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RECHT/631: Die Einschätzung von ärztlichen Sachverständigen unverzichtbar für Sozialgerichte (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 2/2019

Sozialgerichte
Mit Sachverstand zum Rollentausch

von Dirk Schnack


Ihre Einschätzung ist für die Sozialgerichte unverzichtbar: Ärztliche Sachverständige tragen große Verantwortung und sie werden gesucht.


Gustl Mollath ist Opfer eines der bekanntesten Justizirrtümer der Bundesrepublik Deutschland. Der heute 62-jährige Franke wurde 2006 wegen mehrerer angeblicher Delikte verurteilt. Nachdem Gutachter ihm Schuldunfähigkeit bescheinigt hatten, wurde er in den psychiatrischen Maßregelvollzug eingewiesen. Mehrere Instanzen hatten die Einweisung bestätigt. Erst fünf Jahre später wurden Zweifel an dem Verfahren laut. Drei weitere Jahre später wurde Mollath freigesprochen. Es folgten schwere Vorwürfe auch gegen die Gerichtsgutachter. Eine Folge davon ist der Bedarf der Gerichte an fundierten Gutachten im psychiatrischen Bereich.

Doch nicht nur hier steigt der Bedarf. Allein an Schleswig-Holsteins Sozialgerichten in Kiel, Lübeck, Schleswig, Itzehoe und am Landessozialgericht in Schleswig werden jedes Jahr für rund 3.000 Fälle Ärzte gesucht, die eine Gutachtertätigkeit übernehmen. Dabei geht es nicht um rechtsmedizinische Gutachten wie im Fall Mollath, sondern etwa die Begutachtung von Menschen, deren Schwerbehindertengrad eingeschätzt werden muss, deren gesundheitliche Einschränkung nach einem Unfall oder deren Leistungsvermögen auf dem Arbeitsmarkt festgestellt werden soll.

Die Gerichte bedienen sich dafür aus einem Pool an Ärzten, die zu dieser Tätigkeit bereit sind. Auf der Liste stehen derzeit noch rund 50 Namen - mit abnehmender Tendenz. "Wir spüren, dass sich die Arbeit in den Kliniken verdichtet und erhebliche Anforderungen an Ärzte gestellt werden. Die Gutachtertätigkeit hat deshalb für viele keine Priorität", sagt die Präsidentin des Landessozialgerichtes Schleswig, Dr. Christine Fuchsloch. Weil viele Gutachter schon im höheren Alter sind, befürchten Fuchsloch und die Richter Birgit Lorenzen und Bernd Selcke in absehbarer Zeit einen Engpass. "Wir sind froh, dass diese Tätigkeit auch von Ärzten im Ruhestand ausgeübt wird. Aber daneben wünschen wir uns auch Ärzte, die noch täglich Patientenkontakt haben", betont Lorenzen. Die aber finden die Gerichte nicht mehr so einfach wie früher, als laut Selcke oft eine Empfehlung von gutachterlich tätigen Ärzten an einen Kollegen reichte: "Wir haben Anfragen an zahlreiche Chefärzte in Schleswig-Holstein nach möglichen Kandidaten gestellt, ohne große Resonanz", berichtet Selcke. Auch an niedergelassenen Ärzten als Gutachter herrscht Mangel, weil die Tätigkeit unter den niedergelassenen Ärzten oft gar nicht mehr bekannt ist.

Was viele Ärzte vielleicht nicht wissen: Jeder Facharzt kann von einem Gericht als Gutachter ausgewählt werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Mediziner sich beruflich mit der Erstellung von Gutachten befasst. Jeder Arzt, der mindestens über eine dem Facharztstandard entsprechende Sachkunde verfügt, kann von einem Gericht zum Sachverständigen ernannt werden und ist verpflichtet, ein Gutachten für dieses Gericht zu erstellen.

Die Sozialgerichte suchen praktisch in allen Fachrichtungen, insbesondere aber im psychiatrischen, im neurologischen und im orthopädischen Bereich. Honoriert wird die gutachterliche Tätigkeit mit einem Stundensatz von 75 EUR je geleisteter Stunde. Dafür muss ein Gutachter neben der Approbation die Fähigkeit mitbringen, sich vor Gericht auch mit Einwänden zu seinem Gutachten auseinanderzusetzen. Muss man also befürchten, vor Gericht von schneidigen Anwälten "auseinandergenommen" zu werden? "Nein, wir haben an den Gerichten eine ordentliche Gesprächsatmosphäre, die nicht von Zweifeln an der Kompetenz der Gutachter geprägt ist. Immerhin sind die Ärzte ja unsere Sachverständigen. Wenn es tatsächlich zu massiver Kritik kommt, stehen wir als Richter dazwischen", betont Selcke.

Neben Kritikfähigkeit sollten ärztliche Sachverständige auch die Fähigkeit mitbringen, sich auf ihre Rolle beschränken zu können. "Von den ärztlichen Gutachtern sind keine Behandlungstipps und keine rechtlichen Wertungen gefragt, sondern nur eine Beschreibung des Ist-Zustands. Das ist nicht immer ganz einfach, ergibt sich aber aus dem Fragenkatalog an den Gutachter", sagt Fuchsloch.

