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AIDS/749: HIV - Tägliche, lebenslange Einnahme von Medikamenten ein Muß (JOGU Uni Mainz)


[JOGU] Nr. 208, Mai 2009
Das Magazin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Ganz oder gar nicht
Tägliche, lebenslange Einnahme von Medikamenten ein Muss

Von Frank Wittmer


In den letzten Jahren wurden immer bessere und nebenwirkungsärmere Präparate entwickelt, neue pharmakologische Mechanismen erforscht und auch die Einnahmefreundlichkeit verbessert. Insgesamt ist die Behandelbarkeit der HIV-Infektion sicherlich einer der größten Erfolge der Schulmedizin in den letzten Jahrzehnten! Dr. Jens Kittner, Internist und Infektiologe, betreut zurzeit etwa 300 HIV-Infizierte an der Universitätsmedizin Mainz. Sein Anliegen: nach wie vor vorhandene Vorurteile gegenüber HIV-Infizierten endlich abzubauen.

"Was wir uns wünschen, ist ein möglichst normaler Umgang der Gesellschaft mit dem Thema HIV. Tabuisierung und Diskriminierung sind in jeder Hinsicht kontraproduktiv, ja schädlich", so das eindringliche Plädoyer von Dr. Jens Kittner, Internist und Infektiologe an der Universitätsmedizin Mainz. "Das Wissen über HIV ist in Deutschland im internationalen Vergleich zum Glück recht gut. Aber es findet nach wie vor eine Benachteiligung von Betroffenen statt." Dass selbst heute noch die generelle Situation weit davon entfernt ist optimal zu sein, ist ihm in seinen Erfahrungen als Assistenzarzt an der HIV-Ambulanz der I. Medizinischen Klinik und Poliklinik der Universitätsmedizin Mainz schmerzlich bewusst. Selbst bei manchen seiner Kollegen muss er mit Vorurteilen gegenüber HIV-Infizierten kämpfen.

HIV und AIDS waren in den 80er und 90er Jahren in den Medien sehr präsent, kamen aber seither gründlich außer Mode, Informationen über die Entwicklung der letzten Jahre fehlen.

Vielen ist der Unterschied zwischen einer HIV-Infektion und AIDS nicht bewusst: Eine Ansteckung mit dem Humanen Immunschwäche-Virus (HIV) führt - wenn nicht rechtzeitig behandelt wird - nach einer unterschiedlich langen, in aller Regel mehrjährigen Latenzzeit zum "Vollbild AIDS" (acquired immunodeficiency syndrome = erworbenes Immundefektsyndrom): Aufgrund der Immunschwäche treten dann lebensbedrohliche Infektionen mit Erregern auf, die beim Immungesunden gar keine Schäden anrichten würden.

Dr. Kittner ist nach seiner Ausbildung zum Internist und Infektiologen an der Medizinschen Hochschule Hannover seit Mitte 2007 an der Universitätsmedizin Mainz tätig und betreut dort etwa 300 HIV-Infizierte, des Weiteren etwa 700 Patienten mit chronischer Virushepatitis. Hat sich an der Betreuungs- und Behandlungsfront in den letzten Jahren etwas geändert? "Wir sind froh, dass wir jetzt im Moment so gut wie jedem HIV-Patienten unabhängig von Vorbehandlung und Verlauf der Erkrankung eine medikamentöse Therapie anbieten können" erläutert Kittner und führt das vor allem auf das starke Forschungs-Engagement der Pharma-Industrie zurück: "Seit 1996 hat sich vieles getan, das war ein Durchbruchs-Jahr! Seitdem ist die Behandlung mit einer Wirkstoffkombination - zumeist aus mindestens drei Komponenten - Standard. In den letzten Jahren wurden immer bessere und nebenwirkungsärmere Präparate entwickelt, neue pharmakologische Mechanismen erforscht und auch die Einnahmefreundlichkeit verbessert. Insgesamt ist die Behandelbarkeit der HIV-Infektion sicherlich einer der größten Erfolge der Schulmedizin in den letzten Jahrzehnten!" Die wirtschaftlichen Aspekte sind dabei nicht unbedeutend. "Es ist erstaunlich zu sehen, wie Forschung sich beschleunigt, wenn ökonomische Interessen dahinterstehen". Kein Wunder, bei reinen Medikamentenkosten von 15-20.000 Euro pro Patient und Jahr. "In der Forschung sind in diesem Bereich die USA führend. Indien tut sich hingegen in der großindustriellen Produktion von Generika hervor, die für die armen Länder sehr wertvoll sind. In Deutschland wird leider - vor allem von staatlicher Seite - zu wenig Geld für die HIV-Grundlagenforschung zur Verfügung gestellt."

