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AUSLAND/2180: Indien - Kaschmir-Konflikt macht krank und unfruchtbar (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 21. November 2014

Indien: Kaschmir-Konflikt macht krank - und unfruchtbar

von Shazia Yousuf


Bild: © Shazia Yousuf/IPS

Etwa drei Viertel aller Patienten psychiatrischer Einrichtungen in Kaschmir sind Frauen
Bild: © Shazia Yousuf/IPS

Srinagar, Indien, 21. November (IPS) - Es ging auf Mitternacht zu, als Mushtaq Margoob durch das anhaltende Läuten seines Telefons geweckt wurde. Der Leiter der Psychiatrieabteilung der einzigen psychiatrischen Klinik im indischen Kaschmirtal hob ab und hörte die verzweifelte Stimme einer ehemaligen Patientin. "Ich brauche Sie jetzt. Morgen ist es zu spät, dann könnte ich mich schon umgebracht haben", so die junge Frau, die der Arzt viele Jahre lang wegen Depressionen behandelt hatte.

Nach ihrer Heirat im vergangenen Jahr hatte es zunächst danach ausgesehen, als hätte die studierte Biologin ihr seelisches Gleichgewicht wiedergefunden. Doch an dem Tag, an dem sie Margoob anrief, war ihr mitgeteilt worden, dass sie wegen einer Primären Ovarialinsuffizienz, einer Störung der Eierstockfunktion, keine Kinder bekommen könne. "Welchen Sinn hat dann noch mein Leben?", weinte sie.

Margoob gelang es zwar, den Selbstmord der jungen Frau zu verhindern, doch leidet sie inzwischen wieder unter schweren Depressionen. Der renommierte Psychiater führt den seelischen Stress und die zunehmende Unfruchtbarkeit von Frauen im Kaschmirtal auf den bewaffneten Konflikt über die Kontrolle des Gebietes seit der Aufteilung Britisch-Indiens in die unabhängigen Staaten Indien und Pakistan im Jahre 1947 zurück.

Die schweren bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der indischen Armee, dem pakistanischen Militär und normalen Bürgern um die Kontrolle über den indischen Teil des Kaschmirtals haben etwa 60.000 Menschen das Leben gekostet. Aus dem Volksaufstand von 1989 gegen die Präsenz indischer und pakistanischer Truppen ging eine Widerstandsbewegung hervor, die in der Gesellschaft Kaschmirs tiefe Narben verursacht hat.

Seither ist im Kaschmirtal, das zwischen den Gebirgszügen des nordindischen Staates Jammu und Kaschmir liegt, ein alarmierender Anstieg der Kinderlosigkeit und Unfruchtbarkeit bei jungen Frauen in der Region zu beobachten. Ärzte und Psychologen machen dafür eine durch den Konflikt hervorgerufene Stressbelastung verantwortlich.


Viele Frauen leiden an Unterfunktion der Eierstöcke

Wie aus einer jüngsten Nationalen Untersuchung zur Familiengesundheit in Indien (NFHS) hervorgeht, berichteten 61 Prozent der seit kurzem verheirateten Frauen in Kaschmir von mindestens einem Problem bei der reproduktiven Gesundheit. Der landesweite Durchschnittswert liegt dagegen bei 39 Prozent. Der Anteil der Fälle von Primärer Ovarialinsuffizienz bei Frauen unter 40 Jahren liegt mit 20 bis 50 Prozent ebenfalls erheblich über dem nationalen Durchschnitt von einem bis fünf Prozent.

"Stress verändert die Hirnstruktur und beeinträchtigt die Sekretion verschiedener Neurotransmitter. Körperliche Beschwerden wie etwa eine Fehlfunktion der Schilddrüse können die Folge sein und bei Frauen im gebärfähigen Alter Schwangerschaften verhindern", erklärt Margoob.

Nach Angaben des staatlichen psychiatrischen Hospitals in Kaschmir leiden in der Region etwa 800.000 Menschen, mehrheitlich Frauen, an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) oder an anderen psychischen Beschwerden, die sich negativ auf die Fruchtbarkeit auswirken.

In Kaschmir betreiben zwei Krankenhäuser - das Shri-Maharaja-Hari-Singh-Hospital (S.M.H.S) in Srinagar und die Staatliche Klinik für psychiatrische Störungen - ausgelagerte Ambulanzen. Von den rund 100 Patienten, die täglich in diesen Einrichtungen vorsprechen, sind drei Viertel Frauen.

