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ARTIKEL/405: Verein "Brücke Neumünser" - Im Sozialraum angekommen (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 133 - Heft 3, Juli 2011
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Im Sozialraum angekommen
"Offene Hilfen" in der gemeindenahen Psychiatrie - Raum für neue Erfahrungen

Von Fritz Bremer und Kathrin Wulff


Seit dreißig Jahren gibt es den Verein 'Brücke Neumünster'. Welche Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten die "offenen Hilfen" für Nutzer und Mitarbeiter bieten und warum es sich lohnt, für deren Erhalt zu kämpfen.

Bis 1978 fanden Bürgerinnen und Bürger der Stadt Neumünster (ca. 80.000 Einwohner) psychiatrische Versorgung in vier Facharztpraxen, in einer Klinik des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) am Stadtrand und im Landeskrankenhaus in Heiligenhafen. Einige Patientinnen und Patienten wurden auch in der Universitätspsychiatrie in Kiel oder im Psychiatrischen Krankenhaus in Rickling oder im Landeskrankenhaus (LKH) Schleswig behandelt. 1978 wurde die psychiatrische Akutstation (Männer- und Frauenstation) am Friedrich-Ebert-Krankenhaus in der Stadt eröffnet.

Wie alles begann

1981 gründeten psychiatrische Patientinnen und Patienten aus Neumünster, viele Angehörige, reformbereite bis -hungrige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der oben genannten Kliniken und engagierte Bürgerinnen und Bürger den Verein 'Brücke Neumünster e.V. - für psychosoziale Hilfen'.

Die Mitgliederversammlungen und Vorstandssitzungen waren "trialogische" Veranstaltungen. Wir nannten das nicht so. Dieser Aspekt unseres Handelns war uns noch nicht bewusst. Etwas anderes stand im Vordergrund, und zwar die gemeinsame Absicht, alle notwendigen, denkbaren, umsetzbaren Hilfen für psychisch erkrankte Menschen und ihre Angehörigen in der Stadt ins Leben zu rufen.

Nach der Gründung der ersten drei betreuten Wohngemeinschaften (auf der Grundlage der Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz) stand die Entwicklung einer Begegnungsstätte, eines ambulanten Dienstes auf der Grundlage des Psychisch-Kranken-Gesetzes (PsychKG) des Landes Schleswig-Holstein auf der Tagesordnung.

Wir starteten mit Unterstützung der Kolleginnen und Kollegen des Sozialpsychiatrischen Dienstes am Gesundheitsamt, mit Unterstützung des damaligen Sozialdezernenten, verschiedener Sozialpolitikerinnen und -politikern in der Stadt und im Land. Ja, sie ermutigten uns, tätig zu werden, Einrichtungen zu gründen, an der Entwicklung gemeindenaher Versorgungsstrukturen zu arbeiten.

Mit Mitteln des Arbeitsamtes für drei halbe Stellen und 5000 DM von der Stadt eröffneten wir im November 1983 die Begegnungsstätte bzw. den Ambulanten Dienst.

Die Besucherinnen und Besucher waren vor allem junge Erwachsene, psychisch erkrankte Menschen aus dem Umfeld der Angehörigen im Verein und von den Akutstationen, zum anderen Menschen aus den LKH, die durch die Wohngruppenangebote - häufig nach langer Zeit - in die Stadt zurückkehren konnten. Die Begegnungsstätte, die Beratungs- und Gruppenangebote wurden reichlich in Anspruch genommen. Wir konnten dieses neue, noch sehr fragile soziale Gebilde regelrecht wachsen sehen.

Christel Achberger machte sich als damalige Mitstreiterin im Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband (DPWV) in Kiel mit Erfolg stark für einen Zuschuss des Landes für die "offenen Hilfen" in den Kommunen. So sollte die Arbeit direkt gefördert und ein Anreiz für ergänzende kommunale Finanzierung gegeben werden.

