uni.kurier.magazin - 110/September 2009
Wissenschaftsmagazin der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Knappe Ressourcen - kooperatives Handeln
Die alternde Gesellschaft als Herausforderung für die Gesundheitsversorgung
Von A. Susanne Esslinger
Trotz der vorherrschenden Ressourcenknappheit und ungelöster
Verteilungsfragen sowie Finanzierungsproblematiken gilt das
Gesundheitswesen seit einigen Jahren als Zukunftsbranche, die auch
benachbarte Branchen positiv beeinflusst. Einige Wissenschaftler
sehen den Gesundheitssektor als einen wesentlichen Treiber des
sechsten Kondratieff-Zyklus. Die Ausgaben der Branche beliefen sich
laut dem Statistischen Bundesamt (2007) im Jahre 2005 auf 239 Mrd.
Euro und der Anteil am Bruttoinlandsprodukt betrug zirka 11 %. Die
Gesundheitsbranche ist durch einen hohen Anteil an
Dienstleistungserbringung gekennzeichnet. Über 90 % der Beschäftigten
arbeiten in entsprechenden Berufen jeglicher Couleur; es handelte
sich um über 4,26 Millionen Arbeitsplätze im Jahr 2005, was einem
Anteil an der Gesamtbeschäftigung von ebenfalls zirka 11 % entsprach.
Zudem wird prognostiziert, dass in den nächsten zehn Jahren in dieser
Branche rund 20 % mehr Arbeitsplätze geschaffen werden. Nicht zuletzt
aufgrund der Personalintensivität, ist ihre Bedeutung für den
Arbeitsmarkt hoch. Es bieten sich attraktive Arbeitsplatzchancen und
neue Berufsbilder. Beispielsweise werden sogenannte "Case-Manager"
etabliert. Zudem wird zunehmend (auch politisch) gefordert, die
Gesundheitsversorgung regional und somit wohnortnah für die Patienten
zu vernetzen, was der Heterogenität alternder Gesellschaften
entgegenkommt. Dementsprechend ist festzustellen, dass die
Gesundheitsbranche insbesondere als regionaler Wirtschaftssektor
erkannt wird. Beispiele hierfür sind die Regionen "Gesundheitsland
Schleswig-Holstein", das "Medical Valley Erlangen/Nürnberg/Fürth" und
der "Heilgarten Ostwestfalen-Lippe".
Effektivität und Effizienz: Bedeutung in der Gesundheitsversorgung
"Unbeschadet seiner Vorzüge weist das deutsche Gesundheitswesen [...] in Form von Unter-, Über- und Fehlversorgung noch ein beachtliches Potenzial zur Erhöhung von Effizienz und Effektivität auf." Dieses Zitat von Wille aus dem Jahre 2005 beschreibt den Zustand des deutschen Gesundheitswesens. Es ist geprägt von Desintegration und Zersplitterung durch die Zunahme an ambulanten Versorgungsleistungen und der Unübersichtlichkeit des Dienstleistungsangebots. Unterversorgung wird deutlich, wenn man beispielsweise an Wartelisten bei Transplantationen denkt, die sogar dazu führen, dass sich insbesondere ältere Menschen in einem Unterstützungsnetzwerk zusammenschließen, um einer Benachteiligung zu entgehen. Betrachtet man zum Beispiel die Dichte der Giftinformationszentralen im internationalen Vergleich, wird eine Überversorgung ersichtlich. Fehlversorgung wird auch offenbar, wenn man bedenkt, dass insgesamt eine hohe Ärztedichte festgestellt wird, allerdings die niedergelassenen Hausärzte aus ländlichen Regionen abwandern und die Versorgung in diesen Gebieten nicht mehr gesichert ist, was mit zunehmendem Alter besonders einschränkend wirken kann. Es gibt somit vielfältige Potenziale zur Erhöhung von Effektivität und Effizienz. Doch was bedeutet Effektivität und Effizienz bezogen auf das Gesundheitswesen?
Effektives Handeln wird erreicht, wenn der Unternehmenszweck der Organisation im Sinne von "doing the right things" erfüllt ist. In gesundheitsnahen Einrichtungen bedeutet ein hoher Grad der Zielerreichung beispielsweise eine Verbesserung des Gesundheitszustandes. Dementsprechend ist der Fokus auf "die richtige Versorgung" zu legen, und es müssen bei älteren Patienten vor allem Kenntnisse aus der Geriatrie und Gerontologie im gesamten Versorgungsablauf ihren Niederschlag finden. Bei der Gerontologie handelt es sich um die Wissenschaft des Alterns und bei der Geriatrie um die speziellere Alternsmedizin.
