnen und -therapeuten) auch eine halboffene Gruppentherapie zur Vorbereitung und Begleitung des Reduktionsprozesses an. Und falls es im Reduktionsprozess belastendere Krisen, Stillstände oder erhebliche Ängste vor dem nächsten Absetzschritt gibt, können wir auf die stationäre oder teilstationäre Aufnahme in unserem Klinikum zurückgreifen.

Neben den konkreten Fragen zur Medikation (Welches Medikament setze ich zuerst ab? Oder sollte vorher noch auf ein anderes Medikament gewechselt werden, das leichter abzudosieren ist? In welchen Dosierungsschritten und welchen Zeitabständen?) halten wir es für wichtig, sich darüber klar zu werden, dass die Stütze Medikation durch alternative Stabilisatoren ersetzt werden sollte, die aber gegebenenfalls noch aufgebaut und zusammengestellt werden müssen.

Dazu bieten wir in der Begleitgruppe verschiedene Themen an, da alternative Stabilisatoren sehr individuell sein können. Ein Notfallplan und die Miteinbeziehung des sozialen Netzes und insbesondere der Angehörigen werden in der Gruppe besprochen. Es werden, teilweise durch Gäste, Themen eingeführt wie Ernährung, naturheilkundliche Ansätze zur Behandlung von psychischen Symptomen, Bewegungspläne, Entspannungstechniken, die Regulierung des Schlafes, Austausch über spirituelle Dimensionen oder Persönlichkeitsentwicklungsmodelle und sinnstiftende Tätigkeiten. Aber auch psychotherapeutische Ansätze zur Bewältigung von Ängsten, Depressionen oder psychotischen Wahrnehmungen werden in der Gruppe gemeinsam erarbeitet.

Die Gruppe besteht seit August 2019 und wird von zwei Genesungsbegleiterinnen und -begleitern sowie einer Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie geleitet. Besonders die gegenseitige Unterstützung und das Ernstgenommen-Werden bei den Symptomatiken der Medikamentenreduktion werden als sehr hilfreich empfunden.

In den Gruppenprozessen kann besser verdeutlicht werden, dass Genesung leichter in Systemen/Netzwerken gelingen kann, dass (abhängig machende) dyadische Beziehungen dabei kein Rollenvorbild sind und Empowerment und Recovery nicht so wirkungsvoll unterstützen wie Gruppenerfahrungen.
Katrin Rautenberg


Absetzprozesse - wie man Krisen beim Reduzieren von Psychopharmaka im sozialen Netzwerk begegnen kann

Psychopharmaka sind mit Hoffnungen, Erwartungen und Ängsten aufgeladen - die sich manchmal erfüllen und manchmal nicht. Entsprechend gilt dies auch für das Reduzieren und Absetzen. Damit dieser Prozess gelingt, ist eine mentale und emotionale Unterstützung vonseiten des Umfeldes bedeutsam.

Auf widersprüchliche Informationen und mangelnde Aufklärung in Krisensituationen, wozu auch beim Absetzen von Psychopharmaka auftretende Krisen zählen, reagiert das soziale Netzwerk mit Sorgen und Ängsten und nimmt in günstiger und manchmal in ungünstiger Weise Einfluss auf den Verlauf - alles eine Frage der Perspektive.

Die Ausgrenzung der Angehörigen aus dem Behandlungskontext bei gleichzeitiger Inanspruchnahme ihrer Hilfestellung lässt sie beschämt zurück. Die Schweigepflicht entwickelt ihre eigene Dynamik, wenn das soziale Umfeld, in diesem Fall ganz konkret Partnerinnen und Partner, Geschwister, Eltern und Kinder nicht respektiert wird. Manch ein Mensch verliert dabei seine Familie und/oder sein soziales Netzwerk oder grenzt sich aktiv von den Seinen und Ihren ab. Diese Beziehungsabbrüche sind ein herber Verlust notwendiger sozialer Ressourcen.

