WIR FRAUEN - Das feministische Blatt 2/2016
Dieses System schadet Ihrer Gesundheit
Von Ingrid Jost
"Weil Du arm bist, musst Du früher sterben", denn sozio-ökonomische
Bedingungen haben Auswirkungen auf die Gesundheit. Diese
Erkenntnis ist schon seit vielen Jahrzehnten bekannt und wird durch
weitere Studien immer wieder bestätigt. Doch in Zeiten, in denen die
Profitrate oberste Priorität hat, spielen die Lebensqualität oder die
Lebenserwartung von ärmeren Menschen eine untergeordnete Rolle. Zu
diesen Bedingungen gehören u.a. materieller Wohlstand,
Wohnverhältnisse, Bildung, berufliche Stellung und Prestige. Seit dem
20. Jhd. leben Frauen länger als Männer, in Deutschland beträgt die
Differenz ca. 5 Jahre. Die Differenz in Deutschland wird u.a. durch
erhöhten Tabak- und Alkoholkonsum sowie die erhöhte Neigung zu
Gefäßerkrankungen bei Männern und durch ernährungsbedingte und
biologische Faktoren erklärt.
Armut ist nach wie vor weiblich, unter anderem aufgrund der seit
Jahren andauernden Lohndiskriminierung von Frauen, ihres hohen Anteils
im Niedriglohnbereich, der Minijobs, der Sorgearbeit für Kinder und
der zu pflegenden Familienangehörigen, die überwiegend von Frauen
verrichtet wird.
In deutschen Krankenhäusern infizieren sich nach Angaben der
Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH) jährlich rund
eine Million Patient_innen mit Keimen. Für ca. 40.000 Menschen
enden die Infektionen laut DGKH tödlich, als Folge mangelnder Hygiene
in Kliniken.
Kein Wunder: Kostensparen, Outsourcing, Verdichtung und Prekarisierung
schlagen sich insbesondere auf die Arbeit der Reinigungskräfte nieder,
deren lebenswichtige Arbeit gesellschaftlich noch immer unterschätzt,
zu gering entlohnt und unter hohem Zeitdruck ausgeführt wird. Bei dem
lukrativen Geschäft mit der Gesundheit bleiben diejenigen auf der
Strecke, die von diesem Geschäft abhängig sind, die armen jungen und
alten Kranken. Wenn zunehmend privatisierte Kliniken vor allem
profitabel wirtschaften, wird dies für die einen zur Unterversorgung,
für die anderen zur Überversorgung führen, z.B. mit fragwürdigen,
lukrativen Behandlungen und "Gerätemedizin". Auf der Strecke bleiben
aber auch die Mitarbeiter_innen dieser Branche, deren Arbeit sich
immer mehr verdichtet und kaum Zeit lässt für zwischenmenschliche
Begegnung.
Die gesundheitlichen Beeinträchtigungen von Frauen sind häufig auf
Gewalt in engen sozialen Beziehungen zurückzuführen. Einer
EU-weiten Erhebung zufolge geben 35% der in Deutschland befragten
Frauen an, körperliche bzw. sexuelle Gewalterfahrung seit dem
15. Lebensjahr erlitten zu haben und ca. 20% der Frauen machten
Gewalterfahrungen in Paarbeziehungen. Häusliche Gewalt gegenüber
Frauen bezeichnet die WHO (2013) als eine der häufigsten
Menschenrechts-Verletzungen. Trotz gravierender physischer oder
psychischer Folgen der Gewalt ist die Versorgungslage völlig
unzureichend. Es gibt Frauen, die ihre Gewalterfahrungen verschweigen
und deshalb falsch behandelt werden. Aber auch diejenigen, die das
Trauma thematisieren, haben es schwer, einen angemessenen
Therapieplatz zu bekommen. Die Wartezeiten können mehrere Monate
dauern. Man muss sich zeitig um einen Therapieplatz bemühen und sich
auf Wartelisten setzen lassen.
Die Folgen der erlittenen Gewalt sind vielfältig, dazu gehören u.a.
Angst- und Panikattacken, Aggression, Depression, der Verlust der
Selbstachtung, Selbstbeschuldigung, Verzweiflung sowie verschiedene
Stresssymptome, Schlafstörungen, Albträume, Intrusionen und zahlreiche
körperliche Folgen wie z.B. irreversible Verletzung an den Gelenken,
Schmerzen und chronische Schmerzen.
Die Fluchterlebnisse der ca. 30% weiblichen Flüchtlinge, die in der BRD Schutz suchen, haben nicht selten eine bittere Fortsetzung in den Flüchtlingsunterkünften. Hier besteht ebenfalls dringender Handlungsbedarf, der erschwert wird durch Sprachbarrieren. Deshalb sind Geschlechts- und kultursensible psychosoziale und medizinische Beratung und Versorgung notwendig, um den vielfältigen Problemlagen gerecht zu werden. Die meisten durch Gewalt traumatisierten Flüchtlingsfrauen kennen weder die aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen noch das Gewaltschutzgesetz und brauchen u. a. auch Informationen über Frauenberatungsstellen und Frauenhäuser.