Effizientes Handeln wird erforderlich im Sinne eines "doing the things right". Diese Maxime wird der Bewertung einer optimalen Effizienz zugrunde gelegt. Effizient zu arbeiten bedeutet, zunächst die Zielsetzung genau zu kennen, um dann, vor dem Hintergrund des ökonomischen Prinzips, einen bestmöglichen Mitteleinsatz im Hinblick auf die gewünschte Zielerreichung zu vollziehen.
Im Gesundheitswesen stellt sich die Frage der Zielsetzung zunehmend
aufgrund der Verteilungsdilemmata. Aus der isolierten Sicht der
Älteren müsste eine Umverteilung der Ressourcen zu ihren Gunsten
stattfinden, was allerdings zu Lasten Jüngerer ginge. Wo findet man
hier ein gerechtes Maß? Es sind normative Entscheidungen vonnöten,
die demokratisch legitimiert sein müssen. Hier werden die Grenzen
einer möglichen Zielerreichung offenbar. Eine Zielsetzung im Hinblick
auf die Versorgung aller Bürger kann also lediglich lauten:
bestmögliche Versorgung vor dem Hintergrund knapper Ressourcen
sicherstellen. So müssen in Einrichtungen im Gesundheitswesen
aufgrund der Budgetrestriktionen entsprechend rationale
Entscheidungen getroffen werden. Hohe Lebens- und Versorgungsqualität
als Prämisse und ein entsprechend angemessener Ressourceneinsatz zum
Erreichen dieser Handlungsleitlinie - diese Anforderungen gilt es
immer wieder zu balancieren. Hierbei müssen im ersten Schritt alle
Möglichkeiten einer Rationalisierung im Gesundheitswesen genutzt
werden. Im zweiten Schritt sind dann gegebenenfalls Verteilungsfragen
auf einer höheren Ebene, also in einem gesellschaftlichen Konsens zu
lösen. Überlässt man diese Verteilungsfragen einzelnen Akteuren in
der Gesundheitsbranche, stecken diese in einem Dilemma, das sie
selbst nicht lösen können.
Die älter werdende Gesellschaft: Anforderungen an die Versorgung
Rationales Handeln der Akteure erfordert eine Professionalisierung und die Etablierung von geeigneten betriebswirtschaftlichen Steuerungsansätzen. Das Management im Gesundheitswesen nimmt somit weiter an Bedeutung zu. Die Herausforderung ist, das Spannungsfeld der optimalen Versorgung bei knappen Ressourcen aufzulösen. Der Interessenpluralismus muss in einer verständigungsorientierten Zielübereinkunft der Akteure, vor dem Hintergrund des Patientenwohls und der Prämissen der Effektivität und Effizienz der Versorgung, berücksichtigt werden. Zunächst wird das Gesundheitssystem beeinflusst von Faktoren aus der Umwelt, die eine Verständigung über die Ausgestaltung der Versorgung durch die Akteure begrenzen. Hier spielt insbesondere der technologische Fortschritt eine große Rolle, da er das Erreichen eines höheren Lebensalters begünstigt. Ebenso sind die demografischen Auswirkungen relevant. Beide Faktoren führen außerdem zu steigenden Ausgaben in der Versorgung. Bei der inhaltlichen Betrachtung der Versorgungsabläufe stößt man zudem unwillkürlich auf die erforderliche Spezialisierung im Hinblick auf die ältere Patientengruppe einerseits und eine umfassende Allgemeinkenntnis der Dienstleister andererseits. Dies gilt für die Versorgungsprozesse und die zu erstellenden individuellen Leistungspakete. Um eine bestmögliche Versorgungsqualität und damit auch Lebensqualität für die Bürger zu sichern, müssen patientenorientierte Dienstleistungsangebote in Übereinstimmung der beteiligten Akteure ausgehandelt werden.
Der Stellenwert der Integration bei der Lösungserarbeitung wird
unübersehbar. So wird eine multiprofessionelle, integrierte
Behandlungs- und Betreuungsstrategie wichtig, die am
Krankheitsverlauf orientiert ist und das soziale Umfeld mit
einbezieht. Eine Stärkung der Prävention ist ebenso wesentlich wie
der Ausbau der Altersrehabilitation und die Einsicht der
Erforderlichkeit spezieller Versorgungsangebote, die den
Herausforderungen der alternden Gesellschaft mit ihren
Gesundheitsprofilen (insbesondere Stellenwert gerontopsychiatrischer
Erkrankungen) dienlich ist. Schließlich muss eine würdevolle
Versorgung am Lebensende (Palliativpflege) gewährleistet werden.