Mit dem Wunsch nach Entlastung und der Hoffnung auf Hilfe wächst die Wirksamkeitserwartung von Psychopharmaka - bei allen Akteurinnen und Akteuren, angefangen bei den Verordnenden und Behandelten bis hin zu den begleitenden Angehörigen. Wenn die Erwartungen durch die Psychopharmaka nicht erfüllt werden oder die Patientinnen und Patienten diese nicht (mehr) als hilfreich oder sogar als schädlich erleben, ist damit nicht unbedingt eine Frage der Dosierung verbunden. Dahinter verbergen sich Fragen des Vertrauens - Vertrauen in sich selbst oder in die Behandlung. Schließlich hat nur ein Teil derer, die Psychopharmaka einnehmen, einen Profit davon (Aderhold 2014). Gleichwohl dürfen wir anerkennen, dass Menschen von der Einnahme einen Nutzen haben können - und dabei unweigerlich die Risiken mit schlucken (Lehmann u.a. 2017). Das Wissen um das Nutzen-Risiko-Verhältnis ist ein akademischer Streit. Bürgerinnen/Bürger, Laiinnen/Laien und (potenzielle) Patientinnen/Patienten sind selten informiert über die bedingte Wirksamkeit von Psychopharmaka sowie die Probleme, die mit ihrem Reduzieren und Absetzen einhergehen können. Die gewichtigen Gründe für die Reduktion oder das völlige Absetzen von Psychopharmaka sind der Wissenschaft wohlbekannt. Gleichzeitig werden Betroffene und Angehörige allein gelassen, wenn sie Hilfe beim Absetzen von denen erbitten, die die Psychopharmaka verordnet haben. Welche Strukturen, Prozesse oder mentalen Modelle liegen diesem Handlungsmuster der Verordnenden zugrunde? Ist das angemessen?

Bei der Entscheidung, Psychopharmaka abzusetzen, handelt es sich oft um einen wohldurchdachten rationalen Entschluss. Um diesen Prozess hilfreich begleiten und Absetzkrisen einschätzen zu können, brauchen Angehörige umfassende und unabhängige Aufklärung zu erwünschten und unerwünschten Wirkungen von Psychopharmaka, Informationen zur Unterscheidung von Entzugs- bzw. Absetzphänomenen und vom sogenannten echten Rückfall sowie die Möglichkeit der Reflexion eigener Anliegen und Belange.

Der Dreiklang von Aufklärung, Autonomie und Trialog steht im Mittelpunkt der Angehörigenakademie beim ApK Berlin, einem Angehörigen-Selbsthilfeverband. Wir bieten in Seminaren und Informationsveranstaltungen Aufklärung zu Fragen der Einnahme und des Reduzierens und Absetzens von Psychopharmaka. Davon profitieren alle Beteiligten, auch diejenigen, die sich bisher mit dem Thema Absetzen - aus welchen Gründen auch immer - nicht auseinandersetzen wollten.
Gudrun Weißenborn


Fördern und fordern - neue Wege beim Absetzen von Psychopharmaka

"Sieben Jahre lang Paroxetin genommen - trotzdem immer wieder Depressionen gehabt. 2015 nach ärztlicher Abweisung Paroxetin innerhalb von 14 Tagen abgesetzt - dann begannen schwerste Depressionen, und Monate später ging es dann richtig los. Mit allerschlimmsten Symptomen, sodass ich kurz vor der Selbsttötung stand. Mein Arzt streitet eine Entzugsproblematik vehement ab [...]"

Solche Mails Verzweifelter bekomme ich täglich. Schon in den 1960er Jahren berichteten Psychiater, allen voran Rudolf Degkwitz (DGPN-Präsident 1971-72), von teilweise extrem belastenden Entzugssymptomen bei Antidepressiva und Neuroleptika, die sich in nichts von denen bei Alkaloiden und Schlafmitteln unterschieden. Nach seinem Verständnis kann das Absetzen einen hohen gesundheitlichen Wert haben:

"Es erwachen dann oft genug psychisch völlig gesunde Patienten aus der neuroleptischen Intoxikation, die für eine psychische Erkrankung gehalten wurde." (Degkwitz 1971, S. 370)

Ähnliche Erfahrungen machen Betroffene, wenn sie die verordneten Psychopharmaka absetzen (Lehmann 2019). Allerdings sind Psychiater und Psychiaterinnen in aller Regel nicht in der Lage oder willens, sie zu unterstützen, wenn sie um ärztlichen Beistand bitten. Akzeptieren sie den Entschluss von Betroffenen nicht, die Einnahme von Psychopharmaka zu beenden, schicken sie sie oft genug aus ihrer Praxis - ohne Information über mögliche Entzugsprobleme und die Notwendigkeit eines an die Einnahmedauer angepassten stufenweisen Entzugs. Und natürlich ohne die dazu notwendigen Rezepte.

