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AUSLAND/2540: Italien - Nord-Süd-Gefälle auch in der Gesundheitsversorgung (KBV klartext)


KBV - klartext
Das Magagzin der kassenärztlichen Bundesvereinigung, 2. Ausgabe 2019

Gesundheit anderswo
Italien: Nord-Süd-Gefälle auch in der Versorgung

von Birte Christophers


Die Statistiken zeigen es: Italien liegt im Bereich der Lebenserwartung weltweit auf den vorderen Plätzen. Das Gesundheitssystem der Südeuropäer scheint zu funktionieren. Aber es gibt auch ein Problem - durch die Dezentralisierung der Versorgung entstehen große regionale Unterschiede.


Rund 60 Millionen Einwohner fasst das sich auf 302.073 Quadratkilometern erstreckende Land und gehört damit zu den einwohnerreichsten Staaten Europas. Die hohe Lebenserwartung im Land spiegelt sich auch in der Bevölkerungsstruktur wider: Rund 21 Prozent der Bevölkerung sind 65 Jahre oder älter. Auch hier liegt Italien in den Statistiken auf den vorderen Plätzen - weltweit. Männer haben demnach eine Lebenserwartung von 81 Jahren, Frauen werden im Schnitt 85 Jahre alt. Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) beurteilen rund 70 Prozent der Italiener ihren Gesundheitszustand positiv. Dabei geben Männer häufiger als Frauen an, bei guter Gesundheit zu sein. Bei der Lebenszufriedenheit, bei der die Bevölkerung eine subjektive Einschätzung zu Merkmalen wie dem Bildungsniveau und den Gesundheitsbedingungen abgibt, liegt Italien hingegen unter dem OECD-Durchschnitt.

Dies mag auch an der vergleichsweise hohen Arbeitslosigkeit liegen. Rund elf Prozent der Italiener sind ohne Beschäftigung. Bei der arbeitenden Bevölkerung hingegen gibt es starke Unterschiede zwischen Gering- und Großverdienern. Im Jahr 2017 betrug das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Italien 1717 Milliarden Euro. Die Gesundheitsausgaben des Landes liegen bei rund neun Prozent des BIP.


Reicher Norden - armer Süden

In Italien herrscht seit Jahrzehnten eine starke Ungleichheit zwischen den Regionen: Der wirtschaftlich und sozial starke Norden mit dem industriellen Dreieck der Großstädte Mailand, Genua und Turin steht dem eher durch Landwirtschaft geprägten Süden gegenüber, der auf vielen Ebenen dem Norden hinterherhinkt.

Neben der Industrie verfügen die nördlichen Regionen des Landes zusätzlich über einen starken Dienstleistungssektor. Der Süden hingegen ist in vielen Bereichen unterentwickelt und gehört zu den strukturschwächsten Regionen Westeuropas. Eine hohe Arbeitslosenquote und der Einfluss der organisierten Kriminalität, die Kontrolle über die regionale Wirtschaft ausübt, sorgen für schlechte soziale Bedingungen. Das Problem des südlichen Italiens greift in alle gesellschaftlichen Bereiche über - auch die Gesundheitsversorgung der Italiener ist von der Zweiteilung des Landes betroffen.

Um die großen Unterschiede zu verringern und die gesundheitliche Versorgung in Nord- und Süditalien anzugleichen, verabschiedete die italienische Regierung Ende der 1970er Jahre eine Reform des Gesundheitssystems, aus der der SSN - "Servizio Santario Nazionale" hervorging. Dieser staatliche Gesundheitsdienst hatte ein einheitliches Versorgungsniveau zum Ziel. Vor 1978 existierte in Italien ein Versicherungssystem mit rund 100 verschiedenen Krankenkassen, deren Leistungsumfänge für die Versicherten jedoch große Ungleichheiten aufzeigten.


