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POLITIK/2080: Das deutsche Gesundheitswesen im Lichte der Corona-Krise (spw)


spw - Ausgabe 2/2020 - Heft 237
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Das deutsche Gesundheitswesen im Lichte der Corona-Krise

von Felix Welti(1)


I. Einführung

Gesundheitspolitik und -recht werden durch einschneidende Ereignisse wie Seuchen auf den Prüfstand gestellt und in der weiteren Entwicklung geprägt. Beispiele sind die Typhus- und Cholera-Epidemien des 19. Jahrhunderts und ihr Einfluss auf die Entwicklung von Prävention und Gesundheitswesen.

Rudolf Virchow erforschte um 1848 die Ursachen des Hungertyphus in Schlesien und im Spessart und begründete die Medizin als soziale Wissenschaft. An der Bewältigung der letzten großen Cholera-Epidemie in Hamburg 1892 war wesentlich die in den betroffenen Arbeitervierteln handlungsfähige SPD beteiligt, die bis dahin von jeder Beteiligung an den öffentlichen Angelegenheiten ausgeschlossen war. Robert Koch musste für die Erkenntnis kämpfen, dass Cholera durch übertragbare Erreger ausgelöst wird und durch verhaltens- und verhältnisbezogene Interventionen bekämpft werden kann. Er war danach wesentlich an der Erarbeitung des Reichsseuchengesetzes beteiligt, des Vor-Vorläufers des Infektionsschutzgesetzes. Richard J. Evans hat in "Tod in Hamburg"(2) eindrücklich den sozialen, medizinischen und politischen Kontext von Migrations- und Handelsströmen, politischer Vertuschung aus Geschäftsinteressen und unhygienischen Lebensbedingungen der Arbeiterschaft beschrieben. In der Folge rückten soziale und politische Ungleichheit, Wohnverhältnisse, Wasser- und Abwasserversorgung und das öffentliche Gesundheitswesen neu in den Blick.

Lorenz von Stein, Theoretiker der Sozialreform, schrieb 1870:

"Erst gegen Ende des vorigen Jahrhunderts," - das 18. - "wird der Gedanke lebendig, daß die Basis der Gesundheit in den elementaren Verhältnissen liegt und daß der Schwerpunkt des Gesundheitswesens statt in der Polizei und der Heilung der bereits vorhandenen Krankheiten vielmehr in der Pflege der Bedingungen für die Erhaltung der Gesundheit liege. Dieser Gedanke kommt zum Durchbruche durch die Cholera, die in dieser Beziehung ein Segen für Europa geworden ist." (3)

Mitten in der Pandemie beherrschen ordnungsrechtliche und medizinische Fragen die politische und fachliche Diskussion. Für sozial- und gesundheitspolitische Schlüsse aus der Corona-Krise ist es noch zu früh. Politik und (vergleichende) Forschung werden erst zu Ergebnissen kommen, wenn die schlimmste Gefahr gebannt ist. Mit Reflexion und Strukturierung der Probleme muss aber begonnen werden. Viel spricht dafür, dass auch nach Überwindung von COVID-19 das Risiko von Pandemien - auch im Zusammenhang mit internationaler Mobilität und Arzneimittelresistenzen - und ökologisch bedingter Katastrophen dauerhaft auf der politischen Tagesordnung bleibt. Davon gehen auch Bundesregierung und Gesetzgeber aus: Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) wird dem Bundestag spätestens zum 31. März 2021 einen Bericht vorlegen, der Erkenntnisse und Vorschläge beinhalten soll (vgl. § 4 Abs. 1a IfSchG, BT-Drs. 19/18111, 19).

II. Zur Reichweite von Gesundheitspolitik

Bei Seuchen wird deutlich, dass Krankheitsprävention nur zum kleineren Teil Bereitstellung von Gesundheitsleistungen ist. Zum größeren Teil betrifft sie die Voraussetzungen von Verhalten und Verhältnissen. Dazu gehören Demokratie und sozialer Rechtsstaat. Sie verhindern schnelle und verbindliche Entscheidungen nicht, sondern sollen Risiken von Willkür, Fehlentscheidungen und der Dominanz politischer und wirtschaftlicher Einzelinteressen verkleinern. Ob und wo dies gegenwärtig gelingt und wo sich aus dem Krisenmanagement autoritäre Versuchungen entwickeln, ist aufmerksam zu beobachten.(4)