Ein Hauptproblem in der Behandlung des HI-Virus ist die schnelle Ausbildung von Resistenzen gegen die Medikation. "Deshalb geben wir heute immer eine Medikamenten-Kombination von mindestens zwei, in der Regel aber drei aktiven Substanzen - damit wir sozusagen aus mehreren Richtungen gleichzeitig auf das Virus schießen, falls es gegen einen Wirkstoff resistent wird und auf einer Seite 'entwischen' könnte", veranschaulicht Kittner das Vorgehen. Ein Weg zur Heilung konnte jedoch bisher nicht gefunden werden: "Das Problem ist, dass das Virus sich in das Erbgut der einzelnen betroffenen Zellen einlagert und dort lange Zeit schlummern kann. Irgendwann tritt es dann wieder hervor und vermehrt sich wieder."

Doch ist die Sterblichkeit von Infizierten deutlich gesunken. Die Lebenserwartung bei HIV-Erkrankungen konnte in den letzten Jahren merklich gesteigert werden - sie liegt heute statistisch nur noch etwa 10 Jahre unter dem "normalen" Durchschnitt, was ein großer Erfolg ist. Dieser spiegelt sich nun auch in bestimmten gesellschaftlichen Aspekten wieder, auf die der Mediziner hinweist: "Mittlerweile gibt es sogar Lebensversicherungen für HIV-Positive. Das war früher anders. Und Schwangerschaften sind möglich - relativ problemlos für Mutter und Kind, wenn optimale Bedingungen vorliegen. Die Übertragungswahrscheinlichkeit liegt dann bei unter zwei Prozent."

Auch wenn es mit den heutigen Medikamenten bisher keine Heilung bei einer HIV-Infektion gibt, so ist es das Ziel, bei den Infizierten die Viruslast bis unter die technische Nachweisgrenze abzusenken. Der Ausbruch der AIDS-Erkrankung kann damit in aller Regel verhindert werden. Wichtig ist die Realisierung der Erkenntnis, dass es bei einer sinnvollen Behandlung nur ein Entweder-Oder gibt: "Man kann nicht die Medikamente nur 'ein bisschen' einnehmen und die Viruslast nur 'ein bisschen' absenken. Hier gilt: ganz oder gar nicht. Eine wirkungsvolle Behandlung ist auf eine hohe 'compliance' beim Patienten angewiesen, d. h. die - tägliche! - Einnahmetreue der Medikamente muss sehr, sehr hoch sein, mindestens 95 %. Zum Vergleich: die Einnahmeregelmäßigkeit bei anderen Medikamenten z.B. gegen hohen Blutdruck liegt erfahrungsgemäß bei ungefähr 60 %", erläutert Dr. Kittner. Eine geringe Compliance zieht ein Therapieversagen und eine rasche Resistenzentwicklung nach sich. Wichtig ist auch die regelmäßige ärztliche Überwachung des Verlaufs der Krankheit und der Wirkung der Medikation - alle drei Monate.

Aus seinen praktischen Erfahrungen kann der Infektiologe berichten, dass es oft schwer ist, eine hohe Einnahmetreue zu erreichen. Das bedeutet dann eine spezielle psychosoziale Herausforderung für den behandelnden Arzt: Wie kann ich dem Patienten Vertrauen vermitteln, aber auch Wissen, wie kann ich unter Umständen Misstrauen gegen die Medikamente zerstreuen. Gerade der subjektive Eindruck 'Aber ich fühl mich doch ganz gesund' kann psychologisch problematisch sein für die Motivation zur täglichen, lebenslangen Einnahme von Medikamenten, die zum Teil auch noch mit Nebenwirkungen behaftet sind.

