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DIABETES/1285: Sport - Eigene Regeln für Medikamenteneinnahme und Kohlenhydrate finden! (DJ)


Diabetes-Journal 10/2009 - aktiv gesund leben

Diabetes & Sport
Medikamente und Kohlenhydrate: Eigene Regeln finden!

Von Detlev Kraft


"Sport sollen wir treiben!" machte Frau Reinhold ihrem Ärger Luft. "Hat der Doktor jedenfalls gesagt, und haben wir auch getan! Jeden Morgen eine Stunde geradelt und jeden Abend ein langer Spaziergang! Und was hat man nun davon? Schon zweimal hat mein Mann schwer unterzuckert! Und mir ist nach dem Radfahren jedesmal speiübel, ich bin dann immer ganz blau im Gesicht und habe ein paarmal sogar brechen müssen! Was sich unser Doktor bloß bei so was denkt! Das mit dem Sport verträgt sich doch überhaupt nicht mit unserem Alter und erst recht nicht mit unserem Zucker!"

"Mit eurem Alter wohl und mit eurem Zucker erst recht", nahm ich Frau Reinholds Hausarzt in Schutz. "Aber anscheinend nicht mit euren Medikamenten, so wie ihr sie einnehmt..."


­... die diabetische Stoffwechsellage allein steht einer körperlichen Betätigung nämlich nicht entgegen, im Gegenteil! Allerdings sind wegen der meist nötigen Medikamenteneinnahme einige Dinge zu beachten. Im Folgenden finden Sie Hinweise, die aber von jedem Einzelnen individuell mit dem behandelnden Arzt zu besprechen sind.


Sulfonylharnstoffe mit Risiko für Unterzuckerung

Sulfonylharnstoffe erhöhen die körpereigene Insulinproduktion, teils auch überschießend: Dadurch kann es während des Sports und in den Stunden danach zu einer Unterzuckerung kommen. Mehrere Anpassungsmöglichkeiten gibt es:

1. Die letzte Medikamenteneinnahme vor dem Sport reduzieren oder ganz ausfallen lassen.

2. Den Glukosemehrverbrauch durch den Verzehr zusätzlicher Kohlenhydrate ("Sport-BE") vor dem Sport kompensieren.

3. Sport nicht in der Zeit des Wirkungsmaximums Ihres Medikaments ausüben: Trainingszeit verschieben (einige Stunden später, wenn die Wirkung der letzten Tablette nachgelassen hat) oder den Zeitpunkt der Medikamenteneinnahme (die Pillen nicht vor dem Sport einnehmen, sondern hinterher).

4. Kombination aus den genannten Möglichkeiten, z. B. eine etwas zurückgenommene Medikamentendosis plus zusätzliche Kohlenhydrate vor dem Sport.

Leider haben die Anpassungsmöglichkeiten gewisse Nachteile:

 • Ein Herabmindern der Sulfonylharnstoffdosis vor dem Sport geht mit einem verringerten Hypoglykämierisiko einher nur lässt sich der Effekt nicht exakt auf die Trainingszeit beschränken. Eine verringerte Insulinsekretion, die für die Zeit der körperlichen Belastung durchaus passend wäre, reicht für die erholsame Nachbelastungszeit womöglich nicht mehr aus. Folge: Ihr Blutzuckerspiegel steigt dann an.

 • Wenn durch Sport das Gewicht reduziert werden soll, sollte man nicht das Unterzuckerungsrisiko durch den Verzehr zusätzlicher Kohlenhydrate senken; hier sollten Sie mit Zeitverschiebungen arbeiten und/oder die Medikamentendosis vor dem Sport verringern. Zusätzliche Kohlenhydrate zuführen - das kann für jemanden, der abspecken möchte, nur dann das Mittel der Wahl sein, wenn es eine akute Unterzuckerung zu beheben gilt.


Glinide wirken schnell

Auch Glinide verstärken die körpereigene Insulinproduktion, wirken aber viel schneller und kürzer. Sofern Sie mit Ihrem Training frühestens anderthalb Stunden nach der Einnahme loslegen, reduzieren Sie das Hypoglykämierisiko deutlich. Wollen Sie Sport aber während der Wirkdauer der Glinide ausüben (eine Radtour gleich nach dem Mittagessen), sollten Sie die Medikamentendosis kürzen (oder ganz ausfallen lassen) oder zusätzliche Kohlenhydrate verzehren.