"Wenn es tatsächlich zu massiver Kritik an Gutachtern kommt, stehen wir als Richter dazwischen." Bernd Selcke

Was muss ein Gutachter können und an Voraussetzungen mitbringen? Nach Angaben des Deutschen Anwaltsvereins erfordert die Erstellung eines ärztlichen Gutachtens besondere zusätzliche Kenntnisse, Fähigkeiten und Einstellungen, die über die ärztliche Tätigkeit im kurativen Bereich hinausgehen. Ein Gutachter muss danach über solide fachmedizinische Kenntnisse und über versicherungsrechtliche Grundkenntnisse verfügen. Er sollte darin geübt sein, die kurative Perspektive durch eine ursachenfeststellende Perspektive zu ersetzen. Damit kann er den verfahrensbeteiligten medizinischen Laien, die aus gesundheitlichen Defiziten beziehungsweise deren fehlerbedingter Verursachung rechtswirksame Folgerungen ziehen sollen, eine Entscheidungsgrundlage bieten. Der medizinische Sachverständige ist vor Gericht unabhängig, er unterliegt keiner Weisung und darf sich seine Meinung frei bilden.

Nervenarzt Dr. Karlheinz Heuser war fast sein gesamtes Berufsleben als Gutachter tätig, während seiner ärztlichen Tätigkeit an der Kieler Universitätsklinik und auch anschließend. Er schätzt an der gutachterlichen Tätigkeit besonders die Abwechslung. Der mittlerweile 75-jährige Arzt war Gutachtenbeauftragter seiner Klinik, hat Kollegen bei der Tätigkeit angeleitet, persönlich mehr als 1.000 Gutachten angefertigt und Erfahrungen an allen Sozialgerichten in Schleswig-Holstein gesammelt. "Als Gutachter beschäftigt man sich mit Fragestellungen, die einem im Klinikalltag nicht begegnen. Das bereichert und bildet einen Gegenpol zur täglichen Arbeit", sagt Heuser.

Heuser fertigt neurologische und psychiatrische Gutachten, deren Aufwand er im Durchschnitt auf rund sechs Stunden schätzt. Gerade die psychiatrische Sicht wird nach seiner Beobachtung von den Versicherungsträgern oft vernachlässigt, was für ihn ein zusätzlicher Reiz ist, sich gutachterlich zu betätigen. Den Rollenwechsel vom behandelnden Arzt zum Gutachter sieht er als unproblematisch an. Auch die Atmosphäre an den Gerichten ist für ihn keine Belastung.

"Als Gutachter beschäftigt man sich mit Fragestellungen, die einem im Klinikalltag nicht begegnen." Dr. Karlheinz Heuser

"Absolute Ausnahmen" seien Anwälte auf Klägerseite, die versuchen, Gutachter infrage zu stellen, die ihnen das Wort im Munde umdrehen oder aggressiv auf sie einwirken. Und wenn es doch dazu kommt, wissen erfahrene Gutachter wie Heuser oder der Schleswiger Orthopäde Dr. Kay Liebchen damit umzugehen.

Dass Gutachter vor Gericht in die Schusslinie geraten, ist auch deshalb ungewöhnlich, weil die Gutachten den Parteien in aller Regel rund eine Woche vor dem Gerichtstermin vorliegen und diese bereits Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Damit wird zum Teil eine gütliche Einigung erreicht, ohne dass es zum Gerichtstermin kommt.

Auch mit den begutachteten Patienten hat Heuser keine negativen Erfahrungen gesammelt, wohl aber Skepsis, weil er als bislang fremder Arzt jemanden begutachtet, den dessen Hausarzt doch viel besser kennt. In solchen Fällen verdeutlicht er, dass er sich über die Akten schon ein umfassendes Bild vom Patienten gemacht hat und ihn im persönlichen Gespräch bzw. in der Untersuchung noch ausführlich kennenlernt. "In zwei Stunden kann man als Arzt eine Menge erfahren über einen Menschen. Gerade für psychiatrische Gutachten ist es wichtig zu sehen, wie jemand auftritt, wie trägt er etwas vor, wie ist er strukturiert", sagt Heuser. Dass er bei seinen Einschätzungen zum Teil zu anderen Ergebnissen kommt als vorige Gutachter, ist nicht ungewöhnlich. Für Heuser bedeutet dies nicht, dass einer der beiden Ärzte falsch liegen muss: "Manchmal liegen Jahre zwischen den Gutachten, da kann sich viel ändern."


Info

Ärzte, die in Interesse an einer Tätigkeit als Gutachter haben, können sich am Landessozialgericht melden: 04621 86 1422 oder 04621 86 1026.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 2/2019 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2019/201902/h19024a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
72. Jahrgang, Februar 2019, Seite 28 - 29
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung
Schleswig-Holstein
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. März 2019

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