Der Sozialstaat soll Gewähr bieten, dass Gesundheit als soziales Menschenrecht (Art. 12 des Internationalen Pakts für soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte) allen bestmöglich erreichbar ist. Ob und wie Gesundheitspolitik menschenrechtlich ausgerichtet ist und bleibt, lässt sich daran sehen, wie das ungleiche Risiko von älteren und jüngeren, gesundheitlich beeinträchtigten und nichtbeeinträchtigten Menschen und die Gefährdungen an Arbeitsplätzen und in beengten Wohnverhältnissen gewichtet und behandelt werden. Da gibt es Unterschiede zwischen Staaten, Politiken und Philosophien. Nimmt man die bestmögliche Gesundheit ernst, ist es Aufgabe von Gesundheitspolitik, die besten Möglichkeiten herbeizuführen.

Prävention ist auch das Vorhalten eines Gesundheits- und Sozialwesens, das auf plötzliche aber vorhersehbare Ereignisse(5) wie eine Pandemie bestmöglich eingerichtet ist. Das kann marktwirtschaftliche Organisation nach Angebot und Nachfrage nicht leisten. Es fordert planmäßige Vorsorge für die Wechselfälle des Daseins nicht nur der Einzelnen, sondern auch der Gesellschaft als Ganzes. Vorsorge für einen plötzlichen hohen Bedarf an Gesundheitsleistungen und sozialer Unterstützung ist in den letzten Jahrzehnten vor allem im Zusammenhang mit Kriegen und Naturkatastrophen thematisiert worden, wie an der Inanspruchnahme von Streitkräften und Katastrophenschutz zu sehen ist.

III. Verantwortlichkeiten

Sozial- und gesundheitspolitische Fragen im Zusammenhang der Corona-Krise lassen sich an der Zuordnung von Verantwortlichkeiten betrachten. Der internationale Vergleich lässt vermuten, dass es dabei nicht eine einzige, sondern verschiedene funktionale Ausgestaltungen gibt.

1. Information und Koordination
Noch die Bekämpfung der Cholera-Epidemie von 1892 litt daran, dass die Verbreitung von Seuchen durch übertragbare Erreger medizinisch und politisch umstritten war. Auch heute ist die Bekämpfung einer neuen Krankheit Handeln unter Unwissen und Unsicherheit. Umso wichtiger sind organisierte Schnittstellen zwischen medizinischer, epidemiologischer und anderer wissenschaftlicher Erkenntnis und Politik auf allen Ebenen, die koordinieren und entscheiden müssen. Wichtig ist dabei, dass Wissenschaft, praktische Medizin und Politik ihren jeweiligen Funktionslogiken folgen und sich zugleich eng austauschen können.

Auf der globalen Ebene ist die Weltgesundheitsorganisation (WHO) als relevanter Akteur in den Blick gerückt. Ohne politische Macht kann sie vor allem durch Aktivität und Glaubwürdigkeit wirken. Ein hoher Grad an privater (Ko-)Finanzierung und enge Kontakte zur globalen pharmazeutischen Industrie haben letztere durchaus beeinträchtigt. Ebenso ist aber auch in dieser Krise deutlich geworden, dass die WHO auf ihre Mitgliedstaaten Rücksicht nehmen muss. Sie und ihre Unabhängigkeit, auch durch engere Verflechtung mit den Zivilgesellschaften, zu stärken, ist dringend geboten.

Deutlich geworden ist von Beginn der Corona-Krise an, dass ein eng verflochtener Raum wie die Europäische Union starker Gesundheitsinstitutionen bedarf. Das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) in Stockholm ist aber nicht hinreichend ausgestattet, obwohl die Union ein ergänzendes Mandat für Beobachtung, frühzeitige Meldung und Bekämpfung schwerwiegender grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren hat (Art. 168 Abs. 1 AEUV).

In der Bundesrepublik Deutschland hat das Robert-Koch-Institut entsprechende Aufgaben einschließlich der Vernetzung und Koordination zwischen internationalen Organisationen, Bund, Ländern, Krankenkassen, Unfallversicherung, Kassenärztlicher Bundesvereinigung und Krankenhäusern. In Ländern und Kommunen sind Gesundheitsbehörden und Gesundheitsämter selbst die Schnittstelle von Fachlichkeit und Politik. Auch dort bedarf es institutioneller und berufsrechtlich gesicherter Distanz zwischen beiden Funktionen. Gesundheitspolitische Fehleinschätzungen auf Grund mangelnden Abstands zu kommunalen Partikularinteressen kommen vor - von Hamburg 1892 bis Ischgl 2020.

