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ARTIKEL/1502: Kongress "Vernetzte Gesundheit" - Versorgung von Alten, Schwulen, Verarmten ... im Fokus (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 2/2019

Kongress
"Armselig, ignorant und gleichgültig"

von Dirk Schnack und Astrid Schock


Alte, Schwule, Verarmte, Flüchtlinge: Ihre gesundheitliche Versorgung steht in aller Regel nicht im Fokus - der Kongress "Vernetzte Gesundheit" rückte sie in den Mittelpunkt.


In Deutschland fühlen sich vulnerable gesellschaftliche Gruppen im Abseits, wenn es um die gesundheitliche Versorgung geht: alte Menschen, Lesben und Schwule, in Armut geratene Menschen, Flüchtlinge, Menschen mit Migrationshintergrund, die schon seit einer Generation in Deutschland leben.

Der Kongress "Vernetzte Gesundheit" stellte diese Gruppen in diesem Jahr in den Mittelpunkt. Zu einer dieser vermeintlichen "Randgruppen" zählt auch Dr. Klaus Gauger. Der Freiburger Journalist erkrankte mit 28 Jahren an paranoider Schizophrenie. Gauger schilderte in Kiel, wie er in seinem Umfeld überall Mikrofone vermutete, wie er selbst seine Eltern als Feinde wahrnahm und nach einer angedrohten Entmündigung einer medikamentösen Behandlung zustimmte, die sein Leben weiter ins Negative drehte. Nach der Klinikentlassung wurde er zum Getriebenen zwischen seinen Wahnvorstellungen und der Suche nach Hilfe - die er im deutschen Gesundheitssystem nicht und erst durch Zufall in der spanischen Psychiatrie fand.

Gauger empfindet die ambulante Versorgung für Patienten wie ihn als "armselig", die Einstellung unserer Gesellschaft als "gleichgültig." Er verdeutlichte, dass diese Ignoranz nicht nur Leid für die Betroffenen bedeutet, sondern auch volkswirtschaftlich unverständlich ist: "So junge Leute einfach ins Abseits zu schieben, macht keinen Sinn."

Es gibt aber auch Patienten, deren Erkrankung nicht im Fokus steht. Ein typisches Beispiel sind für Prof. Burkhard Weisser Frauen, die nach der Menopause Bluthochdruck entwickeln. Weisser, Vorstandsmitglied der Deutschen Hochdruckliga, vermisst Engagement für diese Patientengruppe, deren Erkrankung oft erst nach zehn Jahren erkannt wird.

Weitere Gruppen, über die in Kiel diskutiert wurde:

• Menschen ohne Krankenversicherungsschutz: Hilfe finden sie in den Praxen ohne Grenzen. Deren Gründer Dr. Uwe Denker bemüht sich seit Jahren um politische Lösungen, damit diese Praxen überflüssig werden - bislang vergeblich. Denker machte in Kiel deutlich, dass die Betroffenen meist unverschuldet in Not geraten sind und ihre Beiträge nicht mehr zahlen konnten. Das ernüchternde Fazit des Allgemeinmediziners: "Ich kämpfe seit zehn Jahren und sehe wenig Bewegung in der Politik."

• Lesben und Schwule: Sie erfahren nach Wahrnehmung von Gabriela Lünsmann, Vorstandsmitglied des deutschen Lesben- und Schwulenverbandes, zunehmend Akzeptanz und Gleichstellung. Aber ihre besonderen Bedürfnisse finden nach ihrer Beobachtung im Gesundheitswesen kaum Berücksichtigung. Als Beispiel nannte Lünsmann, dass sich Ärzte oft nicht mit den speziellen Krankheitsrisiken dieser Gruppe beschäftigen. Hinzu kommt "die Erfahrung, dass gesundheitliche Probleme auf die Lebensweise zurückgeführt werden", ohne dass dies begründet wäre.

