IPPNWforum | 113 | 08
Mitteilungen der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.
Schöne neue e-Health-Welt
Dogmen deutscher Gesundheitspolitik
Von Dr. med. Silke Lüder
1997 erstellte die international tätige Wirtschaftsberaterfirma
Roland Berger im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit ihre
"visionäre Studie" mit dem Titel "Telematik im Gesundheitswesen -
Perspektiven der Telemedizin in Deutschland", die seitdem diesen
ganzen Sektor deutscher Politik bestimmt hat. An der Diktion
erkennbar eine Übersetzung aus dem Amerikanischen, nicht erstellt von
sachkundigen Akteuren des deutschen Gesundheitswesens, sondern der
Versuch, alle Grundlagen der Betriebswirtschaft auf das Sozialwesen
Gesundheit zu übertragen. Die Ideologie findet sich in allen
Veröffentlichungen zu diesem Thema seitdem wieder, selbst im Entwurf
der Bundesärztekammer zur Telematik für den nächsten deutschen
Ärztetag Mai 2008.
Das deutsche Gesundheitswesen 1997 - Freie Arztwahl, freier Zugang, gute Versorgung!
Die Studie beginnt mit einer kurzen Beschreibung der damaligen
Wirklichkeit: "Die Struktur des deutschen Gesundheitswesens mit
mehreren Versorgungsebenen zeichnet sich durch zahlreiche Stärken aus
(z.B. freie Arztwahl, nicht limitierter, schneller Zugang zu
Versorgungsleistungen, hohe Verantwortung der primären Behandler,
problem- und gemeindenahe Versorgung." (Kapitel 3) Interessant, dass
diese positive Schilderung, die damals zutraf, in allen neueren
Veröffentlichungen nicht mehr auftaucht. Dann, auf 162 Seiten, die
negativen Seiten und angeblichen Veränderungsnotwendigkeiten nach
Firma Roland Berger.
These 1 - Völlige "Kompartimentierung" des deutschen Gesundheitswesens"
"Das deutsche Gesundheitswesen folgt seinem historischen Aufbau nach einem Kompartimenten-Ansatz. Für jede Stufe der Gesundheitsleistungskette, von der Prävention und Diagnostik über die ambulante und stationäre Therapie hin zur ambulanten und stationären Rehabilitation und häuslichen Langzeitpflege, haben sich unterschiedliche Leistungsanbieter entwickelt. Zwischen den einzelnen Stufen der Leistungserbringung bildeten sich starre Grenzen heraus - es gibt kaum sinnvoll organisierte Schnittstellen oder reziproke Austauschprozesse. Routinemäßige Kommunikationsbeziehungen über gemeinsam behandelte Patienten fehlen".
(3.3)
Routinemäßige Kommunikationsbeziehungen über gemeinsam behandelte Patienten fehlen, sagt der Unternehmensberater Berger. Zwischen den einzelnen Stufen der Leistungserbringer bildeten sich "starre Grenzen" heraus. Dass dieses immer noch die herrschende Diktion der Politik ist, kann man an folgendem Zitat der Internetseite des BMG von 2008 sehen: "Zusätzlich ergibt sich das Problem, dass dem behandelnden Arzt oder der behandelnden Ärztin in den meisten Fällen nicht bekannt ist, welche Arzneimittel von Kollegen verordnet worden sind. Wechselwirkungen oder Doppelverordnungen bleiben so oft unbemerkt." Internetseite des Bundesgesundheitsministeriums 2008. Ganz "unbemerkt" vom Gesundheitsministerium ist anscheinend z.B. die Tatsache, dass alle Fachärzte bei Vorliegen eines Überweisungsscheines einen Bericht über die Behandlung an den Hausarzt senden müssen. Aber man kann im Ministerium ja auch nicht alles wissen.