Eine von ihnen, die sich regelmäßig in einer solchen Ambulanz einfindet, ist die 20-jährige Mir Afreen, deren Mutter unter einer psychischen Störung leidet, seit man ihr 1996 die Nachricht überbrachte, dass ihr Cousin im Kreuzfeuer getötet worden war. Damals war Afreen zwei Jahre alt gewesen.


Töchter depressiver Mütter stark gefährdet

"Ich hatte ihn erst zwei Tage zuvor gesehen. Ich konnte nicht glauben, dass er tot war", berichtet die Mutter. Daraufhin habe sie eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickelt. Auch über der Kindheit ihrer Tochter lag fortan ein dunkler Schatten. Afreen sah ihre Mutter häufig unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln, sie blieb manchmal tagelang im Bett, aß nichts oder brach ohne erkennbaren Anlass in Tränen aus. Die Tochter begleitete sie stets in die psychiatrische Klinik und zu Wunderheilern. Das Glück schien um ihr Zuhause einen großen Bogen zu machen.

Die gesundheitlichen Folgen für die Tochter ließen nicht lange auf sich warten. Seit Jahren leidet Afreen unter Brustschmerzen und Atemnot. Zunächst nahm die Mutter an, dass das Übergewicht der Tochter schuld daran ist. Als der jungen Frau dann aber Haare im Gesicht wuchsen und die Monatszyklen immer unregelmäßiger wurden, suchten Mutter und Tochter einen Gynäkologen auf. Der erklärte, dass Afreen ohne Behandlung niemals Kinder bekommen könnte.

Bei der jungen Frau war das Polyzystische Ovarialsyndrom (PCOS) festgestellt worden, von dem derzeit etwa zehn Prozent der Frauen in Kaschmir betroffen sind. Vor Ausbruch des Konflikts waren diese Beschwerden nahezu inexistent. Bei der PCOS verursacht die Bildung von Zysten eine Vergrößerung des Eierstocks, was zu Unfruchtbarkeit führen kann.


Über psychisches Leid wird in Familien kaum gesprochen

Mediziner haben Stress als einen Hauptauslöser für PCOS in Kaschmir ausgemacht. Laut einer Studie des 'Sher-i-Kashmir-Instituts für medizinische Wissenschaften' (SKIMS) waren bei 65 bis 70 Prozent von 112 Frauen, die wegen PCOS behandelt wurden, zudem psychische Erkrankungen wie das Posttraumatische Belastungssyndrom, Depressionen oder Zwangsstörungen festgestellt worden. Über solche Krankheiten wird indes meist Stillschweigen gewahrt, auch innerhalb der Familien.

Bild: © Shazia Yousuf/IPS

Junge Frauen werden aufgrund von Stress unfruchtbar
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Afreens Mutter befürchtet, dass ihre Tochter keinen Mann finden wird, wenn ihre Erkrankung offenkundig wird. "Selbst wenn ich nur mit ihr zum Arzt gehe, achte ich darauf, dass uns niemand sieht", berichtet sie. Afreen verhält sich ähnlich und erzählt auch ihren Freundinnen nichts. Wenn sie ihre Medikamente nehmen muss, tut sie das heimlich und schluckt sie ohne Wasser.

Andere depressive Frauen in Kaschmir, die sich in Behandlung begeben, leiden an einer Unterfunktion der Schilddrüse oder an Galaktorrhoe, einer spontanen Milchproduktion aufgrund eines abnormen Anstiegs des Prolaktinspiegels, der oft durch die Einnahme von Antidepressiva ausgelöst wird. Alle diese Beschwerden können nach Meinung von Medizinern zu Unfruchtbarkeit führen.

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Immer mehr Frauen in Kaschmir wollen sich durch eigene Berufstätigkeit wirtschaftlich absichern
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Ein weiterer Grund dafür, dass Frauen in Kaschmir wenige Kinder gebären, sind späte Eheschließungen. Im Laufe des Konflikts ist das durchschnittliche Heiratsalter von zuvor 18 bis 21 Jahren auf 27 bis 35 Jahre gestiegen. Da die Wirtschaftslage unsicher ist und konfliktbedingt die Gefahr besteht, dass Männer als Broternährer ausfallen, ziehen viele Frauen mittlerweile Bildung und Berufstätigkeit einem Dasein als Hausfrau vor. (Ende/IPS/ck/2014)

* Namen der Patientinnen geändert.


Link:

http://www.ipsnews.net/2014/11/depression-casts-cloak-of-infertility-over-kashmir-valley/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 21. November 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. November 2014