Die elektronische Gesundheitskarte im Rahmen des Asylbewerber-Leistungsgesetzes ist eine Initiative zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung von Asylbewerber_innen. Nach Bremen und Hamburg hat NRW als erstes Flächenland den Versuch unternommen, sie im Rahmen eines Modellprojektes am 1.1.2016 einzuführen, allerdings auf freiwilliger Basis. Deshalb haben viele Kommunen nicht zugestimmt, mit dem Argument, die eGK sei zu teuer. In Hamburg jedoch können seit der Einführung der eGK ca. 1,6 Mio EUR jährlich eingespart werden. Eine Studie des Universitätsklinikums Heidelberg und der Universität Bielefeld kommt zu dem Ergebnis, dass der Bund im Laufe von 20 Jahren 1,5 Mrd EUR hätte sparen können, wenn sie die eGK eingeführt hätten. Dr. K. Bozorgmehr, Autor der Publikation vom Universitätsklinikum Heidelberg, und Ko-Autor Prof. Dr. O. Razum, Dekan der Universität Bielefeld, werteten die Daten des Statistischen Bundesamtes aus, mit dem Ergebnis, dass die jährlichen Pro-Kopf Ausgaben für medizinische Versorgung bei Asylsuchenden mit nur eingeschränktem Zugang zur medizinischen Versorgung in den letzten 20 Jahren (1994-2013) um circa 40% und damit 376 EUR höher sind als bei Asylsuchenden, die bereits Anspruch auf die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung haben.
Viele Menschen aus Südosteuropa leben in Deutschland ohne Anspruch
auf Krankenversicherung, es sei denn, sie sind abhängig
erwerbstätig. In über 30 Städten in Deutschland gibt es bereits
sogenannte Medibüros für Menschen, die keinen Zugang zum
Gesundheitswesen haben. Ehrenamtliche vermitteln die Patient_innen an
Arztpraxen, Psychotherapeut_innen, Hebammen und Physiotherapeut_innen,
bei Bedarf auch an Kliniken. Allein in Duisburg waren 2015 ca. 10.000
Menschen überwiegend aus Südosteuropa ohne Krankenversicherung.
Deren einzige Hoffnung auf Versorgung ist die kostenlose Sprechstunde
im Pfarrhaus am Petershof in Marxloh. Trotz zahlreicher Gespräche mit
dem NRW-Gesundheitsministerium hat sich die Problemlage weiter
verschärft. Mittlerweile ist die Zahl der Menschen ohne
Krankenversicherung in Duisburg auf 12.000 angestiegen, von denen ca.
120 in die wöchentliche Sprechstunde kommen, die von ehrenamtlich
arbeitenden Menschen mit großem Engagement aufrecht erhalten
wird.
Zahlreiche junge Schwangere hatten während ihrer Schwangerschaft bis
zum Besuch dieser Sprechstunde noch nie einen Arzt gesehen. Die Gefahr
von Risiko-Schwangerschaften und Fehlgeburten ist sehr hoch. Der
Zahnstatus der Menschen ist nicht zuletzt aufgrund von Mangelernährung
katastrophal, einen Zahnarztbesuch können sich die Frauen nicht
leisten. Frauen ab 40 kommen häufig mit einer posttraumatischen
Belastungsstörung in die Sprechstunde.
Eigentlich ist es das erklärte Ziel der Helferinnen, endlich
überflüssig zu werden. Es braucht eine bundesweit angemessene
Versorgung - eine geplante Clearingstelle allein, die die
Versicherungsverhältnisse der betroffenen Menschen klärt, wird das
Problem nicht lösen.
Im Bundeshaushalt von 2016 sind für die Verteidigung 34.288
Milliarden EUR eingestellt, für Gesundheit 14.573 Milliarden EUR.
Statt in den Krieg sollten wir in ein solidarisches Gesundheitssystem
investieren, in das alle einzahlen, mit einer Gesundheitskarte für
alle, unabhängig von Herkunft und Status.
Gesundheit ist ein Menschenrecht, das es zu verteidigen gilt, und wenn
die Mittel dafür nicht ausreichen, so sollte das ein wichtiger
"Verteidigungsfall" der gesamten Gesellschaft werden.
Ingrid Jost ist Diplompädagogin, Vorsitzende von Erwerbslose helfen Erwerbslosen e.V. (Ehe) und im Landesvorstand der LINKEN NRW mit den Schwerpunkten Arbeits- und Sozialpolitik, Bildungs- und Gleichstellungspolitik aktiv.
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Quelle:
Wir Frauen, 35. Jahrgang, Sommer 2/2016, Seite 10-11
Herausgeberin: Wir Frauen - Verein zur Förderung von Frauenpublizistik e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juli 2016
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