Angemessene Lösungen für die Herausforderungen einer alternden
Gesellschaft können also immer nur aus einer multidimensionalen
Perspektive mit der entsprechenden gerontologischen und geriatrischen
Expertise erfolgen. Die verschiedenen Organisationen und Mitarbeiter
unterschiedlichster Berufsgruppen sowie Engagierte im Rahmen des
Bürgerschaftlichen Engagements sind in ihrem Handeln gefragt.
Optimierte Steuerungsleistung mit der Balanced Scorecard: Eine Möglichkeit
Um verschiedene Zielsetzungen zu erreichen und in Ausgleich zu bringen, kommt im Management zunehmend die Balanced Scorecard zum Einsatz. Sie kann aufgrund ihrer ganzheitlichen und ausgleichenden Ausrichtung als Controllinginstrument zur Vermittlung von verschiedenen Anspruchsgruppen sowie einer langfristigen Orientierung durch entsprechende Zielgenerierung dienlich sein. Sie wirkt sowohl systembildend in einzelnen Einrichtungen als auch koordinierend und systemkoppelnd, indem sie verschiedene Teilsysteme, gegebenenfalls durch Anpassung, miteinander verbindet. In diesem Sinne kann das Controlling auch auf einen Verbund verschiedener Organisationen übertragen werden. Es kann gelingen, über mehrere Organisationen verschiedene Akteure hinweg zu steuern.
Zunächst ist die Balanced Scorecard organisationsspezifisch und verbindet strategische Ziele mit operativem Handeln. Dies geschieht durch das Umsetzen der Strategie in konkrete Ziele in vier originären Perspektiven: Lernen/ Innovationen, Prozesse, Klienten und Finanzen. Der Zielerreichungsgrad wird durch Messgrößen bewertet. Auf allen Unternehmensebenen können die Organisationsmitglieder im täglichen Handeln (Maßnahmen) eine Operationalisierung der Strategie erfahren. Solche Maßnahmen existieren in der Gesundheitsbranche in vielfältiger Weise und sind teilweise auch rechtlich vorgegeben. Zum Beispiel dient das Fallmanagement der Optimierung der Behandlung und führt in der Regel zu Kosteneinsparungen. Es hat außerdem Einfluss auf den Prozess und erfordert spezielle Eigenschaften der Mitarbeiter. Die Orientierung an Evidenced-Based Medicine und Leitlinien oder dem Health Technology Assessment unterstützt das optimierte Behandeln und führt ebenfalls in der Regel zu Kosteneinsparungen. Erneut beeinflusst dies ebenso Prozesse sowie die Art und Weise der Leistungserbringung durch die Mitarbeiter. Den Anforderungen an die Qualität wird in unterschiedlicher Weise Folge geleistet. Qualitätsaspekte sind insbesondere in der Prozessperspektive relevant, erfordern aber auch spezifische Qualifikationen der Mitarbeiter, beeinflussen das Behandlungsergebnis und somit das Finanzergebnis der Leistungserbringer.
IT-Strukturen unterstützen primär die Prozessoptimierung. Fortbildungsmaßnahmen wirken zunächst in der Perspektive Lernen/Innovationen und haben Einfluss auf die Behandlung im Prozess und im Ergebnis letztlich auf die finanzielle Situation der Versorger. Insgesamt gehören zu den Maßnahmen jegliche Art von Optimierung im Hinblick auf die finanziellen Ressourcen, patientenorientierte Betrachtungen, Prozessverbesserungen und mitarbeiterrelevante Aktivitäten. Mit den Maßnahmen schließt sich die Lücke zwischen Strategiefindung und Implementierung mit der entsprechenden Umsetzung. Der Grad der Zielerreichung durch die Strategie wird nun durch Messgrößen bzw. Kennzahlen überprüft und Prozesse werden transparent. Neben den spezifischen Indikatoren für die Ziele kann es nützlich sein, mit den folgenden Messgrößen/-instrumenten zu arbeiten:
• Kosten-/Nutzenbetrachtungen bzw. Evaluationen zeigen auf, wie effizient ein Leistungserbringer ist.
• Das Lernen aus der Praxis im Sinne der Best-Practices hilft für Verbesserungen.
• Im Hinblick auf Qualität lassen sich viele Einrichtungen zwischenzeitlich zertifizieren und/oder Audits erstellen. Hierbei wird die Qualität bewertet, dokumentiert und sowohl intern als auch extern kommuniziert.
• Mit Hilfe von Benchmarks kann das eigene Handeln verglichen werden mit dem anderer Leistungserbringer in der Branche.