Neben Kenntnissen über entzugslindernde und risikovermindernde Maßnahmen fehlt es auch an niedrigschwelligen Einrichtungen für Menschen, die beim Absetzen vorübergehend in Krisen geraten. Dabei schlug die Arbeitsgruppe Willkürliche Unterbringung des UN-Menschenrechtsrats der Generalversammlung der Vereinten Nationen 2015 in ihrer Richtlinie 20 spezielle Hilfeprogramme vor, damit denjenigen, die sich für das Absetzen von Psychopharmaka entscheiden, Unterstützung ermöglicht wird (undocs.org/A/HRC/30/37).

Um den Mangel an Hilfen anzugehen, gestalteten Andreas Heinz, Leiter der Berliner Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité, und Peter Lehmann beim DGPPN-Kongress 2018 das Symposium "Ein neuer Umgang mit Absetz- und Entzugsproblemen bei Antidepressiva und Neuroleptika" (bit.do/symp2018). Daraufhin publizierte der "NeuroTransmitter", das Organ der Berufsverbände Deutscher Nervenärzte e.V., Deutscher Neurologen e.V. und Deutscher Psychiater e.V., den Artikel "Absetzen von Antidepressiva und Neuroleptika - Überfällige ärztliche Hilfen". Darin berichteten Markus Kaufmann, Mitglied des DGSP-Fachausschusses Psychopharmaka, und der Verfasser dieses Beitrags über die an den Fingern einer Hand abzählbaren Angebote stationären Entzugs (Kaufmann & Lehmann 2019). Allerdings zeigte sich bei einer aktuellen Nachfrage, dass diese Angebote nicht oder nicht mehr bestehen oder sich nicht für einen längerfristigen Entzug eignen. Abgesehen von Ausnahmen wie der Bremer AMEOS-Klinik, der Psychiatrischen Klinik Heidenheim und der Praxis des niedergelassenen Psychiaters Jann E. Schlimme (Berlin) gibt es letztlich keine strukturierte Unterstützung seitens der Psychiatrie beim selbstbestimmten Absetzen.

Ob diese Hilfe erfolgversprechend ist, steht dahin. Denn die Mainstream-Psychiaterschaft bestreitet das Risiko der Medikamentenabhängigkeit bei Antidepressiva und Neuroleptika. Entzugserscheinungen seien lediglich neuroadaptive Prozesse, wie sie auch in der Körpermedizin vorkommen, und würden einzig auf ein zu schnelles Absetzen hinweisen. Der Vorwurf der Medikamentenabhängigkeit komme von Laien, sei übertrieben und unbegründet. Die biologischen Prozesse der Entzugserscheinungen seien noch nicht erforscht, Letztere könnten durch die erneute Einnahme der Psychopharmaka beseitigt werden. Es gebe zwar Gewöhnungseffekte, aber - das ist das vermeintlich schlagende, jedoch hanebüchene Argument - es gebe keine Sucht und kein Verlangen. Auch Ratten würden im Tierversuch nicht nach Neuroleptika gieren (Lehmann 2021, S. 84-87). Doch wer verspürt schon ein Verlangen nach einer Substanz, die in manchen Ländern zur Folter politischer Dissidenten eingesetzt wird?

Die Herbeiführung einer Medikamentenabhängigkeit stellt nach StGB § 223 eine Körperverletzung dar. Bei Benzodiazepinen hat sie schon zu Verurteilungen geführt (OLG Frankfurt/Main, Urteil 1 Ss 219/87 v. 21.08.1987, BayObLG, Beschluss 5 St RR 179/02 v. 28.02.2002). Falschinformationen der Hersteller über Abhängigkeitsrisiken begründen - an sich - einen Instruktionsfehler und Regressansprüche gemäß § 84 AMG. Vielleicht findet sich ja in der Zukunft eine rechtsschutzversicherte Person, um einen Musterprozess gegen eine Pharmafirma zu führen.

