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ARTIKEL/1470: Kritik an der medizinischen Forschung - Verantwortung statt Goldgräberstimmung (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 3/2018

Forschung
Verantwortung statt Goldgräberstimmung

von Horst Kreussler


Perfektes PR-Styling, kaum Selbstkritik und Projekte, die nur auf persönlichen Erfolg ausgerichtet sind: Auf einer Tagung der Ev. Akademie Loccum gab es Kritik an der medizinischen Forschung.


Im klinischen wie im niedergelassenen Bereich, wohl im ganzen Gesundheitswesen häufen sich die Probleme - nur ganz oben, in den Höhen der wissenschaftlichen Forschung, folgt Entdeckung auf Entdeckung, immer neue Techniken versprechen eine rosige Zukunft und alles ist im Prinzip in Ordnung? Mitnichten, leider - es ist viel aufzuräumen. Das zeigte eine seit Jahren fällige Fachdiskussion im Norden, das Seminar "Forschung in verantwortungsethischer Perspektive - Lebenswissenschaften im Fokus" der Volkswagenstiftung und der Evangelischen Akademie Loccum.

"Wir beobachten erhebliche Veränderungen der Forschungskultur schon bei den Anträgen jüngerer Wissenschaftler auf Förderung und bei der Projektdurchführung: Viele scheinen nur auf ihren persönlichen Erfolg ausgerichtet, Misserfolge werden nicht erwähnt, Selbstkritik kommt kaum vor, dafür zeigen die Präsentationen ein perfektes PR-Styling", sagten sinngemäß Dr. Wilhelm Krull (Generalsekretär der VW-Stiftung, einer der größten Drittmittelgeber) und seine Abteilungsleiterin Förderung, Dr. Henrike Hartmann. Der hohe Leistungs- und Produktivitätsdruck belaste die Forschung und provoziere Qualitätsprobleme: "Das hat zu einem dramatischen Seriositätsverlust in der Erarbeitung, Bewertung und Darstellung von Forschungsergebnissen geführt." Es sei daher notwendig, Anreize für gründliche, ehrliche wissenschaftliche Forschung zu setzen und so die Selbstheilungskräfte im bedrohten Wissenschaftsbetrieb zu stärken.

Die anwesenden Vertreter großer Hochschulen und Universitätsklinika beschrieben weitgehend übereinstimmend Defizite und Gefährdungen der wissenschaftlichen Forschung, zumal in der Medizin. Prof. Annette Grüters-Kieslich, Leitende Ärztliche Direktorin der Universität Heidelberg (zuvor Charité Berlin) redete Klartext: "Forschung ist immer mehr interessenorientiert und damit strenggenommen unwissenschaftlich und führt bereits jetzt zu einem deutlichen Vertrauensverlust." Dies zeige sich in teilweise sinkenden Finanzmitteln, in Demotivation des Nachwuchses, in geringerer Bereitschaft von Patienten zu Studien und Organspenden und im Trend zu "alternativer Medizin". Welche Faktoren tragen dazu bei? Mainstream-Themen würden bevorzugt und eine unübersichtliche Großforschung werde durch wissenschaftspolitische Vorgaben wie die Exzellenzinitiative bevorzugt, sodass individuelle Verantwortlichkeit schwer erkennbar sei, monierte Prof. Christoph Markschies, früherer Präsident der Humboldt-Universität Berlin. Die Qualitätsprobleme der Forschung würden durch die beginnende Big-Data-Forschung noch verstärkt, war sich Prof. Heyo Kroemer, der Göttinger Dekan und Vorsitzende des Medizinischen Fakultätentages sicher: "Die Universitätsmedizin in Deutschland könnte bald den Punkt des Nichtmehrfunktionierens erreichen, wenn nicht entschieden gegengesteuert wird, so wie beim ersten Schritt, der Verbesserung der Notfallversorgung."

Mit Blick auf einen aktuellen, besonders ernsten Fall von Studiendatenfälschung mit Gefährdung von Probanden in Großbritannien und Südafrika mahnte der Charité-Neurologe Prof. Ulrich Dirnagl: "Es genügt keineswegs, bei uns nur das Anreiz- und Belohnungssystem in der medizinischen Forschung zu verändern." Wenn dieses System etwa politisch gewollte Großforschung zulasten kleinerer Projekte privilegiere, bestehe die Gefahr einer Einschränkung der in Art. 5 Abs. 3 S.1 garantierten Forschungsfreiheit, so etwa Prof. Andreas Spickhoff (Bürgerliches und Medizinrecht, LMU München). Prof. Axel Haverich, Leitender Chirurg der MHH (früher Kiel), unterstrich, viele Studienergebnisse seien bei Nachprüfung nicht reproduzierbar. Möglicherweise sei ein Grund dafür der zu geringe Freiraum vieler Forscher: "Kann es sein, dass sich habilitierende Ärzte krankmelden müssen, um zeitweilig aus dem Hamsterrad der Krankenversorgung auszusteigen?" Hier seien unter anderem die Krankenkassen dringend gefragt, ergänzte Prof. Martin Lohse, Wiss. Direktor des Max-Delbrück-Zentrums für Molekulare Medizin in Berlin.

