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AUSLAND/2416: Irak - Ärzte ohne Grenzen hilft traumatisierten Menschen aus Mossul (ÄoG)


Ärzte ohne Grenzen - 11. Januar 2017

Irak: Ärzte ohne Grenzen hilft traumatisierten Menschen aus Mossul


Die neuste Militäroffensive zur Rückeroberung Mossuls hat Menschen, die bereits viele stark traumatisierende Erlebnisse hatten, nun zur Flucht aus der Stadt und den umliegenden Dörfern gezwungen. "Sie erlebten zwei Jahre lang die Besatzung ihrer Stadt oder ihrer Dörfer durch den so genannten Islamischen Staat (IS), sowie Luftangriffe und Kämpfe zwischen irakischen Truppen und dem IS. Sie mussten um ihr Leben fliehen und landeten in einem Vertriebenenlager", beschreibt Bilal Budair, verantwortlich für die psychologische Hilfe von Ärzte ohne Grenzen in Erbil. "Diese Menschen mussten sehr schnell von Zuhause fort, ohne etwas mitnehmen zu können. Und jetzt finden sie sich eingepfercht in einem Lager wieder."

Etwa 30.000 Menschen leben in den Lagern in Hassanscham und Chaser, 35 Kilometer östlich von Mossul. Unsere psychologischen Teams behandeln etwa 45 Patienten pro Tag. Die Teams, bestehend aus einem Psychiater, einem Psychologen und einem Sozialarbeiter, haben schon 2013 mit syrischen Flüchtlingen im Nordirak gearbeitet. 2014 begannen sie, Menschen zu helfen, die aus Mossul fliehen mussten, als der IS die Region einnahm. Im vergangenen Jahr, als die Zahl der Vertriebenen im Bundesstaat Ninewa stark stieg und nachdem Mitte Oktober die Kämpfe um Mossul begannen, kamen viele Patienten mit immer schwerwiegenderen psychischen Problemen.

Unglaubliche Gewalt, die viele Menschen stark traumatisiert hat

Seit November geht es den Menschen, die uns aufsuchen, zunehmend schlechter. Viele erzählen uns, wie sie öffentliche Exekutionen auf dem Marktplatz mit ansehen mussten, und wie die Leichen von Ermordeten tagelang an Brücken am Fluss aufgehängt waren. Sie berichten von Steinigungen, Enthauptungen, Folter und körperliche Züchtigungen - unglaubliche Gewalt, die viele Menschen stark traumatisiert hat.

Die Berichte der Patienten schockieren unsere Psychiater, viele Geschichten sind am Rande des Vorstellbaren. Wie jene des Vaters, der sein eigenes Kind töten musste, weil er ein Schimpfwort benutzt hatte. Doch oft berichten verschiedene Menschen vom denselben Szenen. Die Psychiater haben auch Patienten, die vorher nie daran gedacht hätten, sich in Behandlung zu begeben, und die sich jetzt Hilfe holen.

In den vergangenen Monaten wurden viele der Vertriebenen Zeugen davon, wie in ihren Dörfern und Vierteln gekämpft wurde. Sie mussten mit ansehen, wie Freunde oder Verwandte starben. Eine Frau kam mit ihrem 10-jährigen Sohn zu uns. Sie mussten die Leiche eines kleinen Mädchens sehen, das bei einem Mörsergrananten-Angriff getötet worden war. Der Sohn war mit ihr befreundet gewesen. Viele Vertriebene sind aus Mossul und den umliegenden Dörfern geflohen, um Schutz in den Lagern zu suchen. Aber sie sind weiterhin verängstigt und leben in Sorge, wieder der Gewalt des Islamischen Staats ausgesetzt zu werden.

"Wir behandeln alle Fälle, egal ob moderate oder schwere."

Unser psychologisches Team in den Lagern von Hassanscham und Chaser kümmert sich um Patienten, die unter starken Depressionen, Angstzuständen, akuten Stressreaktionen oder posttraumatischer Belastungsstörung leiden. Dazu kommen Patienten, die schon vorher an chronischen Krankheiten wie Epilepsie und Psychosen litten und deren Behandlung wieder aufgegriffen werden muss. Außerdem bekommt unser Team von anderen Hilfsorganisationen Patienten überwiesen, die in ihrem alltäglichen Leben beeinträchtigt sind, aufgrund von Schlafstörungen oder noch ernsteren Störungen.

"Wir behandeln alle Fälle, egal ob moderate oder schwere", sagt Bilal Budair. "Ärzte ohne Grenzen ist die einzige Hilfsorganisation, die schwere Fälle behandelt und gleichzeitig auch psychiatrische Hilfe bietet. Wir sind da, um die Menschen zu unterstützen und um diejenigen zu finden, die unsere Hilfe am meisten benötigen. Wir helfen ihnen und jedem, der ihnen nahe steht, wenn sie Schwierigkeiten haben, mit Situationen umzugehen." Einem Mann in den Fünfzigern zum Beispiel, der im Lager Khazer 1 lebt, wurden all seine Geschäfte in Mossul zerstört. Er sagte: "Ich konnte mich einfach nicht dazu bringen, in das Zelt zu gehen. Ich weinte. Ich wollte, sie kämen und töteten mich und meine ganze Familie. Hier ist es wie im Gefängnis. Ich habe 20 Jahre dafür gebraucht, mir mein Zuhause aufzubauen. Jetzt ist alles weg. Ich habe nichts mehr. Nicht einen einzigen Dinar."

Nach mehreren Wochen beginnen die meisten Vertriebenen, sich an das Leben in den Lagern zu gewöhnen. Andere jedoch entwickeln lang anhaltende psychische Probleme. Sie denken, ihre Leben sei zu Ende, und sie wollen bloß sterben. Wir müssen schnell reagieren und ihnen mit Psychologen und Psychiatern zur Seite stehen.

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Quelle:
Ärzte ohne Grenzen e. V. / Medecins Sans Frontieres
Pressemitteilung vom 11. Januar 2017
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Januar 2017

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