National - regional - lokal

Die Gesundheitsreform 1978 sollte Besserung bringen und für ein einheitliches Gesundheitssystem in Italien sorgen. Über den SSN sind alle Einwohner des Landes versichert, die Grundversorgung steht jedem Bürger kostenfrei zur Verfügung. Nachfolgende Reformen sorgten für eine Dezentralisierung der Versorgung, welche den einzelnen Regionen übertragen wurde. Diese sind seitdem in ihrem jeweiligen Einzugsgebiet für die ambulante und stationäre Versorgung zuständig. Seit Anfang der 2000er-Jahre genießen die Regionen weitestgehend Autonomie im Bereich der Gesundheit.

Da die Organisation der ambulanten und stationären Versorgung in den Regionen liegt, hat das Gesundheitsministerium in Rom eher koordinierende Aufgaben und oberste Aufsicht über das System. In der Vergangenheit war das Ministerium selbst immer wieder Reformen und Veränderungen unterworfen. Das Ministerium organisiert die Gesundheitsprävention - die in Italien jedoch einen eher geringen Stellenwert einnimmt. Die Genesung kranker Patienten steht in der Gesundheitsversorgung im Vordergrund. Ein weiteres Aufgabenfeld des Ministeriums ist die Kontrolle des Arzneimittelmarktes.

Der nationale Gesundheitsplan legt die Verteilung der Steuermittel fest und orientiert sich an den regional vorhandenen Strukturen und der Einwohnerzahlen. Über einen Fonds versucht das Ministerium die Unterschiede auszugleichen. Jede Region erstellt eigene Gesundheitspläne, in denen die Finanzierung der Gesundheitsversorgung niedergelegt wird und die Verteilung der Gelder an die lokalen Gesundheitsbehörden und die dem SSN angeschlossenen Krankenhäuser bestimmt wird. Es gibt einen national festgelegten Leistungskatalog. Jede Region regelt für sich, ob weitere medizinische Leistungen übernommen werden. Dadurch entstehen von Region zu Region Unterschiede in der medizinischen Versorgung. Die Bevölkerung im Norden des Landes verfügt daher oftmals über einen anderen, besseren Versicherungsschutz als die Menschen im Süden.

Die lokalen Gesundheitsbehörden sorgen für die Gesundheitsversorgung vor Ort. Landesweit gibt es etwa 200 dieser Behörden, in denen jeweils zwischen 50.000 und 200.000 Einwohner registriert sind. Jeder Bürger schreibt sich bei einer Gesundheitsbehörde in seiner Heimatregion ein. In dieser wählt jeder Bürger einen Hausarzt - einen Allgemeinmediziner oder Kinderarzt. Diese sind meist bei den lokalen Gesundheitsbehörden angestellt oder freiberuflich tätig - dann aber durch eine vertragliche Vereinbarung mit den öffentlichen Behörden verbunden.

Die sogenannten Primärärzte können jeweils nur eine begrenzte Anzahl an Patienten aufnehmen: Hausärzte 1500 Patienten, Kinderärzte 800. Ein Wechsel des Hausarztes ist vergleichsweise schwierig und muss bei der lokalen Behörde begründet werden. Die Vergütung der Ärzte erfolgt per Kopfpauschale und steigt mit dem Dienstalter an. Auch orientiert sich die Vergütung an den Lebensverhältnissen in der entsprechenden Region. Daraus resultieren unterschiedliche, nicht klar festgelegte Arztgehälter. Behandelt ein Hausarzt Patienten, die nicht zu seinem registrierten Patientenkreis zählen, muss er diese privat behandeln und abrechnen. Innerhalb des Zuständigkeitsbereiches der Gesundheitsbehörde herrscht freie Facharztwahl. Für den Besuch beim Spezialisten benötigen die Patienten meist eine Überweisung, nur bei einigen wenigen Fachärzten ist diese nicht notwendig. Dazu zählen beispielsweise der Frauenarzt und der Augenarzt.


Kostenfreie Grundversorgung für alle

Jedem Bürger steht die gesundheitliche Grundversorgung kostenfrei zur Verfügung. Jedoch muss der Italiener beim Arztbesuch mit Zusatzkosten rechnen. Bis zu 36 Euro an Gebühren können bei besonderen Untersuchungen oder der Hinzuziehung eines Facharztes anfallen. Bei speziellen Leistungen ist eine Zuzahlung erforderlich, von der bestimmte Personengruppen ausgenommen sind.

