Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 5, Mai 2022
Kontakt zu Infizierten ist größter Risikofaktor
von PM/RED
CORONA. Die größte norddeutsche Untersuchung zur Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 in der Bevölkerung ist beendet. Die Forschenden der Universität zu Lübeck und des Forschungszentrums Borstel geben in ihrer abschließenden Veröffentlichung zur ELISA-Studie klare Empfehlungen für die Zukunft.
Seit Beginn der Pandemie beschäftigt kaum ein Thema die
Wissenschaft so intensiv wie die Infektion mit dem Coronavirus und die
Erkrankung COVID-19. Nur wenige Studien geben Aufschluss über die
Dynamik der Infektionsraten von SARS-CoV-2 in definierten Kohorten
oder über Risikofaktoren der Infektion. Außerdem fehlt es an wirksamen
Überwachungsstrategien des Infektionsgeschehens über einen längeren
Zeitraum. Diese Informationslücke soll die Auswertung der einjährigen
bevölkerungsbasierten Längsschnittstudie ELISA aus Lübeck schließen.
Das 30-köpfige Forschungsteam aus Lübeck und Borstel veröffentlichte
im April die Ergebnisse in der Fachzeitschrift Science Advances.
Welche Präventionsmaßnahmen sind wann und wie lange in einer Pandemie wirksam, was treibt die Pandemie an und welche Bevölkerungsgruppen unterliegen dem höchsten Infektionsrisiko? Nach Ansicht der Forschenden aus Lübeck sind dies Fragen, die seit Beginn der Pandemie immer noch nicht klar zu beantworten sind. Als Grund nehmen sie an, dass bisherige Studien an eher kleineren Studienpopulationen in bestimmten Regionen durchgeführt und häufig nur im Querschnitt oder in kurzen Zeiträumen erhoben wurden. Auch eine Bewertung der Daten durch die Gesundheitsbehörden sei, wenn überhaupt, bisher nur mit unzureichender Qualität erfolgt.
Um diese Datenlücken zu schließen und die wichtigsten Fragen zu beantworten, wurde vor zwei Jahren die nach eigenen Angaben größte norddeutsche Studie zur Verbreitung des SARS-CoV-2 in der Bevölkerung ins Leben gerufen. Unter der Leitung des Lübecker Sprecherteams, bestehend aus Prof. Christine Klein (Institut für Neurogenetik), Prof. Jan Rupp (Klinik für Infektiologie und Mikrobiologie) und Prof. Alexander Katalinic (Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie), startete die erste prospektiv überwachte, bevölkerungsbasierte Längsschnittstudie ELISA (LübEcker Längsschnittuntersuchung zur Infektion mit SARS-CoV-2). Dem öffentlichen Aufruf zur Teilnahme an der Studie folgten über 7.000 Lübecker, die sich mittels App für die Studie registrierten. Rund 3.000 Menschen, die rund ein Prozent der Bevölkerung im Einzugsgebiet repräsentieren, wurden in die Studie eingeschlossen. Über einen Zeitraum von einem Jahr, das zwei Lockdown-Phasen mit Unterbrechung durch Lockerungsmaßnahmen umfasste, wurden an sieben Untersuchungszeitpunkten rund 20.000 PCR- und Antikörpertests und mehr als 90.000 detaillierte App-basierte Datensätze zu Symptomen, Mobilität, pandemiebezogenem Verhalten und Lebensqualität erfasst. "Ein besonderer Dank gilt an dieser Stelle den Studienteilnehmerinnen und -teilnehmern, die durch die große Rücklaufquote der Fragebögen für zuverlässige Daten in der Studie gesorgt haben", sagte Mit-Initiatorin Klein.
Zu den Ergebnissen der Studie:
Die PCR- oder
Antikörper-Seropositivität blieb über den gesamten Studienzeitraum
niedrig. Insgesamt 3,5 % der Studienteilnehmer waren nach einem Jahr
Antikörper-positiv und/oder hatten ein positives PCR-Testergebnis -
weit weg von einer Herdenimmunität. Das höchste Risiko einer
SARS-CoV-2-Infektion war bei Personen des Gesundheitswesens zu
beobachten, insbesondere bei Pflegepersonal, aber auch bei Polizei und
Feuerwehr. Erstaunliches ergab die Analyse der vermeintlichen
Infektionstreiber: Im Rahmen der ELISA-Studie zählten weder der
massive Touristenzustrom im Sommer noch die Nutzung des öffentlichen
Nahverkehrs, Restaurantbesuche oder Schulen zu den Pandemietreibern im
Norden. Der stärkste Risikofaktor war der Kontakt zu
COVID-19-Infizierten. Einen Zusammenhang konnte die Studie zwischen
dem Rückgang der Nutzung von öffentlichen Erholungsgebieten nach dem
Sommer und dem Anstieg der SARS-CoV-2-Infektionen aufdecken,
vermutlich durch vermehrte Aktivitäten in Innenräumen.
Durch das Studiendesign konnte der Forschungsverbund nach eigenen Angaben zeigen, dass intensive Testungen für das Einschätzen der tatsächlichen Infektionsrate notwendig sind, dass Lockerungen von Lockdown-Maßnahmen unter bestimmten Voraussetzungen zugelassen werden können, und dass die ELISA-Studie ein geeignetes Modell für eine wirksame, bevölkerungsbasierte Überwachung von Pandemien darstellen kann.
Die Studie wird aktuell um einen weiteren Untersuchungszeitpunkt erweitert. Um ein mögliches Wiederaufflammen der Corona-Pandemie im Herbst untersuchen zu können, bemühte sich die Studiengruppe im April um eine Verlängerung der ELISA-Studie. Die Studienteilnehmer wurden erneut zur Unterstützung aufgerufen. Im Fokus soll dann die Analyse der Antikörper und ihrer Stabilität, die nach Impfung und/oder Erkrankung gebildet werden, liegen. Die künftigen Ergebnisse sollen zusätzlich Aufschluss darüber geben, wie sich die Pandemie in Bezug auf Infektionszahlen und mögliche neue Virusvarianten im Spätsommer und Herbst weiterentwickelt.
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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 5, Mai 2022
75. Jahrgang, Seite 34
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.
veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 2. Juli 2022
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