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KASSEN/1906: Von der Nummer zur Serviceplattform - Neue Angebote für Patienten (KBV klartext)


KBV Klartext
Das Magazin der kassenärztlichen Bundesvereinigung, 3. Ausgabe 2019

Von der Nummer zur Serviceplattform: Neue Angebote für Patienten

von Birte Christophers, Tabea Breidenbach und Alexandra Bodemer


Wenn Menschen in Deutschland krank, aber die Praxen geschlossen sind, gibt es dennoch Hilfe: Der ärztliche Bereitschaftsdienst ist seit sieben Jahren unter der Telefonnummer 116117 erreichbar. Derzeit wird die Nummer umfassend ausgebaut, sodass sie bald noch viel mehr können wird.

Die kostenfreie Telefonnummer 116117 gibt es seit März 2012. Damals hatten die die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) die Nummer für den ärztlichen Bereitschaftsdienst außerhalb der Praxisöffnungszeiten eingeführt. Davor gab es knapp 1.000 verschiedene regionale Rufnummern für den Dienst. Über die 116117 werden Hilfesuchende in ganz Deutschland direkt an die für sie zuständige Bereitschaftsdienstpraxis, einen Bereitschaftsarzt oder den fahrenden Dienst der KV vermittelt. Bislang fand die Vermittlung zu den sprechstundenfreien Zeiten statt, ab Januar 2020 wird die Nummer 116117 rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr erreichbar sein. 2018 haben rund sieben Millionen Menschen die Nummer gewählt, manchmal gehen bis zu 6.000 Anrufe pro Stunde ein. Um die Nummer bundesweit noch bekannter zu machen, haben KBV und KVen am 30. August eine große Kampagne gestartet. "Das Angebot ist bereits toll, nun kommen weitere Funktionen und Services hinzu", sagt Dr. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der KBV.

Was ändert sich?

Die 116117 wird aufgewertet und bringt neben Änderungen für Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten auch neue Service-Leistungen für Patienten mit. Diese hängen insbesondere mit der Telefonnummer des ärztlichen Bereitschaftsdienstes zusammen.

Bisher half die 116117 Anrufern, die außerhalb der Praxisöffnungszeiten gesundheitliche Beschwerden hatten und eine Behandlung benötigten, aber kein Fall für den Rettungsdienst waren. Nun soll eine Schnittstelle zum Notruf eingerichtet werden, die eine Verbindung zwischen den beiden Notfall-Diensten sicherstellt. Damit können Anrufer, die in lebensbedrohlichen Fällen sofortige Hilfe benötigen, direkt an die 112 weitergeleitet werden. Damit der Betrieb rund um die Uhr gewährleistet ist, stocken die KVen ihre Callcenter personell auf: Bundesweit sollen es insgesamt 1.200 Vermittler werden. Das bereits jetzt medizinisch qualifizierte Personal in den Zentralen erhält außerdem zusätzliche Schulungen. Denn um beurteilen zu können, ob ein Anrufer doch ein Fall für den Rettungsdienst ist, erfolgt in den Callcentern der 116117 ab Januar eine medizinische Ersteinschätzung per Telefon. Dazu nutzen die Mitarbeitenden in den Callcentern ein standardisiertes Verfahren.

SmED hilft bei Ersteinschätzung

Für die telefonische Ersteinschätzung kommt die Software SmED (Strukturierte medizinische Ersteinschätzung in Deutschland) zum Einsatz. Diese ermöglicht dem medizinisch geschulten Personal, die Beschwerden der Patienten und den Ernst der Lage einzuschätzen: Unterschieden wird in die Kategorien "lebensbedrohlicher Notfall", "schnellstmögliche ärztliche Behandlung", "ärztliche Behandlung binnen 24 Stunden" und "ärztliche Behandlung später". Je nach Einordnung werden die Patienten in die richtige Versorgungsebene vermittelt: Rettungsdienst (112), Notaufnahme, ärztlicher Bereitschaftsdienst oder Arztpraxis.