Zur kostenlosen Grundversorgung gehören auch Untersuchungen beim Zahnarzt. Anfallende Kosten wie ein Zahnersatz werden jedoch nicht abgedeckt und sind vom Patienten selbst zu zahlen. Etwa 30 Prozent der Italiener sind privat versichert - oft als Zusatzversicherung. Sie können dann nicht nur mehr Leistungen in Anspruch nehmen, sondern auch in nicht staatliche Praxen gehen. Zudem sind die Wartezeiten deutlich kürzer.

Die Finanzierung der Gesundheitsversorgung erfolgt über öffentliche Einnahmen. Nationale und regionale Steuern mit Produktionssteuern und Einkommenssteuern finanzieren den Hauptanteil, Zuzahlungen machen einen weiteren kleinen Teil der Finanzierung aus. Im Unterschied zu anderen Ländern muss der Arbeitnehmer keinen Versicherungsbeitrag leisten, diesen trägt allein der Arbeitgeber. Der Krankenhausaufenthalt ist - bei Unterbringung im Mehrbettzimmer - zuzahlungsfrei. Die jeweiligen Regionen sind für die Krankenhäuser zuständig. Insgesamt gibt es in Italien vergleichsweise viele Ärzte - pro 1000 Einwohner kommt das Land auf vier Ärzte. Mit sechs Pflegekräften pro 1000 Einwohner hat Italien im internationalen Vergleich hingegen wenig Personal im Pflegebereich. Auch die Anzahl der Krankenhausbetten liegt mit 3,2 pro 1000 Einwohner unter dem OECD-Durchschnitt.


Oftmals lange Wartezeiten

Ein großes Problem in Italien ist die Wartezeit - auch weil oftmals keine Termine vergeben werden. Eine Terminvergabe findet bei Hausärzten in der Regel gar nicht statt. Wer krank ist, geht zum Arzt und zieht eine Nummer. Bei Fachärzten ist mit einer Wartezeit von mehreren Wochen oder gar Monaten zu rechnen.

Die Kostenübernahme beziehungsweise -beteiligung an Arzneimitteln orientiert sich in Italien an der Schwere der Krankheit. Die Selbstbeteiligung des Patienten an den Kosten kann dadurch von null bis 100 Prozent variieren. Das italienische Gesundheitssystem teilt die Kostenübernahme von Arzneimitteln in drei Kategorien ein. Bei schweren Krankheiten werden die Kosten für verschreibungspflichtige Medikamente, die auf der sogenannten nationalen Positivliste stehen, komplett erstattet. Bei mittelschweren Krankheiten werden die verschreibungspflichtigen Arzneien zur Hälfte erstattet. Bestimmte Personengruppen erhalten die Medikamente kostenfrei, so sind Kinder sowie ältere Menschen, deren Familieneinkommen gering ist, von den Kosten befreit - ebenso wie Kriegsversehrte und Arbeitslose. Eine feste Rezeptgebühr ist in jedem Fall zu zahlen. Rezeptfreie Medikamente zahlen die Patienten vollständig aus eigener Tasche.

Auch wenn die Grundversorgung für jeden Bürger kostenfrei ist, können Kosten durch Gebühren und nicht erstattete Leistungen anfallen. Leistungen und Qualität der Versorgung können zudem regional sehr unterschiedlich sein - die nicht einheitlichen Strukturen lassen das italienische Gesundheitssystem kränkeln.


Italien in Zahlen

(im Vergleich zu Deutschland)

Bevölkerung:
60,5 Mio.
82,7 Mio.

Einwohner ab 65 Jahre:
21,0 %
21,0 %

Praktizierende Ärzte je 1000 Einwohner:
4,0
4,2

Lebenserwartung Frauen:
85,6 Jahre
83,2 Jahre

Lebenserwartung Männer:
81,0 Jahre
78,3 Jahre

Anteil Gesundheitsausgaben
am Bruttoinlandsprodukt:
8,9 %
11,2 %

Quellen: OECD, Statistisches Bundesamt, Statista, Weltbank

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Quelle:
kbv - klartext, 2. Ausgabe 2019, Seite 24 - 26
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. August 2019

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