Schon seit langem wird beklagt, dass die Gesundheitsämter in Ländern und Kommunen für ihre Aufgaben selbst außerhalb von Krisen nicht hinreichend ausgestattet sind. Sie müssten Bindeglied zwischen globalen und nationalen Informationen und Handlungsanweisungen zur Kenntnis regionaler und lokaler Gefährdungs- und Versorgungsstrukturen sein und dazu personelle Ressourcen mit medizinischer, gesundheitswissenschaftlicher und pflegerischer Kompetenz vorhalten. Über eine bessere Ausstattung der Gesundheitsämter in Ländern und Kommunen ist ebenso wie über die institutionelle Struktur nachzudenken. So könnten die exekutiven Funktionen in Ministerien und Ämtern belassen werden, die (sozial-)medizinische, pflegerische und gesundheitswissenschaftliche Kompetenz für alle öffentlichen Einrichtungen aber in einem unabhängigen öffentlich-rechtlichen Dienst gebündelt werden, in dem auch der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) aufgehen könnte, will man überhaupt hinreichend Fachpersonal finden. Wichtig wäre, dass die fachliche Ausstattung keine Frage der kommunalen Finanzlage mehr wäre, sondern einheitlich hohen und gesichert finanzierten Standards folgte. Die aktuellen Finanzierungsmodi kommunaler Sozial- und Gesundheitspolitik bewirken, dass Ressourcen primär dorthin fließen, wo individuelle bundes- und landesrechtliche Ansprüche zu erfüllen sind, während Standards für nötige Infrastrukturen nach Finanzlage und Prioritäten von den Ländern vage gehalten werden, um der landesverfassungsrechtlichen Konnexität zu entgehen, und in den Kommunen nach Finanzlage gedehnt und gesenkt werden können.

Auch außerhalb des Gesundheitsdienstes haben infektionsmedizinische Maßnahmen infrastrukturelle Voraussetzungen, etwa die flächendeckende Verfügbarkeit hygienischer Toiletten und Waschgelegenheiten im öffentlichen Raum und in Verkehrsmitteln, in Betrieben und Schulen. Arbeits- und Gesundheitsschutz werden auch deshalb in allen Bereichen aufzuwerten sein.

Staatliche Maßnahmen und offiziellen Annahmen müssen der wissenschaftlichen und öffentlichen Kritik ausgesetzt bleiben. Fehlende Aufklärung und Unfreiheit fördern Fehlentscheidungen, Gerüchte und Panik. Viele Epidemien waren und sind geprägt von gefährlichen und ablenkenden Schuldzuweisungen an Fremde und Juden. Es wäre ein großer Fortschritt, wenn diese Komponente ("chinesischer Virus") bei der globalen Bekämpfung von COVID-19 dauerhaft zurückgedrängt werden könnte.

2. Ordnungsrecht der Prävention
COVID-19 hat die Nationalstaaten als (einzige) Akteure ordnungsrechtlicher Prävention nachhaltig in Erinnerung gebracht. Doch wurde zugleich deutlich, wie ineffizient, vielleicht auch kontraproduktiv Schließungen von Staatsgrenzen in einer ökonomisch globalisierten Welt sind. Viren und ihre Eindämmung orientieren sich nicht an Grenzen. Es mag notwendig sein, örtliche Freizügigkeiten zum Infektionsschutz einzuschränken. Wenn man sich dazu primär und einseitig der Staatsgrenzen bedient, weil sie nun mal da sind, wirkt das hilflos.

In Deutschland zeigt sich bisher - unabhängig von der aktuellen oder retrospektiven Bewertung der getroffenen Maßnahmen -, dass der kooperative Föderalismus funktionieren kann. Der gesundheitliche Ausnahmezustand auf der Basis des Infektionsschutzgesetzes wurde nicht bundeszentral verfügt, sondern durch überwiegend abgestimmte Landesverordnungen und Allgemeinverfügungen der Kommunen. Damit sind mehr Personen und Interessen in die Entscheidungen eingebunden. Das ist ein Vorteil, auch wenn man - möglicherweise berechtigte - Differenzen innerhalb Deutschlands in Kauf nehmen muss. Solange nicht auf engem Raum sich ausschließende Strategien verfolgt werden, ist der "Flickenteppich" weniger gefährlich als die einsame (Fehl-)Entscheidung.