Das Prinzip: Wendet sich ein Patient mit Beschwerden an die 116117, leitet die Mitarbeiterin im Callcenter ihn mithilfe der Software durch einen strukturierten Fragenkatalog. Dabei erkundigt sie sich neben den allgemeinen Patientendaten und den aktuellen Beschwerden auch nach chronische Krankheiten, Vorerkrankungen und Medikation. Das Ergebnis stellt keine Diagnose dar, sondern gibt lediglich eine erste Einschätzung der Dringlichkeit des Falles (eine sogenannte Triage). So kann SmED eine Empfehlung geben, wann der Patient zum Arzt muss beziehungsweise welche Versorgungsebene die richtige ist.

SmED basiert auf einem in der Schweiz erprobten Ersteinschätzungsverfahren und wurde für Deutschland adaptiert. Bei den Eidgenossen ist die Ersteinschätzungssoftware seit Jahren etabliert: SMASS (Swiss Medical Assessment System) geht auf ein Projekt des Instituts für Hausarztmedizin der Universität Bern zurück. Durch die Software werden Sicherheit und Qualität gewährleistet. In Deutschland wurde SmED bereits von einigen KVen getestet.

"Die KVen nutzen konkrete Maßnahmen und Instrumente, um die Versorgung im Akutfall zielgerichtet und passgenau sicherzustellen. SmED wird dabei ein zentraler Baustein. Das erprobte und wissenschaftlich fundierte Verfahren ermöglicht eine sichere Empfehlung, wer tatsächlich die Notaufnahme eines Krankenhauses aufsuchen muss. Zudem unterstützen wir das Prinzip von Integrierten Notfallzentren an geeigneten Krankenhäusern, welches auch der Sachverständigenrat in seinem letzten Gutachten dringend empfohlen hat", erklärt Dr. Stephan Hofmeister, stellvertretender KBV-Vorstandsvorsitzender.

Mehr Kooperation und bessere Steuerung

Die Software zur Ersteinschätzung soll überall dort eingesetzt werden, wo Patienten nach Hilfe suchen: unter der Nummer 116117, aber perspektivisch auch in Integrierten Notfallzentren in geeigneten Krankenhäusern.

"Das vom Gesetzgeber intendierte und von uns unterstützte Ziel ist, Prozesse schlank, patientengerecht und anwenderfreundlich zu gestalten", äußert sich Gassen. "Wir sind uns unserer Verantwortung in diesem Prozess bewusst, deswegen unterstützen wir die Ausgestaltung künftiger Versorgungsstrukturen nach Kräften. Allerdings muss man uns machen lassen. Es wäre fatal, wenn alles, was die KVen aufgebaut haben, mit der Wurzel wieder ausgerissen würde. Deshalb sehen wir auch die Pläne von Minister Spahn kritisch, die Notfallversorgung als eigenen Sektor zu organisieren", so der KBV-Chef (siehe "Drei Fragen an ..." weiter unten).

Mit dem Ausbau der 116117 geht auch die Hoffnung einher, die Notaufnahmen in den Krankenhäusern zu entlasten. Eine Trendwende scheint eingeleitet: Die Zahl der durch Niedergelassene ambulant versorgten Notfälle steigt laut einer Erhebung des "Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland" seit mehreren Jahren an, während die Zahl der an Krankenhäusern behandelten Notfälle sinkt. "Durch die Verknüpfung von Rettungsdienst und ärztlichem Bereitschaftsdienst werden die Patienten in die für sie passende Versorgungsebene gesteuert, bevor sie sich selbst auf den Weg in die Notaufnahme machen. Insofern gehen wir davon aus, dass die Zahl der unnötig in den Notaufnahmen der Kliniken erscheinenden Patienten weiter sinkt", erklärt Hofmeister.