Wenig verwunderlich, dass Pharmafirmen und Mainstream-Psychiaterschaft alles daransetzen, Entzugsrisiken zu leugnen - zulasten der Betroffenen, denen zu Hunderttausenden Information und Hilfe vorenthalten wird. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als auf ein Umdenken in der Rechtsprechung zu hoffen, sich gegebenenfalls auf eigene Faust und unter Einholung seriöser industrieunabhängiger Informationen ans umsichtige Absetzen zu machen und sich bei Problemen über das Internet auszutauschen (z.B. www.psyab.net, www.peter-lehmann.de/absetzen).
Peter Lehmann


Tapering-Strips (Ausschleichstreifen) - Lehren aus der klinischen Praxis der verantwortungsvollen Reduzierung von Psychopharmaka

Als Forscher und Experte aus Erfahrung bin ich, Peter Groot, mit dem User Research Center des Universitätsklinikums Utrecht verbunden. Zusammen mit Prof. Jim van Os arbeite ich seit mehr als zehn Jahren daran, ein verantwortungsvolles Absetzen von Psychopharmaka zu ermöglichen. Um dies zu erreichen, haben wir in den Niederlanden sogenannte Tapering-Strips entwickelt, auf deutsch: Reduktions- oder Ausschleichstreifen.

Die Existenz von Tapering-Strips ist auf Patientinnen und Patienten auf der ganzen Welt zurückzuführen, die jahrelang versucht haben, eine solche schrittweise Dosisreduktion zu erreichen, indem sie zu Hause mit ihren Medikamenten herumexperimentierten. Sie begannen damit, weil ihre Ärztinnen und Ärzte die niedrigeren Dosen, die sie brauchten, nicht verschreiben konnten. Weil Pharmaunternehmen sie nie hergestellt haben.

Im Jahr 2004 entwickelte einer dieser Patienten, Harry Leurink, ein niederländischer Holzschnitzer, einen Reduktionsstreifen, bei dem die Dosis eines Medikaments jeden Tag etwas niedriger war. Diese Idee war die Grundlage für die Entwicklung der Tapering-Strips. Die gemeinnützige Stiftung Cinderella hat daraufhin einen Apotheker gesucht und gefunden, der verschreibungspflichtige Medikamente in den unterschiedlichsten Dosierungen herstellen und an Patientinnen und Patienten abgeben kann: Paul Harder von der Regenboog Apotheek in Bavel (Abbildung links mit Muster der Tapering-Strips).

Ein Tapering-Strip besteht aus 28 Plastiktüten mit der täglichen Dosis eines Arzneimittels in jeder Tüte. Diese Dosis kann jeden Tag etwas niedriger sein. Wenn eine Patientin oder ein Patient während des Ausschleichens Entzugserscheinungen verspürt, kann dieser Zeitplan leicht angepasst werden. Neben Tapering-Strips können hierfür auch sogenannte Stabilisierungsstreifen verwendet werden.

Aufgrund der Verfügbarkeit von Tapering-Strips und Stabilisierungsstreifen haben Ärztinnen und Ärzte nun endlich die Möglichkeit, Patientinnen und Patienten maßgeschneiderte Ausstiegspläne zu verschreiben. All dies auf Basis einer unterstützten Entscheidungsfindung.

Das Ausschleichen mit Tapering-Strips funktioniert in der Praxis sehr gut. Drei Studien haben nun gezeigt, dass 70 Prozent einer großen Gruppe von Patientinnen und Patienten, die zuvor aufgrund von Entzugserscheinungen beispielsweise ein Antidepressivum nicht absetzen konnten, mit Tapering-Strips erfolgreich waren. Und dass 70 Prozent der Patientinnen und Patienten ein bis fünf Jahre nach dem Absetzen immer noch ohne Psychopharmaka auskamen (Groot & van Os 2021).