Die Arbeit war unglaublich ermutigend und stand auf tönernen Füßen. Vor dem endgültigen Ende der Mittel des Arbeitsamtes gelang es uns, mit der Stadt einen Zuschuss auszuhandeln, der - ergänzt durch den Zuschuss des Landes - gerade eben ausreichte für drei Stellen, Honorarmittel, Mietkosten u.a. Ende der Achtzigerjahre wurde darüber zwischen der Stadtverwaltung und der 'Brücke' ein Vertrag geschlossen. Das ist seither die finanzielle Grundlage der offenen Hilfen.

Was da alles drin ist!

Nach mehreren Umzügen fanden wir für die Begegnungsstätte/Ambulanten Dienst 2003 Räume mitten in der Stadt. Die Beratung, Begleitung, Unterstützung und auch die Gruppenangebote sind räumlich - und formal leicht zugänglich. Es gibt keine Klientenakten. Anträge müssen nicht gestellt werden. Es gibt keine Abrechnung einzelner Leistungen.

2009 nahmen 280 Bürgerinnen und Bürger Angebote der offenen Hilfen in Anspruch, 2010 waren es über 300. Das Gruppenangebot ist vielfältig. Einige Gruppen werden ehrenamtlich geleitet. Vier Selbsthilfegruppen wurden in den vergangenen Jahren gegründet. Inzwischen bietet einer der Selbsthilfeaktiven eine eigene Sprechstunde an.

Wir können nicht alle Arbeitsfelder der offenen Hilfen beschreiben, nicht alle Ideen und Innovationen, die in den vergangenen achtundzwanzig Jahren aus der Arbeit dort hervorgingen, aber doch beispielhaft einige: Für die Patienten und Mitarbeiter in den Kliniken war es 1983 eine neue Erfahrung, dass wir aus dem Ambulanten Dienst die uns bekannten Patienten in der Klinik regelmäßig besuchten, uns - wie manche Klinikkollegen damals fanden - "einmischten", die Entlassung, den Übergang in die eigene Wohnung mit vorbereiteten, Patienten beim Besuch in die Begegnungsstätte begleiteten u.v.m.

Viele (Mitarbeiter/-innen und Patienten) nahmen unsere Einmischung aber gerne an. Für viele wurden wir bald zum ambulanten Arm in die Stadt hinein oder zu entlastenden Übergangsgestaltern. Das ging nicht ohne Widerstände. Und doch war es der Beginn einer "ambulanten Kultur" psychiatrischer Versorgung.

1984/85 wurde uns klar, dass gemeindenahe Psychiatrie auf die Dauer mit Gesprächen, Besuchen, einem Kaffee und einer Runde Schach nicht zu machen ist. In der Begegnungsstätte entstand eine Werkstattidee. Wir fanden einen vermüllten Raum in einem Hinterhof. Das war der Auftakt zur Gründung einer Fahrradwerkstatt und später des ersten Arbeits- und Beschäftigungsprojekts. Zur gleichen Zeit trafen sich im Lesekreis und in der Malgruppe der Begegnungsstätte literarisch und künstlerisch begabte und interessierte Menschen mit ihren Texten, Bildern, Fotos ­... Hinzu kam, dass ältere Besucher/-innen, die lange Zeit im LKH Schleswig oder Heiligenhafen zugebracht hatten, den dringenden Wunsch hatten, von ihren Erfahrungen zu berichten. Die interessanten, originellen, anregenden, skurrilen, schönen Gedichte und Bilder einiger Besucher/-innen und die Berichte aus den LKHs bzw. diese spürbaren Mühen beim Heraustreten aus der Krankengeschichte und bei der Wiedereroberung der eigenen Lebensgeschichte - das waren die Anregungen, die zur Gründung der Zeitschrift "Brückenschlag" und später des Paranus-Verlages führten (siehe dazu Beiträge in "Brückenschlag", Band 20 und 25).

1985 luden wir zur (wahrscheinlich) ersten Ausstellung beeindruckender Bilder eines psychisch erkrankten jungen Mannes in Neumünster in die Begegnungsstätte ein. In der Folge veranstalteten wir Lesungen mit Theodor Weißenborn, Sylvia Brandis, Wolfgang Sieg, Werner Lansburgh, Hein Hoop, Wolfdietrich Schnurre u.a. Für einige Neumünsteraner Bürger/-innen wurde die Begegnungsstätte für psychisch erkrankte Menschen zu einem Bestandteil des literarischen Lebens in der Stadt. Heute würden wir sagen: Das waren inklusive Veranstaltungen.

