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SCHMERZ/539: Schmerz bei Kindern - mehr als nur ein akutes Problem? (Spiegel der Forschung)


Spiegel der Forschung Nr. 1/Juni 2010
Wissenschaftsmagazin der Justus-Liebig-Universität Gießen

Heile heile Segen, sieben Tage Regen ...
Schmerz bei Kindern - mehr als nur ein akutes Problem?

Von Christiane Hermann und Ria Matwich


Wer erinnert sich nicht an diesen oder einen ähnlichen Spruch, mit dem man in der Kindheit getröstet wurde, wenn man einmal Schmerzen als Folge von kleineren Verletzungen oder auch mal Bauch- oder Kopfschmerzen hatte. Diese akuten Schmerzen, die fast jedes Kind kennt, sind meist von kurzer Dauer. Im Gegensatz dazu leidet ein beträchtlicher Anteil von Kindern jedoch an immer wiederkehrenden Schmerzen, hier spricht man von einem chronischen Schmerzproblem. Je nach Studie sind zwischen fünf und 30 Prozent der Kinder von wiederkehrenden oder chronischen Schmerzen betroffen, insbesondere im Jugendalter steigt die Zahl der Betroffenen deutlich an.


Vor allem Kopfschmerzen und Migräne sowie wiederholt auftretende Bauchschmerzen zählen mit einer Prävalenz von jeweils etwa 10 % zu den häufigsten Schmerzsyndromen im Kindesalter, wobei deren Häufigkeit in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat. Weitere Krankheiten, die bei Kindern mit häufigen Schmerzerfahrungen verbunden sind, sind z.B. die chronische juvenile Arthritis und Schmerzen in Folge einer Krebserkrankung. Auch handelt es sich bei einem großen Teil der Betroffenen nicht um eine vorübergehende Erkrankung: So leiden 40 bis 60 % der Kinder und Jugendlichen mit chronischen Kopfschmerzen im Kindesalter auch als Erwachsene noch unter denselben Beschwerden.


Was ist anders als bei Erwachsenen?

Eine wichtige Frage, die erst in den letzten Jahren Beachtung gefunden hat, ist, ob Schmerzen von Kindern und Erwachsenen gleich erlebt werden. Mögliche Unterschiede im Erleben von Schmerz könnten sich dadurch ergeben, dass sich das kindliche Nervensystem noch in der Entwicklung befindet, aber auch dadurch, dass Kinder und Erwachsene Schmerzen subjektiv unterschiedlich bewerten.

Hinsichtlich des ersten Punktes ging man in der Pädiatrie bis in die 70er Jahre sogar davon aus, dass Neugeborene und Säuglinge aufgrund ihres noch undifferenziert entwickelten Nervensystems gar keine Schmerzen empfinden könnten. Heute weiß man, dass dies nicht zutrifft. Im Gegenteil: Die Schmerzschwellen bei Früh- und Neugeborenen sind niedriger, die Schmerzreaktion ist oft stärker als bei Jugendlichen und Erwachsenen. Mittels moderner EEG-Technologie ist es in den letzten Jahren erstmals gelungen, die kortikale Verarbeitung von schmerzhaften Reizen bei Neugeborenen nachzuweisen. Möglicherweise können Schmerzerfahrungen, die früh im Leben gemacht werden, wenn das Zentralnervensystem eben noch nicht vollständig gereift ist, auch langfristig das Schmerzerleben verändern.

In einer Reihe von Studien hat die Arbeitsgruppe um Prof. Christiane Hermann untersucht, ob Schmerzerfahrungen im Kleinkindalter, wie sie z.B. Frühgeborene aufgrund der intensivmedizinischen Behandlung machen oder Kleinkinder, die eine Verbrennungsverletzung erleiden, die Schmerzverarbeitung langfristig verändern können. Dazu wurde bei den Kindern im Alter zwischen zehn und 14 Jahren u.a. die Schmerzschwelle für verschiedene Arten von möglichen Schmerzreizen (Hitzereize, Druckreize oder mechanische Reize) auf der Haut gemessen. Hier zeigte sich u.a., dass insbesondere Kinder mit Verbrennungen mittleren Grades, die während ihres Krankenhausaufenthaltes im Vergleich zu den schwer verbrannten Kindern deutlich weniger Schmerzmedikamente erhielten, erniedrigte mechanische Schmerzschwellen haben. Auch konnte gezeigt werden, dass Frühgeborene im Schulalter auf einen Hitzeschmerzreiz an der Hand eine deutlich stärkere Aktivierung sowohl von Gehirnregionen zeigen, in denen die sensorische Reizverarbeitung stattfindet, als auch von solchen Gehirnregionen, die für die emotionale Reaktion auf Schmerz zuständig sind.