Insofern sollte die in der Krise begonnene Ausweitung von Bundeskompetenzen im Infektionsschutz bei epidemischen Lagen von nationaler Tragweite (§ 5 IfSG) bei Außerkrafttreten 2021 sorgfältig evaluiert werden Ordnungsrechtliche Kompetenzen sollten föderal bleiben. Gerne und hilfreich betätigen könnte sich der Bund künftig für einheitliche Standards des öffentlichen Gesundheitsdienstes, die Voraussetzung für Funktionieren und Abstimmung ordnungsrechtlicher Maßnahmen sind.

3. Leistungsrecht der Prävention
Die Corona-Krise zeigte Unsicherheit und Uneinheitlichkeit in Deutschland bei der Verantwortlichkeit für die zunächst einzige zur Verfügung stehende spezifische Gesundheitsleistung: den Test. Da sein Ergebnis jedenfalls (und oft auch hauptsächlich) der Steuerung ordnungsrechtlicher und statistischer Maßnahmen dient, konnte es naheliegen, die Verantwortung beim jeweiligen Gesundheitsamt zu sehen. Andererseits ist der Test eine Leistung der ambulanten Krankenbehandlung an Menschen, die - jedenfalls mit Symptomen - zunächst die hausärztliche Versorgung kontaktieren. Dort allerdings waren Tests und Schutzkleidung oft nicht verfügbar. Die Gesamtverantwortung der Kassenärztlichen Vereinigungen führte dann zu deren Verantwortlichkeit, rasch eigene Testzentren aufzubauen und die Versorgung über die bislang vielen Menschen nicht bekannte Telefonnummer 116 117 zu steuern. Der Eindruck unklarer Verantwortlichkeiten zwischen Gesundheitsamt, Hausarzt, KBV-Ambulanz und der für viele Menschen mental präsenteren Notfallambulanzen der Krankenhäuser hat sicherlich zumindest in der Anfangszeit zu Reibungsverlusten geführt und sollte in der Nachbereitung diskutiert werden.

Es zeigt sich, dass im deutschen Gesundheitswesen Klärungsbedarf besteht, wo bevölkerungsbezogene Interventionen wie Tests und Impfungen im Versorgungssystem anzusiedeln sind. Das gerade erst in Kraft getretene Masernschutzgesetz hat das Impfrecht geöffnet, so dass Masern- oder Grippeimpfungen nun durch alle Ärzte und auch in Apotheken erfolgen können. Ob das - bessere Materialausstattung vorausgesetzt - auch der Weg für künftige Pandemien wäre oder ob es einer Zuordnung zumindest der Federführung für Impf- und Testinterventionen bedarf, z.B. an die Gesundheitsämter, wird zu klären sein. Dabei wird deutlich, dass bevölkerungsbezogene Präventionsleistungen letztlich fremd in einem System sind, das auf individuellen Versicherungsleistungen aufbaut. Bei einer Masern-Impfung oder einem SarsCoV-2-Test geht es nicht primär um individuelle Leistungsansprüche, sondern darum, dass möglichst viele Personen eine Leistung möglichst schnell bekommen, egal ob gesetzlich, privat oder nicht versichert, In- oder Ausländer. In Deutschland ist das Versorgungssystem um die gesetzliche Krankenversicherung herum aufgebaut. Das Diktum "versicherungsfremd" einerseits und das Veto der Länder und Kommunen gegen Regelungen, die sie Geld kosten, andererseits, haben manche sinnvolle Reform in diesem System verlangsamt. Es wäre gut, wenn die Krise Auslöser für eine klare und praktikable Präventionsverantwortlichkeit würde, wie sie das Präventionsgesetz von 2015 nicht erreicht hat. Es zeigt sich, dass Prävention eine zu ernste Sache ist, um sie weiter als Marketing-Instrument im Kassenwettbewerb misszuverstehen.