Neue Möglichkeiten der Terminvereinbarung

Eine weitere Neuerung im Zuge des Ausbaus der 116117 ist die Verzahnung der Nummer mit den Terminservicestellen (TSS): Ab 1. Januar 2020 sind die TSS der KVen bundesweit ebenfalls über die 116117 erreichbar. Die KVen hatten die TSS bereits vor mehr als drei Jahren eingerichtet. Das Angebot war primär dafür gedacht, freie Termine an Patienten zu vermitteln, die eine Überweisung haben, aber keinen Arzt finden. Dabei ging es zunächst nur um Termine bei Fachärzten, im April 2017 kamen Akutbehandlungen bei Psychotherapeuten hinzu. Seit Mai 2019 vermitteln die TSS auch Termine bei Haus- sowie Kinder- und Jugendärzten und helfen Versicherten dabei, dauerhaft einen Haus- oder Kinderarzt zu finden.

Es gibt noch eine weitere Neuerung bei Terminen und der Terminvergabe, von der sowohl Ärzte als auch Patienten profitieren. Das Vermittlungstool eTerminservice (eTS) soll die Terminvereinbarung vereinfachen - für alle Beteiligten. So läuft es ab: Mittels der von der KV Telematik entwickelten Software eTS können Praxen freie Termine direkt vom Praxis-PC an die TSS der jeweiligen KV melden. Der eTS trägt somit auch dazu dabei, Abläufe in der Praxisorganisation zu digitalisieren. Die Mitarbeitenden der TSS erhalten Einsicht in die gemeldeten Termine, um diese an Patienten zu vermitteln. "Die Digitalisierung im Gesundheitswesen erstreckt sich nicht nur auf die elektronische Patientenakte. Wir arbeiten an allen Seiten daran, eine sinnvolle Digitalisierung der Prozesse zu gestalten", so KBV-Vorstandsmitglied Dr. Thomas Kriedel. "Wichtig dabei ist, dass kein Mehraufwand für Ärzte entsteht. Dieser Anforderung entspricht der eTS: Er ist leicht zu bedienen und kann den organisatorischen Aufwand in den Praxen reduzieren", so Kriedel weiter.

Auch Patienten können den Service nutzen: Um Termine zu suchen beziehungsweise zu buchen, können sie ab dem kommenden Jahr zusätzlich zur Telefonnummer 116117 auch den eTS nutzen - über die 116117.App oder über die Website www.116117.de. Die Website hat im Rahmen der Kampagne für die Bereitschaftsdienstnummer ebenfalls einen neuen Look erhalten: Mit dem ersten "Klick" wird die Suchmaske für die nächste Bereitschaftsdienstpraxis zur Verfügung gestellt. Neben einer allgemeinen Arzt-Suche wird es außerdem möglich sein, Praxen nach fachlichen, zeitlichen und örtlichen Kriterien zu filtern und einen Termin bei der Praxis der Wahl zu buchen. Auch die 116117-Smartphone-App, die für Android und iOS bereitgestellt wird, hilft schnell und übersichtlich: Brauche ich "sofort" Hilfe, oder "heute", oder "bald" einen Termin bei einer Ärztin oder einem Arzt? Sowohl App als auch Website verlinken außerdem zu anderen Not- und Hilfsdiensten, etwa dem zahnärztlichen Bereitschaftsdienst oder der Notapotheken-Suche. "Wir gestalten eine Plattform, die alle Services bündelt", fasst Kriedel zusammen.

Mit den neuen Funktionen der 116117, der Verknüpfung mit den TSS und der Einrichtung einer Schnittstelle zur 112 gebe es die Chance, in einem ersten Bereich eine medizinisch sachgerechte Patientensteuerung zu etablieren, sagt KBV-Chef Gassen.

"Dieser Schritt hin zu einem 'Versorgungsportal' des ambulanten Bereiches hinter der 116117 ist eine riesige Herausforderung. Wir nutzen die gesamte Bandbreite technischer Möglichkeiten, damit die knappe Ressource Arzt und Therapeut dort zum Einsatz kommt, wo sie wirklich gebraucht wird", so Gassen.