"Die Begegnungsstätte für psychisch erkrankte Menschen wurde zu einem Bestandteil des literarischen Lebens in der Stadt"

Natürlich luden wir auch ein zu Vorträgen und Diskussionen zu sozialpsychiatrischen und sozialpolitischen Fragen. Dabei arbeiteten wir vor allem mit jungen, "alternativen" Kulturinitiativen zusammen.

1987 gab es im Ambulanten Dienst/in der Begegnungsstätte die erste Einladung zum Treffen von Angehörigen psychisch erkrankter Menschen in Neumünster. Daraus entstand eine Angehörigengruppe, die - von Mitarbeiter/-innen unterstützt - bis heute nicht nur besteht, sondern sich weiterentwickelt. Teilnehmer/-innen dieser Gruppe sind aktiv in verschiedenen Gremien des Gemeindepsychiatrischen Verbundes, in der Besuchskommission, im Qualitätszirkel, im Beschwerderat u.a.m.

Später luden wir Dorothea Buck zu einer Lesung aus ihrem Buch "Auf der Spur des Morgensterns - Psychose als Selbstfindung" in die Begegnungsstätte ein. Dieser Abend war einer der Impulse auf dem Weg zur Gründung des Psychoseseminars in Neumünster im Jahre 1996. Beteiligt daran waren Mitglieder der Angehörigengruppe, eine psychiatrieerfahrene Frau, Kollegen der Tagesklinik und der 'Brücke Neumünster'. Später in einer zweiten Phase der Entwicklung des Seminars - kamen Kollegen der 'Brücke Schleswig-Holstein' hinzu. Hier beginnt nun eine eigene lange Geschichte. Berichtet sei nur, dass durch die Erfahrungen im Psychoseseminar zum Beispiel die Gründung einer trialogischen Krisenpass-Gruppe angeregt wurde. Die Seminarerfahrungen standen auch Pate bei der Entwicklung trialogischer Mitwirkungsarbeit (seit 2001) in allen Einrichtungen der 'Brücke Neumünster' (siehe dazu den Beitrag "Inklusion praktisch - was da alles drin ist!", in: W. Hich-Koppe [Hg.]: Teilhabe in Zeiten verschärfter Ausgrenzung. Neumünster 2010).

Den Rückblick auf die Geschichte wollen wir abschließen mit folgendem Hinweis: die offenen Hilfen, die Selbsthilfenetzwerke rund um die Begegnungsstätte, die Psychoseseminararbeit, die Angebote für Angehörige - das alles war die allerbeste Voraussetzung für die Inklusionsprojektarbeit, mit der wir 2007, in Kooperation mit der 'Brücke Schleswig-Holstein' und gefördert von der Landesregierung, begannen. Die Erfahrungen aus der Arbeit am Inklusionsprojekt "Gemeinsam für einander" eröffneten weitere neue Möglichkeiten.

Ausgebremst

Im Januar 2010 wurden uns die Vorstellungen der Stadt Neumünster bezüglich der Konsolidierung des städtischen Haushaltes bekannt. Eine zwanzigprozentige Kürzung des Zuschusses der Stadt war im Gespräch. Uns war klar, dass eine solche Kürzung erhebliche Folgen für die Arbeit der offenen Hilfen haben würde.

