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AUSLAND/1874: Ägypten - Anschläge auf Krankenhäuser und Personal, Patienten verlieren Geduld (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 10. September 2012

Ägypten: Anschläge auf Krankenhäuser und Personal - Patienten verlieren Geduld

von Cam McGrath


Notaufnahmen haben nach wiederholten Angriffen geschlossen - Bild: © Cam McGrath/IPS

Notaufnahmen haben nach wiederholten Angriffen geschlossen
Bild: © Cam McGrath/IPS

Kairo, 10. September (IPS) - Die Notaufnahme des Internationalen Mansoura-Krankenhauses in Kairo ist geschlossen - ein Vorhängeschloss und eine Absperrkette sichern den Eingang. Ankommende Krankenwagen sind aufgefordert, die Notfallpatienten in andere Kliniken zu transportieren.

Wenige Stunden zuvor hatten Dutzende Menschen das mittelgroße Hospital im Norden Ägyptens gestürmt, das militärische Wachpersonal überwältigt, Luftschüsse abgegeben und das Krankenhauspersonal bedroht, um die Notoperation eines Familienmitglieds durchzusetzen. Fünf Sicherheitskräfte wurden bei der Attacke verletzt, ein Krankenhausmitarbeiter liegt im Koma.

Die Attacke ist kein Einzelfall. Übergriffe auf das medizinische Personal haben seit dem Aufstand 2011, der zum Sturz des Langzeit-Präsidenten Husni Mubarak führte, erheblich zugenommen. Gefährdet sind vor allem die Mitarbeiter in den Notaufnahmen.

Ahmad Bakr führt seit seiner Ernennung zum Generalsekretär der Gewerkschaft der Gesundheitsarbeiter in Kairo im vergangenen Oktober genauestens Buch über die gewalttätigen Vorfälle. Er hat bereits Hunderte von Übergriffen auf Kairoer Krankenhäuser aufgezeichnet. Hinzu kommen Tausende von Angriffen auf Kliniken außerhalb der Hauptstadt.

"Ich kenne viele Ärzte und Pflegekräfte, die bei solchen Attacken verletzt wurden", sagt Bakr gegenüber IPS. "In einigen Fällen hat die Gewalt sogar manchem Patienten und dessen Angehörigen das Leben gekostet."


Randalierende Besucher, misshandelte Ärzte

Randalierer sind zu einer veritablen Gefahr für die Kliniken geworden. Ärzte geraten regelmäßig und unverschuldet in gewaltsame Händel und Kämpfe, ohne auf Hilfe von Sicherheitskräften hoffen zu können.

"Wir beobachten Streitereien, die auf der Straße beginnen und dann im Krankenaus fortgesetzt werden", berichtet Bakr. "Die meisten Polizisten und Soldaten, die zum Schutz der Kliniken abgestellt werden, sind unbewaffnet und hüten sich zu intervenieren."

Bei einem jüngsten Zwischenfall drangen mit Schwertern und Schrotflinten bewaffnete Schläger in die Notaufnahme eines Krankenhauses in der nordägyptischen Stadt Matariya ein und töteten einen gerade erst eingelieferten Patienten.

Bakr zufolge geht jedoch der Großteil der Gewalt von normalen Patienten und ihren Angehörigen aus. Auslöser sei die schlechte personelle und materielle Ausstattung der Kliniken. Korruption und Vernachlässigung haben dem Gesundheitssektor übel mitgespielt und das Gesundheitspersonal gezwungen, in erbärmlich ausgestatteten Einrichtungen ihren Dienst zu versehen.

"Unser Gesundheitssystem befindet sich bereits seit über 30 Jahren im Niedergang", meint Bakr und kritisiert, dass der ägyptische Staat nur vier Prozent seines Haushaltsetats für Gesundheit ausgibt. In vielen anderen Ländern seien es 15 Prozent.

Tatsächlich haben Ägypter allen Grund sich zu beschweren. Das Land sieht sich mit einem akuten Mangel an funktionstüchtigen Intensivstationen konfrontiert. Ambulanzen sind oftmals über Stunden unterwegs, um eine geöffnete Notaufnahme zu finden.