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Im Video äußerst sich Dr. Stephan Hofmeister über die künftige zentrale Rolle der 116117:
www.kbv.de/html/35964.php

Die Funktionsweise des eTerminservice für Ärzte erläutert ein Erklärvideo unter:
www.kbv.de/html/terminservicestellen.php#content40777

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DREI FRAGEN AN ... DR. ANDREAS GASSEN, VORSTANDSVORSITZENDER DER KASSENÄRZTLICHEN BUNDESVEREINIGUNG (KBV)

Das Bundesgesundheitsministerium arbeitet an einer Reform der Notfallversorgung. Was sagen Sie zu den Plänen?

Bislang handelt es sich ja nur um ein Diskussionspapier, es gibt noch keinen Gesetzentwurf. Das Vorhaben, die Zusammenarbeit zwischen ambulantem und stationärem Sektor bei der Notfallversorgung zu stärken, ist vollkommen richtig. Die Notfallambulanzen der Krankenhäuser sind überlastet, nur eine Minderheit der Patienten sind echte Notfälle. Das ist ein Problem, an dessen Lösung wir als KV-System längst arbeiten. Im Übrigen gemeinsam mit den ärztlichen Kolleginnen und Kollegen an den Kliniken.

Der Entwurf sieht vor, den KVen den Sicherstellungsauftrag für die sprechstundenfreien Zeiten, also nach 18 Uhr und am Wochenende, zu entziehen und auf die Länder zu übertragen. Was sagen Sie dazu?

Das wäre ein Eingriff, dessen Folgen unberechenbar sind. Wäre ich Herr Spahn, würde ich mir sehr gut überlegen, ein seit Jahrzehnten gewachsenes System im Handstreich von rechts auf links zu drehen. Das Problem ist ja nicht, dass der ärztliche Bereitschaftsdienst nicht funktioniert. Das Problem ist, dass die Leute ihn zu wenig kennen beziehungsweise trotzdem in die Notaufnahmen rennen. Wir tun gerade alles dafür, das zu ändern, indem wir den Service hinter der Bereitschaftsdienstnummer 116117 deutlich ausbauen und die Nummer mit einer Kampagne bewerben - welche übrigens die niedergelassenen Ärzte und Psychotherapeuten selbst bezahlen. Dabei verrate ich kein Geheimnis, wenn ich sage, dass viele von denen gar nicht traurig wären, wenn sie keine Dienste mehr nachts und am Wochenende schieben müssten. Aber die KVen haben nun einmal den Sicherstellungsauftrag und den nehmen wir sehr ernst. Hinzu kommt: Viele Landesminister wollen sich diesen Klotz gar nicht ans Bein binden.

Die Notfallversorgung könnte als eigenständiger Sektor neben ambulant und stationär etabliert werden ...

Wir brauchen keinen dritten Sektor. Das würde das Ziel, die Zusammenarbeit besser zu verzahnen, sogar konterkarieren, indem neue Schnittstellen geschaffen würden. Eine eigene Finanzierung brauchen wir hingegen schon. Das gilt insbesondere für strukturschwache Regionen, weil dort einfach zu wenige Patienten sind, um die neuen Strukturen darüber zu finanzieren. Das fällt unter die Überschrift "Daseinsvorsorge", welche über Systemzuschläge, Steuern oder ähnliches zu bezuschussen ist. Das kann nicht auf Kosten der niedergelassenen Ärzte gehen.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- In Callcentern, wie hier in der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin, hilft medizinisch geschultes Personal den Anrufenden weiter. Neben Auskunft und Vermittlung zur richtigen Versorgungsebene können ab kommendem Jahr über die 116117 auch Termine vereinbart werden.

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Quelle:
KBV Klartext, 3. Ausgabe 2019, Seite 4 - 9
Kassenärztliche Bundesvereinigung
Redaktion Klartext
Herbert-Lewin-Platz 2, 10623 Berlin
Telefon: 030 / 40 05-22 05, Fax: 030 / 40 05-22 90
E-Mail: redaktion@kbv.de
Internet: www.kbv.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Oktober 2019

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