Wir informierten den Beirat und die Besucher/-innen über diese Entwicklung und suchten in der Folge in Zusammenarbeit mit dem Beirat den Kontakt zu allen im Rat vertretenen Parteien. Zwischen Januar und Juni 2010 konnten sich so alle politischen Entscheidungsträger (inklusive Verwaltung) ausführlich über die vielfältige, umfangreiche Arbeit und den hohen Grad der Mitwirkung der Besucher informieren. Die Beiratsmitglieder machten während dieser Treffen eine neue Erfahrung: Sie erlebten sich als Erfahrene mit Stimme, merkten, wie wichtig ihre Meinung ist, und erfuhren, dass ihre eigene Geschichte und die Biografien der Besucher bei den Entscheidungsträgern nicht zu Abwehr, sondern häufig zu persönlichem Berührtsein führten. Die Gespräche konnten Mut machen. Der Beirat und die Mitarbeiter/-innen lernten durch jedes Gespräch dazu. Der Beirat war in dieser Zeit sehr gefordert: in der Auseinandersetzung mit den eigenen Stärken, die in Gesprächen mit Besuchern aus der Politik entdeckt werden konnten, und durch die Vermittlung von Informationen aus diesen Gesprächen an die anderen Besucher der Begegnungsstätte.

Sie standen gemeinsam mit den Mitarbeitern vor der Aufgabe, mit den Zukunftsängsten aller Beteiligten umgehen zu lernen. Das konnte nur durch ein gutes Zusammenwirken zwischen Beirat, Team und Geschäftsführung gelingen.

Als dann im Sommer für die Sicherung des Zuschusses des Landes Schleswig-Holstein gekämpft wurde, war es für sehr viele Besucher/-innen und Unterstützer selbstverständlich, an einer Demonstration in Kiel mit der Forderung "Soziales darf nicht untergehen" teilzunehmen.

Die Ereignisse der ersten Jahreshälfte hatten die Besucher sensibilisiert für ihre Rechte als Bürger/-innen. Viele, die sich infolge ihrer psychischen Erkrankung bisher als Opfer der Sparpolitik im Gesundheitswesen oder in der Sozialgesetzgebung erlebt hatten, konnten ihren Blick erweitern. Sie erlebten sich in einer neuen Rolle: Bürger/-innen mit Stimme zu sein, sich öffentlich äußern zu können, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. In ihrer Not und mit ihren Sorgen außerhalb des Rahmens von Einrichtungen und Hilfen, also im alltäglichen Leben ernst genommen zu werden, war für viele eine ganz neue Erfahrung. Während der Demonstration in Kiel erlebten die Besucher in der Regel das erste Mal, dass ihre Forderung berechtigt ist. Denn so viele waren mit derselben Forderung nach Erhalt der offenen Hilfen und anderer sozialer Einrichtungen auf der Straße.

Vor allein aus zwei Gründen wir dieser Schritt für viele psychiatrieerfahrene Menschen eine besondere Herausforderung:

1. Da die offenen Hilfen vor allem für chronisch erkrankte ältere Menschen eine regelmäßige Anlaufstelle sind, wissen wir, dass diese Menschen viele verschiedene Erfahrungen mit Zwang und Missachtung, Entwertung und Demütigung gemacht haben.

2. Viele psychische Erkrankungen sind verbunden mit starken Ängsten, die sich auf das (Über-)Leben, die Zukunft, die Wahrung der persönlichen Integrität beziehen. Öffentlich auf sich aufmerksam zu machen widerstrebt den meisten Besucher/-innen aufgrund dieser Erfahrungen oder Grundannahmen. Wir konnten gemeinsam die Erfahrung machen, dass die Besucher sich artikulieren wollen, füreinander und miteinander für ihren Ort - die Begegnungsstätte, die offenen Hilfen - einstehen wollen.

Im September 2010 legte die städtische Verwaltung ihre "Spar-Vorschläge" vor. Dabei wurde deutlich, dass trotz der vielen positiven Gespräche und ohne inhaltliche Begründung eine zwanzigprozentige Kürzung der Mittel für unsere offenen Hilfen ab 2012 vorgesehen war. Neben der Sorge der Besucher spürten wir die gemeinsame Entschlossenheit, die Öffentlichkeit weiter für die schwierige Situation zu sensibilisieren.

Protest

In einer Vollversammlung der Besucher der Begegnungsstätte (40 Teilnehmer/-innen) wurde die Situation diskutiert. Es entfaltete sich eine kraftvolle Stimmung für gemeinsamen Protest gegen die Kürzung, für den gemeinsamen Raum. Eine der ersten Ideen war: Wir beauftragen den Beirat der Begegnungsstätte, eine Petition an den Oberbürgermeister zu schreiben. Wir sammeln für die Petition möglichst viele Unterschriften in der ganzen Stadt. Die beiden gewählten Beiräte, Uschi Toleikis und Sigismund Oheim, und ein EX-IN-Fortbildungsteilnehmer, Matthias Behrendt, formulierten folgenden Text:

"Offener Brief
Petition an die Stadt Neumünster

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Dr. Tauras!

