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INFEKTION/1107: Antibiotika-Resistenz - Die Welt bewegt sich auf die Zeit vor 100 Jahren zurück (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 12/2009

Antibiotika-Resistenz
Die Welt bewegt sich auf die Zeit vor 100 Jahren zurück

Von Uwe Groenewold


Tuberkulose-Forscher Prof. Carl Nathan aus New York war vor der Verleihung des Robert-Koch-Preises zu Gast in Schleswig-Holstein.


Hoher Besuch in Schleswig-Holstein: Der weltweit renommierte Infektionsforscher Prof. Carl Nathan vom Weill Medical College der Cornell University New York war Ende Oktober für zwei Tage Gast des norddeutschen Exzellenzclusters "Entzündung an Grenzflächen", einem Elite-Forschungsverbund der Universitäten Kiel und Lübeck, des Forschungszentrums Borstel, des Max-Planck-Instituts in Plön sowie des Leibniz-Zentrums für Infektionen (siehe Infokasten). Er stattete den beiden Universitätsklinika einen Besuch ab und hielt im Herrenhaus des Forschungszentrums Borstel eine sogenannte Cluster Lecture, die sich mit dem Zusammenhang zwischen Infektionen und chronischen Entzündungskrankheiten befasste. Einige Tage später wurde Nathan bei einem Festakt in Berlin mit dem mit 100.000 Euro dotierten Robert-Koch-Preis 2009 ausgezeichnet.

Weltweit ist jeder Dritte mit dem Erreger Mycobacterium tuberculosis infiziert. Häufig verläuft eine Infektion symptomlos und bleibt unbemerkt, dennoch erkranken jährlich weltweit mehr als neun Millionen Menschen an Tuberkulose, 1,7 Millionen sterben an dem infektiösen Lungenleiden. Zunehmend werden Erkrankungen mit multiresistenten Tuberkuloseerregern (MDR-TB) beobachtet, die auf die beiden wichtigsten TB-Medikamente Isoniazid und Rifampicin nicht mehr reagieren; 2006 waren es nach WHO-Angaben mehr als eine halbe Million. Auch die Zahl der extrem resistenten Tuberkulosen (XDR-TB), die zusätzlich gegen weitere Antibiotika unempfindlich sind, steigt stark an.

"Trotz dieser bedrohlichen Situation hat sich die pharmazeutische Industrie weitgehend aus der Antibiotika-Forschung zurückgezogen", beklagte Prof. Nathan. Seine düstere Vision: "Die Welt bewegt sich, was die Tuberkulose angeht, auf die Zeit vor mehr als 100 Jahren zurück, also auf die prä-antibiotische Phase zu Zeiten Robert Kochs, des Entdeckers der Tuberkelbakterien. Damals gab es keine heilenden Medikamente und jeder zweite Tuberkulosepatient starb. Heute liegt die Sterblichkeit der MDR-TB bei 50 bis 60, die der XDR-TB sogar bei bis zu 80 Prozent." In Deutschland sind solche Fälle noch relativ selten, auch die Zahl der jährlichen Neuerkrankungen ist mit etwa 5.000 seit Jahren rückläufig. Angesichts zunehmender Flug- und Reisebewegungen und zunehmender Einwanderung steige das Infektionsrisiko mit MDR-TB jedoch stark an.

Die Entwicklung solcher Resistenzen wird maßgeblich durch die oft schwierige Praxis der Tuberkulosebehandlung in den am härtesten betroffenen Regionen Länder der ehemaligen Sowjetunion und viele Entwicklungsländer in Asien und Afrika - sowie durch die ungewöhnliche Dauer der Behandlung beeinflusst. "Die sogenannte Kurzzeittherapie der Tuberkulose dauert sechs Monate; man nimmt zwei Monate lang vier Medikamente und danach vier Monate lang zwei Medikamente gleichzeitig. Das macht niemand gern und nur die wenigsten halten es durch", sagte Prof. Nathan. Außerdem sind in vielen Ländern die benötigten Medikamente nicht vorhanden oder es werden ähnliche oder gefälschte Substanzen verabreicht. Wird aber nur ein Medikament ausgelassen, gewinnt ein bereits mutierter, resistenter Erregerstamm die Oberhand. Jeder Patient infiziert schätzungsweise 10 bis 20 weitere Menschen; diese bekommen dann einen Erreger, der bereits gegen ein Antibiotikum resistent ist. Prof. Nathan: "So schreitet der Prozess immer weiter voran."