Zorn über desolates Gesundheitswesen

Weiter haben Budgetkürzungen und Missmanagement den chronischen Mangel an Arzneien und anderen medizinischen Gütern verschärft. So kommt es häufig vor, dass Patienten ihre Verwandten losschicken, damit sie außerhalb der Kliniken die erforderlichen Arzneien auftreiben. Lebensrettende Herzmedikamente müssen aus Europa eingeschmuggelt werden.

"Der verheerende Zustand unserer Gesundheitsversorgung bietet den Rahmen für die vielen Konfrontationen", erläutert Bakr. "Die Revolution hat die Menschen verändert. Sie sind nicht mehr gewillt, stillzuhalten."

Und der unzureichende Schutz macht Ärzte und Krankenhauspersonal leicht zu Zielscheiben des aufgestauten Volkszorns. Beschimpfungen und Einschüchterungsversuche sind zur Routine geworden, die physische Gewalt - auch mit Waffen - nimmt zu.

"Bis zu zwei solcher Vorfälle im Jahr waren lange Zeit normal - heute sind es sechs die Woche", berichtet Mohamed Abdel Ghaffar, der auf die eskalierende Gewalt mit dem Rücktritt als Geschäftsführer des Ahmed-Maher-Lehrkrankenhauses reagiert hat. Die Lage könne schnell außer Kontrolle geraten, sagt er. Frustriert über vorhandene oder gefühlte Ungerechtigkeiten steigerten sich Freunde und Angehörige von Patienten rasch in eine blinde Wut.

Abdel Ghaffar zufolge machen sie die Regierung verantwortlich und greifen jeden an, den sie mit ihr in Verbindung bringen - einschließlich Ärzte, die versuchen, den Patienten zu helfen. Immer häufiger kommt es vor, dass das medizinische Personal zwischen ethischer Pflicht, den Patienten zu helfen, und der Notwendigkeit, sich selbst in Sicherheit zu bringen, hin und her gerissen ist.

"Immer wenn es zu Angriffen kommt, schließen die Krankenhäuser die Notaufnahme, bis sich die Lage beruhigt", erläutert Bakr. "El-Demerdash und Qasr El-Ainy, zwei der größten Kliniken Kairos, mussten ihre Unfallstationen in den vergangenen Monaten Dutzende Male zumachen. Dadurch verschärft sich das Versorgungsproblem."

"Es ist bedauerlich, doch kann man von Ärzten kaum verlangen, unter solch gefährlichen Voraussetzungen zu arbeiten", meint George Nashed, Chirurg an der Kairoer Universitätsklinik. Die Sicherheitsvorkehrungen hätten sich als unzureichend erwiesen. Viele der Polizisten, die zum Schutz der Kliniken abgestellt wurden, sind unbewaffnet und im entscheidenden Augenblick nicht mehr zu sehen.


100 Kliniken militärisch abgesichert

Ägyptens neu gewählter Präsident hat nun das Militär losgeschickt, um die 100 wichtigsten Krankenhäuser des Landes zu sichern. Das Innenministerium kündigte seinerseits an, eine Sonderpolizeieinheit mit dem Schutz der Hospitäler zu betrauen. Doch Nashed zufolge lässt sich das Problem nicht allein durch ein derartiges Polizei- oder Militäraufgebot lösen.

Viele Zwischenfälle ließen sich vermeiden, wenn den Krankenhäuser über die ausreichenden finanziellen Mittel und Ausstattung verfügen würden. Auch müssten Ärzte und Pflegekräfte im Umgang mit wütenden Patienten und deren Verwandten geschult werden. Bessere Kommunikationsformen könnten in einzelnen Fällen sicherlich den Zorn im Keim ersticken. (Ende/IPS/kb/2012)


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http://www.ipsnews.net/2012/09/egyptian-hospitals-under-attack-as-patients-lose-patience/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. September 2012