Mit großer Sorge mussten wir die Nachricht über den geplanten Kürzungsvorschlag der Verwaltung der Stadt, unseren Ambulanten Dienst und unsere Begegnungsstätte betreffend, zur Kenntnis nehmen.

Die Begegnungsstätte ist für Hunderte von psychisch erkrankten Menschen in Neumünster ein Ort der Begegnung. Dort werden soziale Kontakte auf- und ausgebaut, um eine Isolation/Vereinsamung zu verhindern.

Sie ist für viele Betroffene hier in Neumünster ein Ort, in dem eine familiäre Gemeinschaft sich positiv auf die seelische Erkrankung auswirkt. Das ist gerade in Zeiten knapper finanzieller Mittel und sozialer Ausgrenzung ein Konzept aktiver Lebensgestaltung und eine große Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe.

Für viele Bürger/innen, die zum ersten Mal eine seelische Krise durchlaufen, ist sie eine Anlaufstelle zur Wiedereingliederung ins normale Leben. Sie hilft bei der Bewältigung akuter Krisen.

Auch ist die Begegnungsstätte ein Ort, sich auf gleicher Augenhöhe zu begegnen, und ermöglicht damit ein Leben mit der Erkrankung ohne soziale Ausgrenzung.

Das soziale Miteinander ist beispielhaft, weil wir hier erleben, dass die Krankheit in den Hintergrund rückt. Ein großer Anteil gemeindenaher Teilhabe findet 'hier' statt.

Es werden unterschiedlichste Gruppenangebote und Freizeitaktivitäten angeboten. Wie zum Beispiel die 'Trialogische Seminararbeit', die Frauen- und die Männergruppe, Selbsthilfe in Gruppen und Angehörigenarbeit. Diese Angebote richten sich an diejenigen, die sich hier eine Gemeinschaft und soziale Netzwerke aufgebaut haben.

Wir können hier lernen, unsere Netzwerke in die Stadt hinein auszudehnen und hilf reich für andere Bürger/innen zu sein.

Wir und andere Bürger/innen können hier eine kostenlose Beratung und Unterstützung bei psychiatrischen und psychischen Krisen bekommen.

Die Einbeziehung Betroffener, Angehöriger und Bürger/innen der Stadt in unsere Arbeit ist uns ein wichtiges Anliegen.

Hiermit bitten wir Sie inständig, sich mit aller Kraft für die Belange von psychisch erkrankten Menschen und den vollständigen Erhalt unserer Begegnungsstätte mit den bisherigen Öffnungszeiten und allen Gruppenangeboten einzusetzen. Wir fordern Sie auf die weitere Finanzierung des Ambulanten Dienstes und der Begegnungsstätte der Brücke Neumünster gGmbH in bisheriger Höhe aufrechtzuerhalten."

Sechs Wochen lang standen jeden Donnerstag für eine Stunde Vertreter der Besucher/-innen, Mitarbeiter/-innen und Unterstützer während einer Mahnwache zusammen vor dem Rathaus in Neumünster. Dabei kamen alle mit Passanten ins Gespräch, und es gab eine Welle der Aufmerksamkeit. Besucher/-innen, die wir eher als zurückhaltend, scheu und im Umgang mit schwierigen Situationen als unerfahren kannten, gingen mutig auf die Passanten zu, erklärten, sammelten Unterschriften. Zeitweilig standen interessierte Passanten im kalten Novemberregen zum Unterschreiben an. In der ganzen Stadt wurden Unterschriftenlisten verteilt. Während der Mahnwachen entstanden interessante Gespräche. Viele berichteten über eigene Erfahrungen mit schwierigen Lebensereignissen, die zu Krisen geführt hatten. Andere wollten sich solidarisieren, da sie einen Ort der Begegnung in der Stadt wichtig finden. Wieder andere wollten ein klares Signal setzen: gegen den zunehmenden Abbau sozialer Hilfen und gegen die wachsenden Hürden, an bezahlbare Hilfen zu gelangen. Die Aktiven der Mahnwachen nahmen noch ein besonderes Signal mit: "Wir kennen die Begegnungsstätte oder haben sie jetzt durch eure Aktionen kennen gelernt. Nicht nur ihr braucht sie. Auch die Stadt braucht diese Einrichtung."