Über die Schmerzverarbeitung, das subjektive Schmerzerleben und die Schmerzbewältigung von Kindern besteht bisher nur unzureichendes Wissen. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass Kinder ihre Schmerzen nicht so ausdrücken und beschreiben können wie Erwachsene. Auch mangelt es noch an speziellen Erhebungsinstrumenten für Kinder. Ein wichtiger Aspekt für den Umgang mit Schmerz scheint zu sein, was Kinder bei ihren Eltern beobachten: Wie gehen Mutter und Vater mit Schmerzen um? Versuchen sie ihre Schmerzen aktiv zu bewältigen und weiter ihren Alltagstätigkeiten nachzukommen, oder reagieren sie eher hilflos und passiv? Das Kind beobachtet dieses Verhalten und entwickelt durch Lernen am Modell sein eigenes Schmerzbewältigungsverhalten. Wie wir in eigenen Studien zeigen konnten, scheinen besonders Kinder von Schmerzpatienten bezüglich ihres Schmerzbewältigungsstils viel von ihren Eltern zu übernehmen.

Ein ganz wichtiger Faktor ist, die konkrete Reaktion der Eltern auf das Schmerzverhalten ihres Kindes: Wenn dem Kind sehr viel Aufmerksamkeit und Zuwendung geschenkt wird, wenn es Schmerzen zeigt, und wenn das Kind in solchen Situationen von unangenehmen Verpflichtungen (Hausaufgaben, im Haushalt helfen etc.) befreit wird, kann dies dazu beitragen, dass Schmerzverhalten gelernt wird, und so dazu führen, dass sich ein chronisches Schmerzproblem entwickelt. Dies hat die Arbeitsgruppe um Prof. Christiane Hermann auch experimentell mittels des so genannten Kaltwassertests geprüft, bei dem die Teilnehmer gebeten werden, den Unterarm in sehr kaltes Wasser (0-10 °C) einzutauchen, wodurch Kälteschmerz ausgelöst wird. Im Unterschied zu Kindern, die keine chronischen Schmerzen hatten, haben Kinder mit rezidivierenden Bauchschmerzen insbesondere dann mehr Schmerz erwartet, wenn ihre Mutter anwesend war. Das soll natürlich nicht bedeuten, dass Eltern Kinder bei akuten Schmerzen nicht trösten und unterstützen sollen - entscheidend ist, dass Aufmerksamkeit und Zuwendung nicht ausschließlich dann gezeigt werden, wenn das Kind Schmerzen äußert.


Was bedeuten wiederkehrende Schmerzen für die betroffenen Kinder?

Rezidivierende Schmerzen stellen für Kinder und für ihre Familien eine große Belastung dar: Kinder werden durch ihre chronischen Schmerzen oft daran gehindert, ihren normalen Alltagsaktivitäten wie Schulbesuch und Freizeitgestaltung nachzugehen, Eltern reagieren zumeist mit großer Sorge auf die Schmerzen ihres Kindes. Es gibt Untersuchungen, nach denen Kinder mit regelmäßigen Schmerzerfahrungen ängstlicher und depressiver sind und über mehr erlebte Stresssituationen berichten als ihre gesunden Altersgenossen.


Wie lassen sich Schmerzen im Kindesalter behandeln?

Eine frühzeitige Intervention bei Schmerzen im Kindesalter ist von großer Bedeutung, denn die Annahme, dass sich das Schmerzproblem einfach "auswächst", ist - wie oben schon erwähnt - häufig falsch. Neben medizinisch-pharmakologischen Maßnahmen gehören Verfahren aus der Verhaltenstherapie und -medizin zu den Standardverfahren. Besonders erfreulich ist, dass Kinder von verhaltenstherapeutischen Programmen sogar noch mehr profitieren als Erwachsene.

Eine gute schmerztherapeutische Behandlung sollte multidisziplinär ausgerichtet sein. Meist gehen Eltern mit dem betroffenen Kind zunächst zu ihrem Kinder- oder Hausarzt. Dort werden die ersten Schritte zur Abklärung möglicher organischer Ursachen in die Wege geleitet. Oft geht es anschließend weiter zu speziellen Fachärzten oder anderen Behandlern (z.B. Physiotherapeuten), häufig ohne durchschlagenden Erfolg. Ähnlich wie bei Erwachsenen hat sich in den letzten 20 Jahren gezeigt, dass auch bei Kindern mit chronischen Schmerzen eine Behandlung besonders dann effektiv ist, wenn nicht nur Schmerzmedikamente, Physiotherapie oder Massagen eingesetzt werden, sondern auch psychologische Maßnahmen zum Einsatz kommen.