4. Leistungsvorsorge als Prävention
Die Corona-Krise stellt auch die Frage: Wer ist dafür verantwortlich, dass die infrastrukturellen Voraussetzungen individueller Leistungen gesichert sind, möglichst auch in atypischen Situationen wie dieser? In einer solchen Situation sind die Regelungen zur Infrastrukturverantwortung der Sozialleistungsträger (§ 17 SGB I) und zum Sicherstellungsauftrag der vertragsärztlichen Versorgung für Krankenkassen und Vertragsärzte (§ 72 SGB V) nicht ausreichend. Weder Krankenhäuser noch Vertragsärzte als selbstständig wirtschaftende Einheiten haben ein Interesse, beispielsweise mehr Schutzkleidung oder Beatmungsgeräte vorzuhalten als normalerweise benötigt. Auch die Krankenkassen haben weder Materiallager noch finanzieren sie diese. In der jetzigen Krise sind Bund und Länder rasch eingesprungen und haben im Rahmen des Möglichen Schritte zur Kapazitätserweiterung und Beschaffung unternommen. Die große Bedeutung rascher und jederzeit verfügbarer Versorgung mit Medizinprodukten und Arzneimitteln dürfte neue Argumente zur Diskussion über die Regeln für die Vorsorge und Beschaffung durch Staat, Krankenkassen und öffentlich finanzierte Gesundheitseinrichtungen schaffen. Im Krisenfall stark steigende Preise und mangelnde Verfügbarkeit lebenswichtiger Güter könnten auf Systemfehler hindeuten. Das könnte sich auch darauf auswirken, wie zukünftig in der EU mit der Geltung des Wettbewerbsrechts für Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse umgegangen wird und was nötig ist, damit die Erfüllung ihrer Aufgaben nicht beeinträchtigt wird (Art. 106 Abs. 2 AEUV).

Absehbar noch problematischer - und das auch im Normalbetrieb - ist ein Mangel an ärztlichem und pflegerischem Personal. Dessen Verfügbarkeit wird bestimmt durch vormalige Entscheidungen über Ausbildungskapazitäten, Personalschlüssel und (fehlende) Anreize zur Berufstätigkeit, durch die Gestaltung von Arbeitsbedingungen und Entgelten. Bereits in den letzten Jahren ist dies für die Pflegeberufe Gegenstand der Gesundheitspolitik geworden (so Pflegelöhneverbesserungsgesetz, BT-Drs. 19/14416, Pflegepersonal-Stärkungsgesetz, BT-Drs. 19/5593). Die aktuelle Ausweitung der Zulassung heilkundlicher Tätigkeiten durch Pflegeberufe in der Krise (§ 5a IfSG) weist darauf, dass auch traditionelle Rangverhältnisse zwischen den Berufen dabei dringend auf den Prüfstand müssen. Dringend zu beachten ist dabei, dass Maßnahmen in der stationären Akutversorgung nicht zu Knappheiten in der ambulanten Versorgung und Langzeitpflege führen sollten, die dann wieder zur Überlastung der stationären Versorgung führen können. Insofern mag es auch unzureichend sein, nur die stationäre medizinische Versorgung als kritische Infrastruktur zu definieren (§ 6 BSI-Kritis V). In der aktuellen Krise wird darauf immerhin reagiert, indem die einzelleistungsorientierte Finanzierung gesundheitlicher, pflegerischer und sozialer Dienste und Einrichtungen befristet auf eine infrastruktursichernde Finanzierung umgestellt wird (BT-Drs. 19/18107, 14, 34). Es gehört aktuell zu den wichtigen Aufgaben der sozialen und kommunalen Selbstverwaltung in der Krise, Lücken in diesen eilig geschaffenen Rechtsgrundlagen zu überbrücken.

Medizinisches und pflegerisches Personal ist von fehlender Kapazität und Ressourcen in der Pandemie (und auch im "Normalbetrieb") selbst physisch und psychisch gefährdet. "Schutz des Gesundheitswesens vor Überlastung" ist als Schutzgut der aktuellen Politik kein Abstraktum, sondern auch für die Zukunft essenziell.

