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AUSLAND/1518: Ukraine - "Schweinegrippe" - ein zynisches Spiel um Politik und Macht (Archipel)


Archipel Nr. 177 - Zeitung des Europäischen Bürgerforums - Dezember 2009

UKRAINE
"Schweinegrippe" - ein zynisches Spiel um Politik und Macht

Von Kishor Sridhar


Landesweit werden in der Ukraine Schulen geschlossen, ganze Bezirke unter Quarantäne gestellt, Präsident Juschtschenko rühmt sich persönlich damit, die Produktion von einer Million Gesichtsmasken in Auftrag gegeben zu haben, die Slowakei schließt die Grenze zur Ukraine. Binnen weniger Tage hat sich in der Ukraine ein Szenario entwickelt, das selbst einen Hollywood-Katastrophenfilm übertrifft.

Und genau das scheint es zu sein: eine hollywoodreife Inszenierung. Es lohnt sich, einen Blick auf die Fakten hinter den Meldungen in den Medien zu werfen.

Bis zu 250.000 Infizierte, heißt es in den Medien, gäbe es in der Ukraine, und Präsident Juschtschenko wird nicht müde, diese Zahlen zu betonen. Tatsächlich gibt es laut der Weltgesundheitsorganisation WHO bis zum 2. November nur 22 bestätigte Schweinegrippefälle und wenn überhaupt nur einen Todesfall in diesem Zusammenhang.

Allein die Zahl von 250.000 Infizierten muss stutzig machen. Mexiko, das als Ursprungsland der Schweinegrippe gilt, hat mehr als doppelt so viele Einwohner, aber gerade etwas mehr als 37.000 Schweinegrippe-Fälle zu verzeichnen, und das seit April diesen Jahres. Alle Nachbarländer der Ukraine zusammen haben bisher 18.000 Schweinegrippefälle registriert. Auch wenn das ukrainische Gesundheitswesen nicht das beste ist, mit Mexiko kann es sich allemal messen. Sind die Ukrainer also anfälliger für die Schweinegrippe als der Rest der Welt?

Was sich hinter dieser gigantischen Anzahl Schweinegrippefälle in der Ukraine verbirgt, zeigt sich, wenn man die Erkrankungen der saisonalen Grippe anschaut. Tatsächlich gibt es keine offiziellen Angaben über die Anzahl dieser «normalen» Grippefälle. Im Schnitt erkranken jedes Jahr in Herbst und Winter in unseren Breitengraden um die 12 Prozent der Menschen an dieser «normalen» Form der Grippe. Für die Ukraine wären das somit 5,5 Millionen Menschen, die jedes Jahr an einer Grippe erkranken. Legt man die 250.000 Fälle zugrunde, liegt die derzeitige Infektionsrate bei 0,4 Prozent. Bei dieser niedrigen Infektionsrate und in Anbetracht der Tatsache, dass nur 22 Schweinegrippefälle bestätigt wurden, sieht alles nach einem derzeit milden Verlauf einer ganz normalen Grippe aus. Laut Aussage des stellvertretenden ukrainischen Gesundheitsministers Wassili Lasorischinez am 3. November liegen die Todesfälle durch die normale Grippe derzeit sogar um 10 Prozent niedriger als im letzten Jahr.

Das alles lässt stark vermuten, dass es sich bei der angeblichen Schweinegrippe-Epidemie in der Ukraine um eine politische Inszenierung handelt. Die ganze Aufregung erinnert stark an die amerikanische Politsatire Wag the Dog, in der über die Medien ein nicht-existierender Krieg vorgetäuscht wird, um die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen. Wer die Schweinegrippe tatsächlich instrumentalisiert hat, lässt sich nicht eindeutig beweisen. Ganz objektiv betrachtet, ohne eine Präferenz für einen der Kandidaten zu haben, lassen sich jedoch einige Rückschlüsse ziehen.

Präsident Juschtschenko, der mit 6 Prozent das Schlusslicht der Präsidentschaftskandidaten bildet und kaum noch politische Themen hat, die er wirksam besetzen kann, bemüht sich am lautesten und energischsten um die Bekämpfung der vermeintlichen Epidemie und hat dies zur Chefsache gemacht.

Premierministerin Timoschenko, der auch das Gesundheitsministerium untersteht, reagierte dagegen eher zurückhaltend, auch wenn sie inzwischen auf den Zug aufsprang, um nicht tatenlos zu wirken. Symbolisch nahm sie Tamiflu-Lieferungen in Kiew in Empfang und brach zu einem Besuch in den Westen der Ukraine auf, der angeblich besonders stark von der Schweinegrippe heimgesucht wäre.

Es ist offensichtlich, dass sie einen Spagat versucht, eine Übung, von der sie schon oft in der Vergangenheit gezeigt hat, dass sie diese beherrscht wie keine andere. Auf der einen Seite versucht sie, Realismus und Besonnenheit an den Tag zu legen, auf der anderen Seite will sie nicht riskieren, tatenlos zu wirken; sie muss also Führungsstärke zeigen.

Der eigentliche Verlierer der jetzigen Situation ist Präsidentschaftskandidat Janukowitsch, der derzeit die Wahlprognosen mit 26 Prozent vor seinen Widersachern anführt. Janukowitsch, der Vorsitzende der Partei der Regionen, wollte in den nächsten Tagen mit zahlreichen Großveranstaltungen den Vorsprung weiter ausbauen. Diese Strategie ist nun durch das Versammlungsverbot durchkreuzt.

Da er selbst kein aktives Regierungsamt bekleidet, kann er sich auch nicht mit der Bekämpfung der angeblichen Epidemie profilieren. Somit haben die Maßnahmen zur Eindämmung einer vermeintlichen Schweinegrippe-Epidemie die indirekte Einschränkung demokratischer Rechte zur Folge.

Unter den Bürgern der Ukraine macht sich inzwischen die Befürchtung breit, dass es zu Notstandsmaßnahmen kommen könnte und somit zu einer Aussetzung der Präsidentschaftswahl. Ein Szenario, das nicht unwahrscheinlich ist. Es gilt zu hoffen, dass die ukrainischen Bürger in kurzer Zeit erkennen, was die Fakten sind und was politische Inszenierung ist, damit dieses Theater nicht weiter fortgeführt werden kann, und die Verantwortlichen in den Wahlen entsprechend abgestraft werden.

Denn was hier als politische Inszenierung erscheint, ist viel mehr. Es ist das zynische Spiel mit den Existenzängsten der eigenen Bürger und eine direkte Schädigung der ukrainischen Volkswirtschaft zum Zwecke des eigenen Machterhalts. In einer Umfrage des IFAK Instituts im Oktober 2009 befürchteten 58 Prozent der West-Ukrainer und 31 Prozent der Ost-Ukrainer eine Beeinflussung der Präsidentschaftswahlen von russischer Seite, und 28 Prozent der West-Ukrainer und 40 Prozent der Ost-Ukrainer eine Beeinflussung der Wahl durch die USA. Derzeit scheint es jedoch, als sollten sich die Ukrainer weniger Sorgen um Russland oder die USA machen, sondern eher befürchten, dass die Präsidentschaftswahlen aus der Ukraine selbst undemokratisch beeinflusst werden.


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Quelle:
Archipel - Monatszeitung des Europäischen Bürgerforums
Nr. 177, Dezember 2009, S. 7-8
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Februar 2010