Um die Übertragung multiresistenter Tuberkulosen zu verhindern, müsse man vor Ort in den am meisten betroffenen Regionen rasch die richtige Diagnose stellen und die Erkrankung mit wirksamen Medikamenten behandeln, so Nathan. Davon sei man noch weit entfernt, wenngleich es unter anderem auch am Forschungszentrum Borstel vielversprechende Entwicklungen gebe: "Die schleswig-holsteinischen Wissenschaftler optimieren molekulare und immunologische Testsysteme, um eine spezifische Diagnose zu erstellen und eine schnelle Resistenzbestimmung des Tuberkulose-Erregers durchzuführen." Borstel ist seit Jahren ein Zentrum der internationalen Tuberkuloseforschung; hier werden jährlich Tausende Proben aus aller Welt auf die Resistenzprofile der Erreger untersucht. In den Laboren wird Grundlagenforschung betrieben, in der spezialisierten Klinik können Patienten mit schweren TB-Verläufen behandelt werden.

Ob und wie sich die Forschungsaktivitäten der Wissenschaftler diesseits und jenseits des Atlantiks unter einen Hut bringen lassen, wollen beide Seiten jetzt prüfen. Möglichkeiten der Zusammenarbeit sehe er schon, betonte Nathan: "Zum Beispiel wurde in der Gruppe meines Borsteler Gastgebers Prof. Stefan Ehlers ein neues Tuberkulosemodell entwickelt, mit dem Medikamente unter kliniknahen Bedingungen auf ihre Wirksamkeit überprüft werden können. Ich selbst arbeite an neuen Substanzen, die dann in solchen Modellen getestet werden müssen."

Einen vielversprechenden Therapieansatz hat Prof. Nathan in der Septemberausgabe von "Nature" skizziert. In dem Beitrag beschreibt er zwei Substanzen, die einen lebenswichtigen Stoffwechselweg im Mycobacterium tuberculosis lahmlegen, sodass der Krankheitserreger in der Folge an seinen eigenen Schadstoffen erstickt. Ob und wann solche Ansätze zu marktreifen Medikamenten werden, ist unklar. Doch auch wenn die Erkrankung bislang nichts von ihrem Schrecken verloren hat, ist Prof. Nathan sicher, dass die Tuberkulose eines Tages weltweit eingedämmt sein wird. "Infektionserreger wie das Pockenvirus haben wir bereits ausgerottet und stehen beim Poliovirus kurz davor. Aus diesen Erfahrungen können wir lernen. Wir benötigen jedoch eine neue Diagnostik, neue Impfstoffe und neue Antibiotika. All das lässt sich nur mit sehr großen, gemeinsamen internationalen Anstrengungen realisieren - auch finanziellen."

Warum Nathan gerade die Tuberkulose zu seinem besonderen Steckenpferd gemacht hat, wo doch die Erkrankungszahlen in der zivilisierten westlichen Welt seit Jahren rückläufig sind, ist für ihn keine Frage. Zum einen ist er der Meinung, dass die "allgemeine Resistenzentwicklung von Infektionserregern gegen Antibiotika ein Problem der ganzen Welt ist, dem wir uns gemeinsam stellen müssen." Zum anderen sei der Erreger so außergewöhnlich, weil sein einziger Wirt der Mensch ist. "Wir sind evolutionsmäßig mit dem Mycobakterium groß geworden. Wenn unser Immunsystem es geschafft hätte, es vollständig zu beseitigen, würden wir heute nichts mehr davon wissen. Hätte das Bakterium den Kampf gewonnen, gäbe es uns nicht mehr. Die Tuberkulose spiegelt praktisch die Möglichkeiten und Grenzen unseres Immunsystems wider."


Infokasten

Das Leibniz-Zentrum für Infektionsforschung (LCI) ist ein norddeutsches Gemeinschaftsprojekt von SchleswigHolstein und Hamburg. Dem vor vier Jahren gegründeten virtuellen LCI gehören das Forschungszentrum Borstel (mit dem Schwerpunkt bakterielle Infektionen) sowie das Bernhard-Nocht-Institut (parasitäre Infektionen) und das Heinrich-Pette-Institut (virale Infektionen) aus Hamburg an. Enge Kooperationen bestehen mit dem Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) sowie mit den Uni-Standorten Kiel und Lübeck. Das LCI ist das deutsche Zentrum für weltweit auftretende Infektionen wie AIDS, Malaria und Tuberkulose, die für ein Drittel aller Todesfälle in der Welt verantwortlich sind. Das LCI beschäftigt 300 Wissenschaftler, verfügt über ein Gesamtbudget von 50 Millionen Euro und betreibt eine Graduiertenschule zum Thema "Modellsysteme für global auftretende Infektionen". Weitere Informationen im Internet unter www.fz-borstel.de.


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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 12/2009 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2009/200912/h09124a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Prof. Carl Nathan (li.) und Prof. Stefan Ehlers
- Das Herrenhaus des Forschungszentrums Borstel


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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Dezember 2009
62. Jahrgang, Seite 56 - 57
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Mai 2010