• Flüchtlinge: Ihre Versorgung hat unter dem Strich gut funktioniert, bilanzierte Dr. Carsten Leffmann. Der ärztliche Geschäftsführer der Ärztekammer Schleswig-Holstein ist Mitglied des Arbeitskreises Migration und Gesundheit im Norden. Erleichtert wurde das Ergebnis durch den Umstand, dass viele junge und gesunde Menschen unter den Flüchtlingen waren. Hinzu kam große Hilfsbereitschaft aus den Gesundheitsberufen. Leffmann verwies aber auch auf noch bestehende Defizite, besonders in der Aufarbeitung der zum Teil traumatischen Erlebnisse vor und während der Flucht.

• Alte Menschen haben nach Erfahrungen der Geriaterin Dr. Meike Reh, Chefärztin an den WKK in Heide und Brunsbüttel, vielfältige, zum Teil gegenläufige Probleme. Da gibt es den alten Patienten, der möglichst lange im Krankenhaus bleiben will, weil er dort gut umsorgt wird und sich sonst allein fühlt. Andererseits Patienten, die so schnell wie möglich entlassen werden wollen, weil sie sich die Zuzahlung nicht leisten können.

Ein Thema, das im Gegensatz zu den vulnerablen Gruppen die Gesundheitsexperten seit Jahrzehnten immer wieder beschäftigt, ist die sektorenübergreifende Patientenversorgung. Sie stand im Mittelpunkt des Pre-Workshops. Prof. Wolfgang Hoffmann, Direktor des Instituts für Community Medicine an der Universität Greifswald, erwartet in diesem Zusammenhang einen starken Wandel des bestehenden Systems. Er beschrieb mehrere Entwicklungen, die die "alte Welt" des Gesundheitswesens "hinwegfegen" werden:

• Die ärztliche Selbstverwaltung hat ihre Position gegenüber der Politik geschwächt. Zugleich erstarken andere Gesundheitsberufe, die zunehmend in die Verantwortung drängen und ihre Bedeutung etwa durch Akademisierung untermauern.

• Die jüngere Ärztegeneration ist nicht bereit, auf eine Zusammenarbeit "auf Augenhöhe" untereinander, aber auch nicht mit anderen Gesundheitsberufen zu verzichten. Sie steht Modellen der Delegation aufgeschlossener gegenüber als ihre Vorgänger und fordert Teamarbeit ein.

• Die Transparenz erhöht sich. Einen wesentlichen Beitrag dazu liefern die Digitalisierung und schon im Einsatz oder in der Erprobung befindliche Instrumente wie elektronische Patientenakten.

• Das Verhältnis zwischen Ärzten und Patienten ändert sich. Paternalistisches Verhalten gehört bereits größtenteils der Vergangenheit an und wird zunehmend durch Shared Decision Making abgelöst. "Die Patienten werden sich nicht mehr dominieren lassen", sagte Hoffmann.

Auch andere Experten halten Änderungen für überfällig. Gesundheitsökonom Prof. Herbert Rebscher erwartet aber keine Brüche, sondern schrittweisen Fortschritt. "Wir sollten nicht auf eine große, übergreifende Lösung warten", sagte Rebscher. Dr. Franz Bartmann, früherer Kammerpräsident in Schleswig-Holstein und heute Berater mit Schwerpunkt E-Health, setzt auf eine gezieltere Steuerung von Patienten, die die heute noch zu beobachtende Beliebigkeit, mit der Angebote im Gesundheitswesen in Anspruch genommen werden, einschränkt. Dafür, so Bartmann, müssten Patientenpfade entwickelt werden.

Dr. Thomas Schang, neuer Vorstandschef der Agentur Deutscher Arztnetze und Vorstand der Ärztekammer Schleswig-Holstein, plädierte für die Beseitigung einer wichtigen Hürde für die übergreifende Versorgung: "Die Basis der heutigen Vergütung ist die Menge, Ärzte werden bezahlt wie Fabrikarbeiter", gab Schang zu bedenken. Um Ärzte zu einer sektorenübergreifenden Arbeitsweise zu bewegen, müssten neue Anreize gesetzt werden, die etwa die ärztliche Verantwortung in den Mittelpunkt stellen.