Bisher gingen die Krankenhausplanung der Länder und die Bedarfsplanung der Kassenärztlichen Vereinigungen davon aus, dass sich zukünftige Bedarfe an Gesundheitsleistungen im Wesentlichen aus vergangenen Bedarfen und demografischen Daten ermitteln lassen. Die Finanzierung des ambulanten und stationären Sektors richtet sich vor allem nach erbrachten Leistungen. Bei den Krankenhäusern kommt die Investitionsförderung der Länder hinzu, die jedoch oft als unzureichend kritisiert wird und sich, wenn überhaupt, am "Normalbedarf" ausrichtet. Sieht man das Gesundheitswesen als Ganzes jedoch als kritische soziale Infrastruktur einer Gesellschaft, scheint eine integrierte und auch außergewöhnliche Fälle stärker umfassende Planung nötig. Das impliziert staatliche Verantwortung für notwendige Vorsorge durch Vorratshaltung und materielle und personelle Reservekapazität. Blickt man in die Welt, ist es wahrscheinlich, dass nach der Corona-Krise die Argumente für Marktwirtschaft im Gesundheitssystem sich nicht vermehrt haben. Es gibt aber auch schlechte Beispiele für staatliche Krankenhäuser und Gesundheitsdienste, gerade wenn diese der Austeritäts-Politik unterlegen haben.

Zur Vorsorge für das Gesundheitswesen gehört auch die Organisation des medizinischen Fortschritts. Sicher kann es nicht für jede neu auftretende Krankheit Impfung und Medikament "auf Vorrat" geben. Doch wird zu fragen sein, ob nach dem Auftreten von SARS-1 und MERS die Forschung über Corona-Viren der bekannten Gefährdung angemessen gewesen ist. Strukturell wird in Deutschland zwar klinische Forschung an Universitäten und ihren Krankenhäusern überwiegend staatlich finanziert, die pharmazeutische Forschung ist jedoch in der Systematik des Gesundheitswesens primär privat finanziert und muss sich daher an ihrer Refinanzierung über den Markt ausrichten. Damit konzentriert sie sich auf häufige und in zahlungskräftigen Ländern vorkommende Krankheiten. Ihre allgemeine Zugänglichkeit ist oft durch Patentrechte erschwert; auch diese sind krisenbedingt nun eingeschränkt (§ 5 Abs. 2 Nr. 5 IfSG). Selbst global ist die von der WHO mitgetragene Impfstoff-Allianz GAVI auf private Kofinanzierung durch die Gates-Stiftung und Partnerschaft mit privaten Unternehmen angewiesen.

5. Soziale Ungleichheit
Seuchen können Treiber sozialen Fortschritts sein, wenn gesellschaftlich und politisch erkannt wird, dass ihre schädliche Wirkung alle sozialen Schichten, Klassen und Interessen betrifft. Gleichwohl wirken sie nur selten als die Gleichmacher, den die mittelalterlichen Totentänze aus der Zeit der Pest zeigen. Häufiger treffen sie, wie Typhus und Cholera, vor allem ohnehin sozial Benachteiligte. International wird sich in der Nachbetrachtung von COVID-19 zeigen, wer warum am stärksten getroffen worden ist. Generell trifft dieses Virus, soweit wir bisher wissen, am schwersten Ältere und gesundheitlich Eingeschränkte. Welche Rolle dabei strukturelle Versorgungsmängel der ambulanten Gesundheitsversorgung und in Wohn- und Pflegeeinrichtungen, Vorschäden der Lunge durch Industriearbeit, Luftverschmutzung und Tabakrauch gespielt haben werden, ist aufmerksam zu beachten.

Schon außerhalb der Krise ist die medizinische Versorgung in Pflege- und Wohneinrichtungen und die Gewährleistung professioneller ambulanter Pflege und Unterstützung schwierig. Vorsorge mit Material und Personal war dort noch weniger getroffen. Hier wird es in der Krise gerade in Behinderteneinrichtungen zu Mehrkosten kommen, die durch die Beschlüsse des ersten Sozialpakets nicht gedeckt sind. Auch hier ist die Selbstverwaltung gefordert.

Priorisierung und Rationierung von Gesundheitsleistungen in der Epidemie ist sehr anfällig dafür, soziale Ungleichheiten zu reproduzieren und zu verstärken. Eine Benachteiligung auch bei Versorgungsengpässen wegen Alter, chronischer Krankheit oder Behinderung(6) ist in Deutschland verboten (§ 2a SGB V; § 33c SGB I; §§ 1, 2 Abs. 1 Nr. 5 AGG). Schon TriageKriterien wie Erfolgsaussicht und Priorität sind mit Blick auf ihre mittelbaren Wirkungen sehr problematisch.