Alpha-Glukosidase-Hemmer

Wenn Sie nichts außer Alpha-Glukosidase-Hemmern einnehmen, können Sie nicht unterzuckern. Kommt es dann auf einen schnellen Blutzuckeranstieg an (vor dem Tennisspiel, um für das Match genug Energie zu haben), müssen Sie reinen Traubenzucker essen.


Biguanide

Biguanide (Metformin) unterdrücken die körpereigene Zuckerneubildung in der Leber. Sie behindern aber auch die Zellatmung, wodurch es bei körperlicher Belastung zu Sauerstoffmangelzuständen in der beanspruchten Muskulatur und im gesamten Organismus kommen kann. Solche Sauerstoffmangelzustände führen zwangsläufig zu Leistungseinschränkungen und letztendlich zu einer Übersäuerung des Blutes mit Milchsäure (Laktatazidose). Sie können dieses Risiko dadurch herabsetzen, dass Sie

1. die Belastungsintensität niedrig halten,

2. die Medikamenteneinnahme vor dem Sport reduzieren oder ganz auslassen,

3. Training und Medikamenteneinnahme so timen, dass Sport und Wirkungsmaximum nicht zusammenfallen (also das Training auf Zeiten legen, in denen die Wirkung des Medikaments ausklingt - oder die Tabletten erst nach dem Sport nehmen),

4. sich beim Sport nicht dauernd belasten, wenn die Trainingsintensität klar über dem Ruheniveau liegt. Also keine langen Fahrradtouren in scharfem Tempo! Wenn Sie sich intensiv belasten wollen, gilt es, häufige Erholungsintervalle einzulegen, in denen Sie immer wieder vollständig zu Atem kommen!


Glitazone und Muskeln

Durch Glitazone sprechen Muskel- und Fettgewebe besser auf Insulin an. Sie selbst machen keine Stoffwechselentgleisungen; in Kombination mit Sulfonylharnstoffen indes sollten Sie mit Unterzuckerungen rechnen. Da körperliche Aktivität die Insulinwirkung ohnehin verbessert, kann regelmäßige sportliche Betätigung eine Medikation mit Glitazonen überflüssig machen.


Stoffwechselentgleisungen

Die Laktatazidose bezeichnet einen Anstieg des Stoffwechselendprodukts Milchsäure im Blut bis in den krankhaften Bereich. Unter körperlicher Belastung steigt der Laktatgehalt des Blutes - abhängig von der Belastungsintensität. Symptome einer Laktatazidose sind Atemnot, Übelkeit, Schwächegefühl und Muskelbeschwerden: Das reicht von schmerzenden, eingeschlafenen, abgeschnürten Gliedmaßen über Kribbeln und Ameisenlaufen in der beanspruchten Muskulatur bis hin zu Muskelversagen und -krämpfen. Vor allem unter Metformintherapie ist häufig eine Übersäuerung des Blutes mit Milchsäure zu beobachten.

 • Zuverlässig abklären lässt sich die Milchsäurekonzentration durch eine Messung des Laktatgehalts. Die Kontrolle mit Messgerät und Teststreifen erfolgt wie ein Blutzuckertest (absoluter Sauerstoffmangel ab einem Laktatgehalt von 7 mmol/l).

 • Vorbeugende Maßnahmen für die Sportpraxis haben wir genannt unter "Biguanide" (Metformintherapie).

 • Akutmaßnahmen sind ein sofortiger Belastungsabbruch, Sauerstoffzufuhr (frische Luft, freie Atmung, keine beengende Kleidung) und Flüssigkeitszufuhr.


Bei Insulinüberschuss...

Bei einem mit Sulfonylharnstoffen oder mit Gliniden behandelten Diabetiker kann ein Insulinüberschuss den Blutzuckerspiegel in den pathologischen Bereich senken - Unterzuckerung! Der sporttreibende Betroffene erkennt nicht immer die Anzeichen und ordnet sie richtig ein, weshalb er von einer Unterzuckerung überrumpelt werden kann. Dann ist Fremdhilfe erforderlich durch Sportkameraden oder den Trainer. Also gilt:

 • Sie sollten Ihre Sportkameraden über die Symptome informieren, damit sie sie erkennen und richtig deuten können. Die Merkmale einer Unterzuckerung wie Schwitzen, Zittern, hoher Puls könnten als Begleiterscheinungen einer körperlichen Anstrengung fehlinterpretiert werden.