Saßen wir 1997 auf einsamen Inseln als Ärzte? Da ist auch 1997 schon
ärztlich tätig war, sage ich, wie kommen die Wirtschaftsberater
darauf? Auch 1997 gab es eine Menge routinemäßiger
Kommunikationsbeziehungen über gemeinsam behandelte Patienten. Man
musste auch damals Berichte über die Patienten schreiben, die im
Krankenhaus behandelt wurden. Die sogar deutlich besser waren , als
die jetzt bei uns eintreffenden. Inhaltlich besser, mehr durchdacht,
die Diagnosen keine Aneinanderreihung von DRG wichtigen ICD 10
Nummern, die Epikrisen aussagekräftiger, die Klinikärzte nicht so im
Stress wie jetzt unter DRG Bedingungen, die Diagnostik im Krankenhaus
ausführlicher, die Patienten bei Entlassung besser informiert als in
Zeiten von Heilen am Fließband unter Bedingungen der Rhön, Asklepios
und Helios-Prämissen heute. Wir saßen auch 1997 nicht wie Pinguine
auf Eisschollen, sondern waren auch damals schon deutlich als
Behandler vernetzt, auch damals schon hatten 90 % der Menschen einen
Hausarzt (ganz ohne Zwang!), der ihre "Krankenakte" pflegte und
bewahrte. Also, dieses Dogma der Wirtschaftsberaterfirma war
falsch.
These Nr. 2 "Unvorstellbare Datenflut" durch die Fortschritte der Medizin?
"(a) Der Fortschritt der Medizin führt zu immer größerer Leistungsfähigkeit in zahlreichen Disziplinen. Dies mündet zwangsläufig in eine ausgeprägte Spezialisierung mit der Errichtung von Funktionsabteilungen für spezielle diagnostische Verfahren und spezialisierten Behandlungsabteilungen und folglich in eine Fraktionierung der Versorgung. Moderne Diagnostik und Therapie verursacht nicht nur einen früher nicht gekannten Kommunikations-, Organisations- und Transportbedarf; die räumliche Trennung der an der Behandlung eines Patienten beteiligten Leistungserbringer und des koordinierenden Arztes verlangt geradezu den Einsatz von Telematik und Telemedizin.
(c) Aufgrund der diagnostischen Möglichkeiten können die Grenzen des therapeutisch Machbaren immer weiter hinausgeschoben werden (z. B. in der Tumortherapie, Herzchirurgie, Transplantationsmedizin). Diese Grenzmedizin kann jedoch nur unter kontinuierlicher Überwachung vieler Vitalparameter beim Patienten erfolgen. Die Folge ist eine früher nicht vorstellbare Flut von Daten, aus denen der Arzt die für seinen Patienten lebenswichtige Information extrahieren muß."
(Kapitel 3.3)
Ist es so? Meine Erfahrung als Allgemeinärztin ist ganz anders.
Beispiel: Tumortherapie. Die Krebsbehandlung hat sich dahingehend
verändert, dass viele Maßnahmen im Rahmen der onkologischen
Behandlung ambulant stattfinden können. Die Chemotherapien werden
meistens ambulant durchgeführt und oft mit begleitenden Kontrollen
durch uns als Hausärzte. Das ist einfach, die Messwerte sind
überschaubar und die "Extraktion der lebenswichtigen Informationen"
von jedem Hausarzt zu leisten und wird geleistet. Alleine schon
deshalb, weil die Kliniken überhaupt kein Interesse an der
zeitaufwendigen und mit Null Euro entlohnten Dauerkontrolle haben!
Also, auch diese Behauptung der Roland Berger Studie ist falsch.
These 3 - "Die Fähigkeit, die Gesundheitsversorgung zu steuern, hängt alleine von der Nutzung von Information ab."
"Obwohl Information (beachte die Übersetzung!) bei den verschiedenen Leistungserbringern vorhanden ist, wird sie in nicht ausreichendem Maße zur Steuerung des Gesundheitsstatus, der Kosten der Gesundheitsversorgung als auch der Qualität der Leistungserbringung verwendet."