Doch es gibt auch noch einen anderen Aspekt, der die Einnahmetreue und -bereitschaft von Patienten beeinträchtigen kann: die Medikamentenzuzahlung. Hier fallen Kosten von bis zu 30 EUR pro Monat an. Dr. Kittner lässt es zu diesem Punkt an Deutlichkeit nicht fehlen: "Die Zuzahlungsregelung ist kontraproduktiv! Bei Jahrestherapiekosten von 20.000 EUR pro Patient ist der Zuzahlungsbetrag kaum von Nutzen! Aber es gibt einige Patienten, die sich dann die Medikamente nicht oder nur gelegentlich leisten können." Und er erzählt von dem erschütternden Fall einer Patientin, die regelmäßig in die Sprechstunde kommt und regelmäßig ihre Rezepte abholt, aber auf die Einlösung der Rezepte verzichtet, zuhause mittlerweile einen dicken Stapel von nicht eingelösten Rezepten hat: "Sie musste warten, bis sie wieder Geld dafür hat, und dann auswählen, welches von den Rezepten sie nun als erstes einlöst. Es ist mitunter so, dass diverse Begleiterkrankungen dazu kommen - dann ist es ja mit den HIV-Medikamenten allein nicht getan."

Ein deutlich erhöhtes Risiko gegenüber Nichtinfizierten haben HIV-Patienten für das Auftreten von bösartigen Tumoren, vor allem von Lymphomen. Außerdem kommt es häufiger zu Diabetes, zur Erhöhung der Blutfette, zu Durchfall und Übelkeit. Langfristige Nebenwirkungen, wie der gefürchtete Fettgewebsabbau im Gesicht ("Lipodystrophie") treten mit der Verfügbarkeit neuerer Substanzen eher in den Hintergrund. Welche Auswirkung aber eine jahrelange Medikamenteneinnahme z.B. auf Leber, Nieren oder Knochenstoffwechsel hat, ist zum Teil noch nicht klar.

Nach Kittners Erfahrungen in der HIV-Sprechstunde sind bei den HIV-Positiven "im Prinzip alle Gesellschaftsschichten vertreten - es sind ziemlich viele 'Normalos' darunter: Trotzdem kann man in der Gesellschaft immer noch einen "Pest-Anklang" wahrnehmen: "Ich rate den meisten Patienten, wenn es möglich ist, davon ab, die Infektion an ihrem Arbeitsplatz mitzuteilen", so Kittner. "Eine Gefährdung Dritter ist ja sehr unwahrscheinlich, wenn der Patient nicht gerade selbst im Medizinbereich tätig ist. Und die Gefahr von unbegründeten Benachteiligungen ist einfach zu groß." Im Freundeskreis oder Familie gehen die meisten Patienten differenziert vor, sie wählen meist vorsichtig aus, wem sie die Diagnose mitteilen. "Am schmerzhaftesten erlebe ich es, wenn die eigenen Eltern den Kontakt aufgrund der HIV-Infektion abbrechen, was auch immer wieder vorkommt", so Dr. Kittner.

Aber auch medizinisches Fachpersonal ist nicht frei von Vorurteilen und Unwissenheit: "Es gibt tatsächlich gelegentlich Ärzte oder Zahnärzte, die die Behandlung eines HIV-Patienten ablehnen. Dies ist nicht zu rechtfertigen". Immer noch stigmatisiert die Infektion. "Für eine wirksame Prävention ist aber ein vernünftiger Umgang mit dieser Krankheit essentiell wichtig. Diskriminierung führt zu Verheimlichung, auch zum eigenen Nicht-wissen-Wollen - dann lässt man einfach keinen Test machen, verdrängt das eigene Risiko und damit auch das Risiko für andere Personen."


Information: Veranstaltung am 25.11.2009 um 19 Uhr
Thema: Gesellschaftliche Aspekte von HIV 2009
Ort: Spiegelsaal des Kurfürstlichen Schlosses Mainz mit kulturellem Rahmenprogramm

Aktuelles erfahren Sie auch unter www.aidshilfemainz.de


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Quelle:
[JOGU] - Magazin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Nr. 208, Mai 2009, Seite 22-23
Herausgeber: Der Präsident der Johannes Gutenberg-Universität Mainz,
Univ.-Prof. Dr. Georg Krausch
Tel.: 06131/39-223 69, -205 93; Fax: 06131/39-241 39
E-Mail: AnetteSpohn@verwaltung.uni-mainz.de

Die Zeitschrift erscheint viermal im Jahr.
Sie wird kostenlos an Studierende und Angehörige
der Johannes Gutenberg-Universität sowie an die
Mitglieder der Vereinigung "Freunde der Universität
Mainz e.V." verteilt.


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juli 2009