 • Sie sollten Traubenzucker oder Glukosesirup bei sich tragen! Im Handschuhfach des Autos auf dem Parkplatz nutzt Ihnen der Traubenzucker nichts!

 • Sollte es während des Sports zu einer Hypoglykämie kommen, müssen Sie Ihr Training abbrechen. Es sollte dann auch nicht wieder fortgeführt werden.

 • Um das Unterzuckerungsrisiko zu minimieren, sollten Sie kurz vor und nach dem Sport, ggf. auch während des Sports, Ihren Blutzuckerspiegel messen.


Die Kernfrage

Die Kernfrage lautet: Wie werden Medikation und Kohlenhydrataufnahme an die körperliche Belastung angepasst? Nun, es gibt keine allgemeingültige Formel! Immer wieder gibt es Fragen wie: "Wie viele BEs brauche ich zusätzlich, wenn ich eine halbe Stunde Fußball spiele? Welchen Blutzuckerabfall kann ich von einer Stunde Aerobic erwarten?" Es gibt keine universellen Antworten. Dazu spielen zu viele Größen eine entscheidende Rolle: der aktuelle Ausgangsblutzuckerwert, Ihr Trainingsniveau, die Tageszeit, zu der Sie Sport treiben, die Art der sportlichen Betätigung (Fitnesstraining? Yoga? Fußball?), bis hin zu Art und Menge der zuvor verzehrten Kohlenhydrate bzw. der zuvor eingenommenen Medikamentendosis. Empfehlungen der Art "Pro 15 Minuten Schwimmen brauchen Sie eine Zusatz-BE vor dem Sport. - Für jeden Kilometer Jogging eine. - Vor dem Handballspiel sollten Sie Ihre Medikamente weglassen." basieren durchweg auf individueller Erfahrung. Sie mögen als Anregungen für das eigene Ausprobieren gelten, gesetzmäßig sind sie jedoch nicht! Experimentierfreude ist angesagt; mittels Blutzuckerselbstkontrollen und Eigenbeobachtung sind Ihre individuellen Anpassungsregeln dann ständig im Auge zu behalten.


TIPP

Besprechen Sie mit Ihrem Diabetologen, ob die Anregungen, die wir Ihnen hier für ein Anpassen der Medikation geben, auch für Ihren speziellen Fall gelten und bedenkenlos umgesetzt werden können!


Einige Hinweise

Folgendes sollten Sie beachten:

 • Kurzzeitige Belastungen unter 30 Sekunden bedürfen keines zusätzlichen Kohlenhydratangebots und keiner Medikamentenanpassung, egal, wie intensiv sie auch ausfallen mögen.

 • Bei ganztägigen Belastungen wie Radrennen oder Trekkingtour sollten Sie Sulfonylharnstoffe und Glinide deutlich reduzieren. Während und nach Beendigung langdauernder Aktivitäten sind engmaschige Blutzuckermessungen unumgänglich.

 • Bei mehrtägigen Belastungen (Radwanderung, Aktivurlaub) sinkt der Medikamentenbedarf beständig: Die Insulinempfindlichkeit ist durch die Belastung deutlich erhöht, die Glykogenspeicher sind aber nach der Muskelarbeit am Vortag noch nicht wieder aufgefüllt; Folge: Eine Medikamentenanpassung, die am ersten Tag richtig war, passt am zweiten schon nicht mehr. Man muss dann womöglich weiter die Dosis reduzieren und die Kohlenhydratzufuhr steigern.

 • Sie müssen Ihre individuellen Insulinsensitivitätszeiten kennen und berücksichtigen! Die Insulinwirkung ist im Tagesverlauf nicht gleichbleibend; was für eine Stunde Schwimmen am Montagabend gilt, gilt noch lange nicht für den Waldlauf am Samstag morgen! Wird während der maximalen Insulinwirkung Sport getrieben, so können zur Abwendung einer Hypoglykämie recht viele BEs bzw. ganz erhebliche Sulfonylharnstoffreduktionen erforderlich sein.