Okay, das ist also der Sinn des Ganzen. Nicht die bessere
Versorgung, sondern die bessere Steuerung, managed-care, die
amerikanische Ideologie aus dem vorherigen Jahrhundert. Was braucht
man also dafür? Die Rettung naht.
These 4 - "Fortschritt durch die "Integrierte multimediale elektronische Patientenakte"
"Die Überwindung der Nachteile der Verteilung der Datenbestände erfordert konsequenterweise die Möglichkeit, virtuell eine integrierte multimediale elektronische Patientenakte zu generieren quasi als Lösung für eine bisher nicht existente einheitliche elektronische Krankengeschichte, welche die gesundheitlichen Episoden eines Patienten verknüpft."
(Kapitel 4)
Die Akte existierte auch schon vorher, meistens beim Hausarzt, aber offline,
zum Schutz des Vertrauensverhältnis Arzt/Patient und der Schweigepflicht
nicht bei zentralen Servern.
These 5 - Fortschritt durch "Datenkarten"?
"Datenkarten spielen im Zusammenhang mit Telemedizin eine äußerst wichtige Rolle. Sie werden in ihrer Funktion als Datenträger teils als Alternative zu einer vernetzten Kommunikationsplattform dargestellt, teils als Element eines solchen Systems. Es ist davon auszugehen, daß Datenkarten, auch wenn sie nicht als Speichermedium verwendet werden, ein unentbehrliches Element einer zukünftigen Kommunikationsplattform darstellen werden; zumindest als Identifikationsausweis und als Schlüssel sind sie aus dem System nicht wegzudenken"
(Kapitel 4.3).
Kommentar: Die Smartcards wurden 1967 erfunden, jetzt, 2008, ist die Kartentechnologie hoffnungslos überholt, sehr langsam und wird unser Gesundheitswesen mit einer fehlgesteuerten unsinnigen Technologie belasten, die nur den entsprechenden Karten-Firmen Milliarden einbringen wird: Siemens, IBM, SAP und der Bertelsmannableger Arvato zum Digitalisieren der Fotos und anderen "services".
Das Projekt "elektronische Gesundheitskarte" wird die Patienten gefährden, die Ärzte belasten, die Kommunikation verschlechtern und die Entwicklung unseres Gesundheitswesens weiterhin in eine falsche Richtung steuern. Die Roland Berger Studie von 1997 mit ihren völlig falschen Grundannahmen ist immer noch die Orientierungslinie unserer Gesundheitspolitik.
Ein Insiderkommentar von 1999: "Die Kommunikationstechnik auch in Form der Telematik in der Medizin antwortet auf Bedürfnisse der Information und Kontrolle, die einzig durch die Zivilisation selbst geschaffen werden, durch die eine solche Technologie erst möglich wurde und für die sie dann unentbehrlich wird und neben der realen eine virtuelle Welt schafft." Die Kommerzialisierung der medizinischen Versorgung (Krankenhausketten, Rehaketten, Internationalisierung grosser Kapitalgesellschaften) nimmt zu. Der Konzentration der Leistungsanbieter wird eine Konzentration der Krankenkassen folgen. Der Zwang zur Kontrolle und zur Steuerung der Arzt-Patient-Beziehung wird verstärkt (Standardisierung, Qualitätssicherung). Die Bürokratisierung des Gesundheitssystems steigt exponential, d.h. der Verwaltungsaufwand steigt, während bei gedeckeltem Budget für die Patienten und Beschäftigten weniger Mittel zur Verfügung stehen." (Dr. Ernst Bruckenberger, von 1979 bis Anfang 2004 Referatsleiter für Krankenhausplanung, -finanzierung und -bauplanung im Niedersächsischen Sozialministerium. Leitender Ministerialrat a. D., Lehrbeauftragter MHH Hannover.)
Dr. med. Silke Lüder, Hamburg, 28.2.2008
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Quelle:
IPPNWforum | 113 | 08, S. 9-10
Herausgeber:
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
Anschrift der Redaktion:
IPPNWforum
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Januar 2009
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