Ärztinnen und Ärzte in Deutschland können bereits Tapering-Strips verschreiben. Informationen hierzu finden Sie auf der Website www.taperingstrip.de. Es gibt derzeit auf der ganzen Welt keine Lösungen, die mit den Tapering-Strips vergleichbar sind. Es gibt zwar individuelle Verordnungen, wie sie Jann E. Schlimme und Martin Zinkler empfehlen - auch sehr gute Vorschläge. Aber sie eignen sich nicht für das hyperbolische Absetzen, das heißt ein Absetzen mit gegen Ende stetig kleiner werdenden Reduktionsschritten. Dies ermöglichen nur die Tapering-Strips. Es gibt sie nicht nur für Antidepressiva, sondern auch für Neuroleptika, Tranquilizer, Stimmungsstabilisatoren, Analgetika und einige andere Medikamente.
Peter C. Groot, Paul Harder


Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. med. Uwe Gonther, seit 2014 Ärztlicher Direktor und Chefarzt des AMEOS Klinikums Bremen, seit 2018 auch Ärztlicher Direktor des AMEOS Klinikums Seepark Debstedt.

Dr. Peter C. Groot, Forscher und Erfahrungsexperte am User Research Center NL der Universität Utrecht UMC (und früher an der Universität Maastricht). Er studierte Chemie und betrieb an der Freien Universität in Amsterdam molekulargenetische (DNA-)Forschung, wo er 1989 promovierte.

Paul Harder, Regenboog Apotheek Maastricht.

Dr. phil. h.c. Peter Lehmann, Dipl.-Pädagoge. Autor und Verleger in Berlin. Bis 2010 langjähriges Vorstandsmitglied im Europäischen Netzwerk von Psychiatriebetroffenen.
Mehr unter: www.peter-lehmann.de

Katrin Rautenberg, Leitende Oberärztin - Psychotraumatologie (DeGPT), Klinische Supervisorin, Leitung Psychiatrische Institutsambulanz des AMEOS Klinikums Bremen.

Gudrun Weißenborn, Dipl.-Rehabilitationspädagogin, Projektleitung im Landesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen in Berlin (ApK Berlin). Seit 2020 Kooperationspartner der AG Psychexit.


Literatur

Aderhold, V. (2014) Neuroleptika minimal - warum und wie. Online-Ressource bit.do/aderhold-2014 (letzter Zugriff: 03.02.2022)

Degkwitz, R. (1971) Zur Bilanz der modernen Psychopharmakologie. In: Ehrhardt, H.E. (Hrsg.) Perspektiven der heutigen Psychiatrie. Frankfurt/M.: Gerhards & Co., S. 364-371

Groot, P.C.; van Os, J. (2021) Pharmacists' strategies: Tapering strips. In: Lehmann, P.; Newnes, C. (Hrsg.) Withdrawal from prescribed psychotropic drugs. E-Book. Berlin & Lancaster: Peter Lehmann Publishing, S. 257-282

Kaufmann, M.; Lehmann, P. (2019) Absetzen von Antidepressiva und Neuroleptika - Überfällige ärztliche Hilfen. In: NeuroTransmitter 30(12), 18-22; bit.do/ueberfaellige (letzter Zugriff: 03.02.2022)

Lehmann, P.; Aderhold, V.; Rufer, M. u.a. (2017) Neue Antidepressiva, atypische Neuroleptika - Risiken, Placebo-Effekte, Niedrigdosierung und Alternativen. Berlin & Shrewsbury: Peter Lehmann Publishing (E-Book 2022)

Lehmann, P. (Hrsg.) (2019) Psychopharmaka absetzen - Erfolgreiches Absetzen von Neuroleptika, Antidepressiva, Phasenprophylaktika, Ritalin und Tranquilizern. 5. Aufl. Berlin & Shrewsbury: Antipsychiatrieverlag (E-Book 2022)

Lehmann, P. (2021) For or against dependence on antidepressants and neuroleptics: Who benefits? In: Lehmann, P.; Newnes, C. (Hrsg.) Withdrawal from prescribed psychotropic drugs. E-Book. Berlin & Lancaster: Peter Lehmann Publishing, S. 75-119


* Für die Einleitung sind Uwe Gonther und Peter Lehmann verantwortlich, für die namentlich kenntlich gemachten Beiträge die einzelnen Autorinnen und Autoren.

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 176 - Heft 2/22, April 2022, Seite 24-28
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
Zeltinger Str. 9, 50969 Köln
Telefon: 0221/51 10 02, Fax: 0221/52 99 03
 
Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
Bezugspreis: Einzelheft 10,- Euro
Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung
Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 11. November 2022

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