 • Der blutzuckersenkende Effekt der Muskelarbeit reicht weit in die Nachbelastungsphase hinein und kann nach Extrembelastungen auch am Folgetag bestehen (Muskelauffülleffekt). Besonders dann, wenn abends ein erschöpfendes Training absolviert worden ist, droht Sulfonylharnstoffpatienten eine Unterzuckerung in den Nachtstunden (im Schlaf); um das Risiko gering zu halten, sollten Sie nach einem anstrengenden Abendtraining Ihren Blutzuckerspiegel im hochnormalen Bereich halten (110 bis 130 mg/dl bzw. 6,1 bis 7,2 mmol/l) und/oder die Sulfonylharnstoffdosis verringern. Ausprobieren!


Lieber leicht erhöht...

 • Im Zweifelsfalle gehen wir immer von einer verstärkten Medikamentenwirkung aus! Lieber zu viel Sulfonylharnstoffe, Glitazone oder Metformin reduzieren und einen leicht erhöhten Blutzuckerwert nachkorrigieren als eine Unterzuckerung oder eine Laktatazidose riskieren!


Grundsätzlich gilt für sporttreibende Diabetiker:

 • Wer ganz sicher gehen möchte, überlegt sich vor Trainingsbeginn genau, welche Belastungen bevorstehen, um Medikation und Nahrungsaufnahme darauf abstimmen zu können. Treten unvorhergesehene Änderungen wie ein intensives Konditionstraining statt der geplanten Yogastunde ein, steigt das Risiko für eine Unterzuckerung oder Laktatazidose.

 • Für medikamentös behandelte Diabetiker kommen nur Sportangebote in Frage, die es erlauben, Belastungsdauer und - intensität frei wählen, jederzeit anpassen und bei Bedarf auch abbrechen zu können. Werden die Belastungskomponenten von Mit- und Gegenspielern bestimmt, erhöht sich das Risiko einer Unterzuckerung oder Laktatazidose.

 • Sie müssen jederzeit Blutzucker- und Laktatmessungen machen und die Konsequenzen daraus ziehen können: Belastungsabbruch, Kohlenhydrat- und Flüssigkeitsaufnahme. Ob es dem Trainer oder den Mannschaftskameraden passt oder nicht!

 • Schon nach kurzem Training hat sich die Insulinempfindlichkeit meist klar verbessert, so dass Sie deutlich sensibler auf eine muskuläre Belastung reagieren. Bei vielen muss die Dosierung Ihrer Medikamente nun schrittweise zurückgenommen werden.


Kickbox-Weltmeister
Autor Detlev Kraft ist Diplomsportlehrer, Buchautor, Typ-1-Diabetiker und war mal Kickbox-Weltmeister. Seit Jahren schreibt er fürs Diabetes-Journal

Buch-Tip
Sport mit Diabetikern von Detlev Kraft, Kirchheim-Verlag, Mainz; 17,90; ISBN 978-3-87409-424-5; erhältlich überall im Buchhandel, unter Tel.: 0711/6672-1483 oder im Internet unter www.kirchheim-buchshop.de.


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Medikamente statt mehr Bewegung: Die meisten Menschen bewegen sich heute viel zu wenig. Das gilt auch für Menschen, die Diabetes haben. Viele nehmen Medikamente ein - die dann, wenn man den Weg zu mehr Bewegung doch irgendwann wagt, angepasst werden müssen.

- Die Kernfrage: Wie stimmt man seine Medikamente und die Kohlenhydratzufuhr richtig ab auf körperliche Belastung? Es gibt keine allgemeine Formel. Jeder muss experimentieren und seine eigenen Regeln finden.

- Sport und Muskelarbeit: Lieber zuviel Medikamente reduzieren (Sulfonylharnstoffe, Glitazone oder Metformin) und einen leicht erhöhten Blutzuckerwert nachkorrigieren, als eine Unterzuckerung oder eine Übersäuerung des Bluts zu riskieren!


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Quelle:
Diabetes-Journal 10/2009, Seite 46 - 49
Herausgeber: Verlag Kirchheim + Co GmbH
Kaiserstr. 41, 55116 Mainz
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E-Mail: info@kirchheim-verlag.de
Internet: www.diabetes-journal.de

Das Diabetes-Journal erscheint monatlich.
Einzelheft: 3,80 Euro
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Diabetes-Journal gibt es auch auf CD als
Daisy/MP3-Hörzeitschrift für Blinde und Sehbehinderte:
Westdeutsche Blindenhörbücherei
Harkortstr. 9, 48163 Münster, Tel.: 0251/71 99 01


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. November 2009