Die ermittelten Messgrößen müssen nicht nur dokumentiert, sondern auch kommuniziert werden, da es erfolgskritisch ist, dass die einzelnen Mitarbeiter die Messgrößen verstehen. Hierbei ist wichtig, dass die Messgrößen auch als Zielvorgabe für die Mitarbeiter dienen. Dies ist möglich, da der BSC-Prozess wiederkehrend ist und in der Organisation "topdown und bottom-up" verläuft. Führungskräfte übertragen die Verantwortung in die nachgelagerten Bereiche und jeder einzelne Mitarbeiter kann auf Basis von Zielvereinbarungen an der strategischen Zielerreichung bewusst beteiligt werden. Das notwendige Verständnis bei den Mitarbeitern für die Strategie wird gefördert, was schließlich zu einem Commitment gegenüber den Führungsentscheidungen führt. Eine Feedbackschleife bringt immer wieder Antwort auf die Frage der operativen Umsetzung. Es kann dann gegebenenfalls eine Gegensteuerung auf der übergeordneten Leitungsebene erfolgen. Der Steuerungsprozess muss regelmäßig (jährlich) hinterfragt werden. Durch das Feedback der Organisationsteilnehmer kann es letztlich zu Plananpassungen kommen.
Durch die Steuerung fokussieren die Organisationen auf das Wesentliche. In jeder Einrichtung läuft im Optimalfall ein solcher patientenorientierter Versorgungsprozess (Systembildung) ab. Die Strategie wird mit strategischen Zielen, die sich in den BSC-Perspektiven manifestieren, bis in die operativen Ebenen getragen. Dort wird durch unterstützende Ansätze und mit geeigneten Maßnahmen der Grad der Zielerreichung beeinflusst und mit Messgrößen bewertet. Um eine bessere Koordination, Kommunikation und Kooperation der Akteure in der Leistungseinheit zu gewährleisten, wirkt ein IT-Netzwerk unterstützend.
Wichtig wird in einem nächsten Schritt, dass eine Verzahnung der
einzelnen Versorger stattfindet. Man muss sich
die individuellen Scorecards der einzelnen Leistungserbringer in
allen Sektoren mehrfach vorstellen mit "Verknüpfungspunkten" zwischen
ihnen (Systemkoppelung). Vorausgesetzt, alle an der Versorgung
befindlichen Dienstleister arbeiten in einer ähnlichen Architektur
der BSC und auf Grundlage eines gemeinsamen Verständnisses, so können
sie ihre "individuellen Scorecards" zu einer einzigen
"Gesamtscorecard" abstimmen. Die Zusammenarbeit geschieht in den
Leistungsprozessen, die prominent werden. Sie sind primär am
Patienten orientiert, öffnend und transparent. In den Perspektiven
müssen die einzelnen Leistungserbringer kooperative Fähigkeiten
aufbauen und vertiefen (zum Beispiel Lernen/Innovation: gemeinsame
Kommunikation; Prozesse: Transparenz; Klienten: patientenzentrierte
Versorgung; Finanzen: Optimieren des gemeinsamen Budgets und
nachgelagertes Aushandeln der Anteile am Gesamtbudget). Im Ergebnis
schließen sich die einzelnen Leistungserbringer im Sinne des Erhalts
eines bestmöglichen Patientenwohls auf Basis einer gemeinsamen
Strategie zusammen. Die Interessen der teilnehmenden Akteure sind zu
integrieren und es werden Zielvereinbarungen erforderlich, die
Gesamt- und Einzelinteressen der Leistungserbringer mit ihren
nachgelagerten Stakeholdern berücksichtigen. Der "strategische Fit"
(gemeinsames Interesse: Patientenwohl sowie Einzelinteresse:
dauerhafter Fortbestand) wird abgeglichen. Das kooperative Handeln
wirkt sich im Hinblick auf die Effektivität und Effizienz der
Versorgung Älterer vor dem Hinblick knapper Ressourcen und dem
Anspruch an hohe Versorgungs- und Lebensqualität in seinen
Übereinkünften somit positiv für alle Beteiligten aus.
PD Dr. Adelheid Susanne Esslinger (Dipl.-Kff., Dipl. Psych. Ger.) arbeitet als Privatdozentin am Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Unternehmensführung, von Prof. Dr. Harald Hungenberg und gehört zum Vorstand des Interdisziplinären Zentrums für Gerontologie.
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Quelle:
uni.kurier.magazin Nr. 110/September 2009, S. 10-14
Informations-Magazin der
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Herausgeber: Der Rektor
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Erlangen-Nürnberg erscheint 1 x jährlich.
Es informiert seit 1975 über Aktivitäten und Vorhaben der Universität
in den Bereichen Forschung, Lehre und Hochschulpolitik.
veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Februar 2010
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