Gerade beim Infektionsschutz wird deutlich, dass das Gesundheitswesen im Ganzen, Dienste, Einrichtungen, Berufsträger und Behörden auf Menschen zu achten haben, die schlechten Zugang zu Gesundheitsleistungen und -informationen haben, seien sie geistig und seelisch behindert, mobilitäts- und sinnesbeeinträchtigt, Pflegebedürftige, Analphabeten, Menschen mit geringen Deutschkenntnissen, Obdachlose, Prostituierte, Menschen in Gemeinschaftsunterkünften und Menschen mit ungesichertem Aufenthaltsstatus. Wenn sie nicht gleichen und barrierefreien Zugang zu Informationen, Tests und Behandlung haben wie andere auch, ihre Wohn- und Lebenssituation verbessert wird, sind sie gefährdet - und gefährden damit auch andere. COVID-19 ist ein weiterer Warnruf, ungleiche Gesundheitschancen dieser Gruppen zu bessern.

IV. Ausblick

Es ist richtig, in der Krise zuerst das Drängendste zu erledigen. Doch aus Erfahrungen sollte gelernt werden können. § 4 Abs. 1a IfSchG ist ein Merkposten. Auch nach der Krise werden Deutungsmacht und Einfluss von Interessen unterschiedlich verteilt sein. Verschiebungen von Ressourcen sind leichter durchsetzbar als qualitative Änderungen an Verantwortlichkeiten und Strukturen. Auch deswegen brauchen in und nach der Krise vulnerable Gruppen und die für ihre Behandlung und Unterstützung wichtigen Dienste, Einrichtungen und Berufe besondere Aufmerksamkeit.

Evans schreibt zur Cholera 1892: "Die Epidemie kennzeichnete - auch wenn sie ihn nicht als einzige herbeiführte - den Sieg des Preußentums über den Liberalismus, den Triumph der staatlichen Intervention über das Laisser-Faire." Mit dem Wissen, dass "danach" im 20. Jahrhundert ebenso der historische Aufbau des Sozial- und Gesundheitswesens wie Nationalismus und Krieg lagen, ist der Ausblick auch heute ambivalent. In einer längerfristigen Betrachtung mag die Corona-Krise in einer längeren Linie stehen, die seit der Finanzkrise 2008/2009 einerseits eine Renaissance sozialstaatlicher Regulierung, andererseits einen Wiederaufstieg des Nationalismus markiert.

In einer optimistischen Version dessen, was bevorsteht, mag COVID-19 die Notwendigkeit verdeutlicht haben, die internationale Kooperation für die Verwirklichung des Menschenrechts auf Gesundheit substanziell zu verstärken. Denn vor allem führt die Corona-Krise vor Augen, dass Gesundheitspolitik weniger denn je national beschränkt sein kann, wenn internationale Verflechtung von Produktion, Konsum, Kommunikation und Mobilität alle sozialen Bedingungen von Gesundheit globalisiert haben und damit ebenso die Gefahren wie die Lösungswege. Friedrich Engels, Kritiker bürgerlicher Sozialreformen des 19. Jahrhunderts, schrieb 1872 "Zur Wohnungsfrage": "Die Brutstätten der Seuchen, die infamsten Höhlen und Löcher, worin die kapitalistische Produktionsweise unsre Arbeiter Nacht für Nacht einsperrt, sie werden nicht beseitigt, sie werden nur - verlegt!" - die Folgen waren etwa 1892 in Hamburg zu spüren. Nicht die Externalisierung von Gefahren, sondern nur eine globale Politik, die anerkennt, dass die bestmögliche Gesundheit eines jeden die Bedingung der Gesundheit aller ist, kann die nachhaltige Konsequenz sein.


Anmerkungen:

(1) Prof. Dr. iur. Felix Welti arbeitet am FB Humanwissenschaften der Universität Kassel und ist Mitherausgeber der spw. Aktualisierte und gekürzte Fassung des zuerst in Soziale Sicherheit 4/2020, S. 124-128 veröffentlichten Beitrags.

(2) Richard Evans, Tod in Hamburg - Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830-1910, Reinbek 1990. Es ist zu hoffen, dass das Buch bald wieder aufgelegt wird.

(3) Lorenz von Stein, Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts, 1. Aufl. 1870/2010, 82/72.

(4) Für die tagesaktuelle Diskussion: www.verfassungsblog.de

(5) Vgl. die Risikoanalyse "Pandemie durch Virus Modi-SARS", BT-Drs. 17/12051 vom 3.1.2013.

6) Siehe die Dokumentation kritischer Stellungnahmen auf www.reha-recht.de

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 2/2020, Heft 237, Seite 38-44
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Mai 2020

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