Über die medizinische Seite hinaus sei generell in der heutigen Forschung hochproblematisch, wie stark die Publikationsflut, das Zitier(un)wesen und die damit verbundene Ranking-Sucht gediehen seien, kritisierte der renommierte Sozialwissenschaftler Prof. Stefan Hornbostel (Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung, Hannover). Die Bibliometrie, die Szientometrie, ja "Webometrie" erlaube heute eine permanente, aktuelle Zählung aller Publikationen und ihre Zuordnung zu Autoren, Koautoren, Zeitschriften, Hochschulen, Fachgebieten etc. Daraus abgeleitete Impactfaktoren und Rankingsysteme seien so beliebt, dass Versuche zur Begrenzung aussichtslos seien. Die Bibliometrie sei insofern einerseits eine wichtige Messmethodik, fördere aber andererseits den Missbrauch durch gezielte Publikationsstrategien, die auf bloße Quantität statt Qualität setzten. "Wenn Zitierungen tatsächlich eine Form "sozialer Währung" (Rob. K. Merton) für Wissenschaftler sind, besteht ein massives Risiko von Fehlbeurteilungen."

Bei der sich abzeichnenden Big-Data-Forschung stünden große Risiken neben großen Chancen, erläuterte die Medizinethikerin Prof. Alena Buyx von der CAU Kiel in ihrem Referat. Sie ist Mitglied im Deutschen Ethikrat, der vor Kurzem eine teils kritische, teils eher als affirmativ verstandene Stellungnahme zu den ethischen Implikationen von "Big Data" herausgebracht hat. "Big Data" beziehe sich auf große, komplexe Datenmengen, wie sie in großen Institutionen wie Krankenversicherungen oder Uniklinika (wie dem zweitgrößten, dem UKSH) vorhanden seien. Die schnelle digitale Verknüpfung von z. B. Patienten, Diagnosen, Therapien und Ergebnissen könne auffällige Muster und Korrelationen zeigen, ja dadurch erst Fragestellungen ermöglichen. So könnten evtl. biologische Regulationsmechanismen erkannt, auch seltene Krankheiten verstanden und Krankheitsverläufe und -risiken eingeschätzt werden. Dies hat, so Buyx, eine Art Goldgräberstimmung in der Medizin herbeigeführt. In der Tat seien auch große Risiken zu nennen: Verwechslung von Korrelation und Kausalität, Verletzung der informationellen Selbstbestimmung, Diskriminierung von Angehörigen der Risikogruppen und Datenmanipulation erhöhen die Missbrauchsgefahr. Auf eine Diskussionsfrage räumte Buyx ein, ein Nutzen von Big-Data-Forschung sei bisher allenfalls in der pharmakologischen Forschung bei dem einen oder anderen Medikament anzunehmen.

Mehrere jüngere, aber schon aufgestiegene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (Forschungsgruppenleiter) hatten Gelegenheit, Verbesserungsvorschläge aus der Praxis vorzutragen, etwa mehr Flexibilität in der Organisation und weniger Bürokratie. Prof. Michal-Ruth Schweiger (Univ. Köln, Molekularmedizin) sagte, gut wären Zusagen der Hochschulen zur Übernahme der Mitarbeiter nach erfolgreicher Evaluation. Bei uns habe der akademische Mittelbau durch Befristung der meisten Stellen keine guten Berufsaussichten und leide oft unter Existenzängsten. Der berufliche Druck könne ein Grund sein, warum mehr erwünschte "gesellschaftsrelevante" statt zweckfreier Forschung und mehr Fälschungen auffielen. Prof. Benedikt Kaufer (FU Berlin, Virologie) gab zu bedenken, die hohe Zahl von Doktoranden (50-100) im Verhältnis zu einer einzigen späteren Festanstellung zu verringern. Und: "Wenn wir die Tür zu unserem Elfenbeinturm mehr öffnen sollen, müssen wir doch erst mal drin aufräumen!" Dr. Volker Busskamp (Regenerationsmedizin, TU Dresden) möchte wohl auch nach amerikanischen Erfahrungen sein Labor wie einen Spielplatz sehen, der kreative, ungewöhnliche Einfälle möglich mache: "Play is the highest form of research" (Einstein).

Am Ende konnte so die zentrale Frage des Seminars, wie Forschung in den Lebenswissenschaften wieder besser (kühner, origineller, nachhaltiger, seriöser) und zugleich verantwortungsvoller werden könne, natürlich nicht einfach und abschließend, sondern nur in Ansätzen beantwortet werden.


INFO
Die Evangelische Akademie Loccum ist eine Einrichtung der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover. Unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und der Mitschuld der Evangelischen Kirche an der Katastrophe wurde sie 1946 ins Leben gerufen.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Dr. Alena Buyx, seit 2014 Professorin für Medizinethik an der Medizinischen Fakultät der Christian Albrechts-Universität Kiel, verwies auf die Risiken, die mit der "Big-Data-Forschung" einhergehen, u.a. Datenmanipulation und Diskriminierung von Angehörigen von Risikogruppen.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 3/2018 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2018/201803/h18034a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
70. Jahrgang, März 2018, Seite 24 - 25
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung
Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. April 2018

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