Wo finden betroffene Kinder und Jugendliche in Gießen Hilfe?

Hier setzen nun die Behandlungsangebote unseres neu eingerichteten Forschungs- und Behandlungsschwerpunktes "Chronische Schmerzen im Kindes- und Jugendalter" an. Auch hier steht am Anfang eine gründliche Diagnostik. Warum fängt man nicht einfach beherzt mit der Behandlung an, wenn das betroffene Kind doch eindeutig unter Schmerzen leidet? Das wird sich mancher vielleicht fragen. Eine sorgfältige Diagnostik gibt einen guten Einblick in die Ressourcen und Problembereiche eines Kindes und seiner Familie und ermöglicht eine gezielte therapeutische Behandlungsplanung. So werden unnötige oder falsche Behandlungsansätze oder -wege vermieden. Hierzu werden die Eltern und das Kind meist getrennt sowohl zur Schmerzsymptomatik, als auch nach vielen anderen Merkmalen befragt. Möglicherweise bestehen zusätzlich zur Schmerzerkrankung auch noch andere Probleme. Ist das Kind sehr ängstlich, oder hat es insbesondere Angst vor der Schule? Besteht möglicherweise eine Lese-Rechtschreib-Schwäche, so dass Schule vermehrt Stress bedeutet? All dies muss der Therapeut berücksichtigen, um dem Kind und seiner Familie in der Therapie gerecht werden zu können. Die Ergebnisse der Diagnostik werden gemeinsam mit Eltern und Kind besprochen, und Möglichkeiten der weiterführenden Behandlung werden aufgezeigt.

Welche Behandlungsmethoden stehen nun den Schmerzpatienten und ihren Familien zur Verfügung? Der Forschungs- und Behandlungsschwerpunkt "Chronische Schmerzen im Kindes- und Jugendalter" der verhaltenstherapeutischen Ambulanz der Justus-Liebig-Universität Gießen bietet verschiedene Behandlungsverfahren an, die einzeln oder in Kombination angewendet werden können. Grundsätzlich wird auch während der verhaltenstherapeutischen Therapie eng mit den anderen beteiligten Behandlern zusammen gearbeitet, um eine optimale Gesamtbehandlung zu erreichen. So besteht z.B. eine enge Kooperation mit verschiedenen Abteilungen der Kinderklinik der Universität Gießen.

Ein zentrales Element der Behandlung ist die Verbesserung der Schmerzbewältigung, zum Beispiel durch das Erlernen verschiedener Entspannungsverfahren, die Umlenkung schmerzbezogener Aufmerksamkeit oder die Umstrukturierung automatischer negativer Gedanken. Beispielsweise können dem Kind mehrere Entspannungstechniken vermittelt werden, beginnend bei der Progressiven Muskelrelaxation nach Jacobsen über das Autogene Training oder "Wärme-Licht-Traumreisen". Die Umlenkung der schmerzbezogenen Aufmerksamkeit kann dadurch gefördert werden, dass die Kinder lernen, sich bei einsetzenden Schmerzen gezielt auf andere Dinge zu konzentrieren. Die Rolle von "negativen" Gedanken wird besprochen, die dazu führen können, dass Schmerzen besonders intensiv wahrgenommen werden. Zum Beispiel wird Schmerz durch Katastrophisieren der Situation ("Jetzt habe ich schon wieder Kopfschmerzen - das geht bestimmt die ganze Woche noch so weiter.") oder Verallgemeinerungen ("Ich kann gar nichts gegen meine Schmerzen tun, ich bin ein Versager!") noch schlimmer erlebt. Gemeinsam mit dem Kind werden dann hilfreiche Gedanken entwickelt und geübt, wie zum Beispiel: "Wenn ich das anwende, was ich schon in der Therapie gelernt habe, gehen die Schmerzen vielleicht bald wieder weg", oder: "Ein paar Dinge kann ich schon gegen meine Schmerzen tun, ich bin nicht mehr ganz so hilflos".

Des Weiteren ist der Ausbau der Stressbewältigungsfähigkeiten von besonderer Bedeutung in der Schmerztherapie. Hier wird den Kindern vermittelt, ihre Belastungsgrenzen besser kennen zu lernen, um Überforderungen vorzubeugen oder individuelle Stressquellen zu erkennen.