Sektorenübergreifende Arbeit wird auch auf kommunaler Ebene immer wichtiger. Wird eine Praxis nicht nachbesetzt, sorgen sich ältere Patienten um die Versorgung vor Ort. Dass aber die Versorgung durch den Zusammenschluss zu medizinischen Kompetenzzentren und damit die Zusammenarbeit unterschiedlicher Fachrichtungen eine Verbesserung der Versorgungsqualität, die Terminfindung und den Ausbau der Angebote ermöglicht, wird meist mit Zufriedenheit festgestellt. Bartmann appellierte an die Bundesregierung, den Breitbandausbau auch hierfür verstärkt voranzutreiben und damit die Etablierung von Videosprechstunden flächendeckend zu ermöglichen. So kann ein Patient auch auf dem Land die höchste Kompetenz erhalten.

Eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit stellt für Prof. Matthias Laudes, Oberarzt und Leiter des Bereichs Endokrinologie, Diabetologie und klinische Ernährungsmedizin am Campus Kiel, auch bei der Behandlung von adipösen Patienten einen wichtigen Faktor der Behandlung dar. So müssen auch Hausärzte den Mut finden - und damit ihrer Aufgabe als Vertrauensperson gerecht werden - und betroffene Patienten direkt auf eine vorhandene Adipositaserkrankung ansprechen und sie am Ende einer stationären Behandlung auch bei der Nachsorge unterstützen. Das UKSH hat nach seinen Angaben am Campus Kiel eine erfolgreiche funktionsübergreifende Zusammenarbeit erreicht: Seit Ende 2018 können adipöse Patienten eine antragsfreie und leitlinienkonforme Versorgung erhalten. Eine Adipositas-Operation bedarf nicht mehr der Antragsstellung auf Kostenübernahme und der Prüfung durch den MDK, sondern kann direkt erfolgen. Das Konzept ist standardisiert und mit den Ernährungsberatern und Krankenkassen in Schleswig-Holstein erarbeitet. Der Leiter der Adipositaschirurgie des UKSH Kiel, Dr. Markus Ahrens, arbeitet bereits daran, das Konzept weiterzuentwickeln und eine Übertragung auf andere Regionen zu ermöglichen.

Erneut Thema war der bundesweit zu beobachtende Personalmangel. "Wer sagt, er habe keinen Personalmangel, der lügt", sagte Prof. Jens Scholz, Vorstandsvorsitzender des UKSH. Dass Diversity Management hierfür ein Lösungsansatz sein könnte, erläuterte Ulrich F. Schübel vom Institut für Diversity Management Medien & Tools aus Nürnberg. Diversity Management erweitert den Suchradius und erhöht die Durchlässigkeit auch etwa für Studienabbrecher, Migranten oder Honorarkräfte. Auch die Vermeidung unbewusster Diskriminierung kann erreicht und internationale Kompetenzen können genutzt werden. Die Ameos-Gruppe nutzt bereits die Möglichkeiten des Diversity Managements, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.


Info

Neben Vorträgen in großer Runde stehen bei der Vernetzten Gesundheit zahlreiche Workshops auf dem Programm. In diesem Jahr ging es dabei u. a. um die kommunale Verantwortung, um die Frage, wie moderne Therapieoptionen in die Versorgung gelangen und um neue Gesundheitsangebote für Menschen mit Handicap.

10
Jahre lang veranstaltet die Landesregierung Schleswig-Holstein den Kongress Vernetzte Gesundheit bereits. Zwischenzeitlich ausgerichtet vom Wirtschaftsministerium ist inzwischen wieder das Gesundheitsministerium Gastgeber in der Halle 400.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Zum Auftakt des Kongresses diskutierten Dr. Meike Reh, Dr. Uwe Denker, Gabriela Lünsmann, Dr. Heiner Garg, Dr. Carsten Leffmann, Prof. Burkhard Weisser und Dr. Klaus Gauger über den Umgang mit vulnerablen gesellschaftlichen Gruppen in unserem Gesundheitssystem.

- Intensive Diskussionen prägten den Kongress Vernetzte Gesundheit:
Im oberen Bild: Prof. Helmut Hildebrandt und Dr. Franz Bartmann im Gespräch mit Prof. Wolfgang Hoffmann. Im unteren Bild Schleswig-Holsteins Gesundheitsminister Dr. rer. pol. Heiner Garg.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 2/2019 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2019/201902/h19024a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
72. Jahrgang, Februar 2019, Seite 14 - 15
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. März 2019

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