"Besonders pfiffig unterstützte uns der Inhaber der 'Brutzelstube'. Bei ihm gab es Currywurst, ein halbes Hähnchen nur gegen Unterschrift"

Institutionen, Geschäftsleute, Nachbarn multiplizierten unser Anliegen. Besonders pfiffig unterstützte uns der Inhaber der "Brutzelstube". Bei ihm gab es Currywurst, ein halbes Hähnchen nur gegen Unterschrift.

1258 Unterschriften konnte der Beirat dem Oberbürgermeister nach der sechswöchigen Aktion übergeben. Wir erreichten mit unserem gemeinsamen Anliegen Personengruppen, deren Unterstützung wir uns nicht sicher waren. Viele junge Erwachsene blieben stehen, ließen sich informieren und unterschrieben die Petition. Mitbürger aus ganz verschiedenen Kulturen interessierten sich für die Begegnungsstätte.

Aber es half alles nichts. Ende November 2010 beschloss die Ratsversammlung mit den Stimmen der CDU und der SPD die zwanzigprozentige Kürzung.

Was bleibt?

Die Besucher/-innen und der Beirat haben in bisher nicht vorstellbarer Weise eigene Stärken entdeckt und eine Rolle deutlicher erkannt: die des Bürgers/der Bürgerin. Sie haben erleben können, dass es gut tut, Zusammenhänge zu verstehen und zu handeln.

Der Kampf um die Angebote der offenen Hilfen verlangt Besucher/-innen und Team viel ab. Viel Zeit und Energie ist darauf verwendet worden. Es scheint sich finanziell nicht zu lohnen, aber es hat wesentlich dazu beitragen können, dass sich die Besucher handlungsfähig, stark und - trotz ihrer seelischen Beeinträchtigung - als geachteter Teil der Bürgerschaft fühlen.

Wir konnten gemeinsam erfahren, dass die strukturierte Mitwirkungsarbeit der vergangenen zehn Jahre, die Förderung der Einzelnen bei der Wahrnehmung ihrer Rechte und die Förderung einer demokratischen, trialogischen Gesprächskultur beeindruckende Erfolge zeigt. Die Atmosphäre in der Begegnungsstätte, der Umgang miteinander, das Engagement Erfahrener als Bürgerhelfer/-innen wären ohne diese kontinuierliche Arbeit nicht möglich.

Ausblick

Begegnungsstätten, ambulante Zentren also offene Hilfen - sind besonders gut geeignet als Grundlage und Voraussetzung für

1. die systematische Weiterentwicklung der Psychoseseminararbeit,
2. die Entwicklung trialogischer Mitwirkung und
3. die trialogische Sozialraumorientierung der Arbeit

Wir können den vorhergehenden Satz nicht mehr beenden mit der Redewendung "... Arbeit für psychisch erkrankte Menschen in der Gemeinde". Das wäre nicht mehr zutreffend. Denn zum einen machen wir immer häufiger die Erfahrung von Zusammenarbeit (Mitarbeiter/-innen, Menschen mit psychiatrischen Erfahrungen, Angehörige), zum anderen haben wir den Eindruck, dass so etwas wie "Gemeindenähe" - bis hin zum Protest mitten in der Gemeinde - in dieser Arbeit überhaupt erst entsteht. Was daran ist ermutigend und zukunftsweisend?

Hier entstehen Räume für den bewussten Umgang mit dem Anderssein des anderen. Der Widerstreit zwischen verschiedenen Arten, anders zu sein, wird gefördert. Die Lebenssituationen bzw. Rollen der verschiedenen Beteiligten werden ernsthaft zum Thema gemacht.