Zusätzlich werden verschiedene Biofeedback-Methoden eingesetzt. Biofeedback hilft, Körperreaktionen besser wahrnehmen und regulieren zu können. Biofeedback hat sich insbesondere bei Kindern, die an Kopfschmerzen leiden, sehr gut bewährt. Beim Biofeedback werden Körperreaktionen (z.B. Durchblutung der Haut, Muskelspannung, Gehirnaktivität) mittels Elektroden aufgezeichnet und auf dem PC-Bildschirm dargestellt oder akustisch zurückgemeldet ("feedback"). Der Patient kann dann Strategien ausprobieren und üben, wie die körperliche Reaktion beeinflusst werden kann. Beispielsweise lässt sich so gut erlernen, die Muskelanspannung zu verringern.

Ein weiterer Baustein des Forschungs- und Behandlungsschwerpunktes "Chronische Schmerzen im Kindes- und Jugendalter" ist die Elternarbeit. Eltern sollten über das Schmerzproblem aufgeklärt und darüber informiert werden, wie das Kind besser mit Schmerz umgehen kann. Für viele Eltern ist es hilfreich zu wissen, wie sie durch ihr eigenes Verhalten das Kind unterstützen können, damit der Schmerz langfristig weniger Raum im alltäglichen familiären Leben einnimmt. Hierzu finden gezielte Beratungs- und Coaching-Gespräche statt.

Der Erfolg einer solchen Behandlung spricht für sich: Bei der Mehrzahl der Patienten tritt danach eine deutliche Reduktion der erlebten Schmerzen ein. Ein Ziel des neu etablierten Forschungs- und Behandlungsschwerpunkts "Chronische Schmerzen im Kindes- und Jugendalter" ist es, die Ergebnisse grundlagenorientierter Forschung noch unmittelbarer in der Behandlungspraxis zu berücksichtigen und umzusetzen, bestehende Behandlungsverfahren zu optimieren und neue Behandlungsansätze zu entwickeln.


Die Autorinnen

Christiane Hermann, 1991 Diplom in Psychologie, Universität Tübingen, 1991-1995 Forschungsaufenthalt am Center for Stress and Anxiety Disorders, Albany, NY, USA, 1994 Promotion an der Universität Tübingen, 1996-1999 Forschungsstipendium, Humboldt Universität Berlin, 2000-2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim, 2006 Ruf auf die Professur für Klinische Psychologie der Universität Leipzig, April 2008 Berufung auf die W3-Professur für Klinische Psychologie, an der Universität Gießen, approbierte Psychologische Psychotherapeutin und Psychologische Schmerztherapeutin, Forschungsschwerpunkte u.a. experimentelle Schmerzforschung im Kindes- und Jugendalter, langfristige Konsequenzen von frühen Schmerzerfahrungen, sozialer Kontext und Schmerzerleben.

Ria Matwich, Jahrgang 1982, Diplompsychologin, arbeitet seit Oktober 2009 als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungs- und Behandlungsschwerpunkt "Chronische Schmerzen im Kindes- und Jugendalter" der Universität Gießen. Sie studierte an der Philipps-Universität Marburg, Diplomabschluss: 2007. Darauf aufbauend absolviert sie die Ausbildung zur Kinder- und Jugendpsychotherapeutin.


Interessenten
Interessenten für das Behandlungsangebot "Chronische Schmerzen bei Kindern" können sich direkt an Dipl.-Psych. Ria Matwich (Telefon: 0641/209-3302; E-Mail: schmerz@psychol.uni-giessen.de) wenden.

Kontakt
Prof. Dr. Christiane Hermann
Dipl.-Psych. Ria Matwich
Justus-Liebig-Universitat Gießen
Abteilung für Klinische Psychologie
Otto-Behaghel-Straße 10, Haus F
35394 Gießen
E-Mail: schmerz@psychol.uni-giessen.de
christiane.hermann@psychol.uni-giessen.de


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Quelle:
Spiegel der Forschung Nr. 1/Juni 2010, 27. Jahrgang, S. 64-69
Wissenschaftsmagazin der Justus-Liebig-Universität Gießen
Herausgeber: Der Präsident der Justus-Liebig-Universität Gießen
Pressestelle der JLU Gießen
Ludwigstraße 23, 35390 Gießen
Tel.: 0641/99-120 40; Fax: 0641/99-120 49
E-Mail: pressestelle@uni-giessen.de
Internet: www.uni-giessen.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. August 2010