Die Kommunikation (im Psychoseseminar, in Vorbereitungsgruppen, Vollversammlungen in der Begegnungsstätte usw.) ist strukturiert, das heißt auch überschaubar. Die Aufgaben werden für die Mitarbeiter handhabbarer, da auch Grenzen professionellen Handelns erkannt und ausgesprochen werden können.

Für alle Beteiligten gibt es Herausforderungen, neue Aufgaben, neue Handlungsmöglichkeiten zu entdecken. Der subjektive und gemeinsame Sinn der Arbeit, der Begegnung, der Gespräche usw. wird erfahrbar. Ein umfassenderes Verständnis wird gefördert. Die Begegnungen sind nicht mehr überwiegend von Krankheit und Defizit geprägt. Begabungen und Ressourcen können entdeckt und wirksam werden. Mitarbeiter erleben sich hier nicht mehr vorrangig als Stauraum destruktiver Erfahrungen und Emotionen der anderen, sondern vielmehr als Teilnehmende einer konstruktiven Kommunikation. Gemeinsames Lernen wird möglich. Alle Beteiligten wirken mit an neuen Aufgaben, an neuen Vorhaben und erleben sowohl die Wirkung ihres Handelns mit anderen und auf andere als auch Selbstwirksamkeit. Selbstermutigung und Zugehörigkeit werden erfahrbar und gestärkt.

Die Reihe der zukunftsweisenden Aspekte der Arbeit der offenen Hilfen ist hier nicht abgeschlossen. Der Blick auf die Einsichten der Salutogenese (Antonovsky, 1997) ermutigt uns zu der Feststellung: Im Arbeitsfeld offene Hilfen fördern wir das Kohärenzgefühl und damit Schutzfaktoren psychischer Gesundheit für alle Beteiligten, indem auf unterschiedliche Weise folgende Erfahrungen möglich werden:

• Situationen und Aufgaben können verstehbarer werden. Sie werden handhabbarer und überschaubarer. Neue Möglichkeiten können erprobt, aber auch Grenzen können erkennbar werden.

• Die Bedeutung der Aufgaben, der Sinn des gemeinsamen Tuns wird sichtbar. Das Handeln kann einen erfahrbaren subjektiven Sinn und eine gemeinsame Bedeutung erlangen.

Offene Hilfen wirken gesundheitsfördernd und leisten zugleich einen Beitrag zur Umsetzung der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Sie fördern die Selbstbestimmung, die Partizipation und die Zugehörigkeit psychisch erkrankter Menschen. Mit den offenen Hilfen und im Umfeld dieser Arbeit sind wir im Sozialraum angekommen, ist Inklusion schon erfahrbar.

Wir wollen es mal so sagen: Angesichts der drohenden Reduzierung der Mittel für diese Arbeit ist uns klarer geworden, dass wir nicht für den Bestand, nicht für das Festhalten an einem Zustand kämpfen. Vielmehr streiten wir für die Bewahrung der möglichen weiteren Entwicklungen.

Nachdem wir zusammen mit vielen anderen fast dreißig Jahre lang ermutigende Erfahrungen gesammelt haben und in dieser Zeit vieles möglich wurde, was wir uns 1983 noch kaum vorstellen konnten, kommt es uns heute so vor, als könnte es nun jeden Tag überhaupt erst richtig losgehen.

Fritz Bremer ist Diplom-Pädagoge und pädagogischer Leiter der Brücke Neumünster gGmbH. Zahlreiche Veröffentlichungen; Mitinitiator der "Soltauer Initiative für Sozialpolitik und Ethik".

Kathrin Wulff ist Diplom-Sozialpädagogin in der Einrichtungsleitung Ambulanter Dienst der Brücke Neumünster gGmbH.

Kontakt: Die Brücke Neumünster gGmbH,
Ehndorfer Str. 13-19, 24537 Neumünster;
Tel.: (043 21) 4 77 70; Fax: (043 21) 26 12 15.

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 133 - Heft 3, Juli 2011, Seite 13 - 16
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autoren und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
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Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. August 2011

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