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VORSORGE/514: Chinesische Medizin auf dem Prüfstand (Securvital)


Securvital 3/2010 - Mai/Juni
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen

CHINESISCHE MEDIZIN AUF DEM PRÜFSTAND

Von Petra Thorbrietz


Was leistet die Chinesische Medizin und wie kann sie sinnvoll in das deutsche Gesundheitssystem integriert werden? Petra Thorbrietz, renommierte Fachjournalistin und Buchautorin, gibt einen Überblick.


Akupunktur und Kräutermedizin haben ein weitaus größeres Potential, als sich in Deutschland entfalten kann - denn Zulassungsbeschränkungen, Fragen der Qualitätskontrolle und Forschungsdefizite behindern diese traditionellen Heilverfahren. Wie kann man das ändern? Das fragten sich rund 25 Experten der Chinesischen Medizin (CM) im Herbst auf einer sogenannten Consensus-Konferenz, die von der Robert Bosch Stiftung finanziert wurde.

"Gemeinsame Strategien" sind nötig, so der Initiator Gustav Dobos, Professor für Naturheilkunde an der Universität Duisburg-Essen und derzeitiger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Naturheilkunde, "um bewährte Verfahren aus der Chinesischen Medizin möglichst schnell den Patienten zugänglich zu machen". Als allgemeine Kassenleistung vergütet wird in Deutschland nur die Akupunktur - und zwar bei chronischen Rücken-und Kniegelenksschmerzen. In zwei großen deutschen Studien ("German Acupuncture Trials" und "Acupuncture Randomized Trials"), die rund 70 Prozent der Kassenpatienten erfassten, war sie bei diesen lndikationen erfolgreicher als die Standardtherapie.

Sie wirkt aber auch ganz eindeutig bei anderen chronischen Erkrankungen, so die Teilnehmer der Consensus-Konferenz - bei Allergien oder Rheuma, vielen Schmerzsyndromen wie zum Beispiel Migräne oder auch psychosomatischen Leiden wie Reizdarm oder Unfruchtbarkeit. Sie hilft sogar im Akutfall, betonte der Arzt Helmut Rüdinger, Lehrbeauftragter für Akupunktur an der Universität Hamburg. Und an der Klinik für Anästhesiologie und lntensivmedizin der Universität Greifswald ist sie längst Standardverfahren, um Übelkeit und Erbrechen nach einer Operation vorzubeugen. Das hat den Verbrauch an Schmerzmitteln um ein Drittel reduziert, so Taras Usichenko, Professor für Anästhesiologie.

Was hält den Gemeinsamen Bundesausschuss, das Selbstverwaltungsgremium von Krankenkassen, Ärzten und Kliniken, also davon ab,die Akupunktur für mehr lndikationen freizugeben, zumal sie auf längere Sicht nicht teurer zu sein scheint als Medikamente - vor allem, weil deren Nebenwirkungen wegfallen? Frauke Musial, Forschungsleiterin an der Essener Klinik für Naturheilverfahren: "Man hat die Akupunktur bisher nur dann als wirksam bezeichnet, wenn sie sich im Vergleich mit einer Scheinnadelung an 'falschen' Punkten als überlegen zeigte." Die Studien zeigten jedoch, dass Akupunktur häufig unabhängig von der klassisch überlieferten Einstichstelle wirke. Warum das so sei, müsse man erst noch herausfinden.


THERAPEUTISCHES POTENZIAL

In diesem Sinne läuft am Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Berliner Charité gerade ein weiteres aufwändiges Projekt der Grundlagenforschung (ACUSAR), das sogar von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützt wird. "Wir untersuchen die Wirkung der Akupunktur bei Heuschnupfen", so Benno Brinkhaus, lnhaber der Kneipp Stiftungsprofessur für Naturheilkunde. Seine Kollegin Claudia Witt, Professorin für Komplementärmedizin, plädiert für eine zweite Forschungsstrategie, in der verschiedene Behandlungsmethoden miteinander verglichen werden, ohne nach der genauen Erklärung zu fahnden. "In den USA ist 2009 eine Milliarde Dollar aus öffentlichen Mitteln für solche Studien freigegeben worden."

Ein im Vergleich zur Akupunktur noch weit größeres therapeutisches Potential bescheinigten die CM-Experten der chinesischen Arzneimitteltherapie. Ihre praktische Anwendung ist jedoch stark eingeschränkt.

Da es bislang wenige Studien gibt, die Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit nachweisen, fehlen behördliche. Zulassungen. Die Arzneimitteltherapie bleibt deshalb überwiegend klinischen Einrichtungen vorbehalten, die größeren therapeutischen Spielraum haben. Neben den Ambulanzen in Essen und Berlin sind das vor allem die 1991 gegründete TCM-Klinik in Kötzting (volle Kassenanerkennung als Akutkrankenhaus), die 1999 entstandene TCM-Klinik in Ottobeuren (Lehrkrankenhaus des Universitätsklinikums Erlangen) und das Zentrum für Traditionelle Chinesische und lntegrative Medizin am St. Hedwig-Krankenhaus in Berlin-Mitte (Lehrkrankenhaus der Charité).


SICHERHEIT UND QUALITÄT

Chinesische Arzneimittel sind vor allem wirksam bei Funktionsstörungen und Entzündungen des Magen-Darm-Traktes, bei Allergien und Hauterkrankungen sowie gynäkologischen Leiden. Barbara Kirschbaum, in England und China ausgebildete TCM-Ärztin aus Hamburg, hat sich auf die Behandlung von Krebskranken in Kombination mit der onkologischen Therapie spezialisiert: Chinesische Heilpflanzen entgiften und lindern Nebenwirkungen von Chemotherapie und Bestrahlung.

Viele Fragen stellen sich allerdings, wenn es um Identität, Sicherheit und Qualität der Arzneimittel geht. Importe aus China sind häufig schadstoffbelastet, die Identität und Reinheit der Substanzen muss aufwändig geprüft werden. Um diesem Dilemma zu entgehen,werden in Bayern seit 1999 mit Unterstützung der Bayerischen Landesanstalt für Landwirtschaft 16 zentral wichtige Heilkräuter aus China angebaut. Die pharmakologischen Prüfungen, berichtete der Münchner Arzt Josef Hummelsberger, seien bisher äußerst zufrieden stellend. Rund 50 Apotheken in Deutschland haben es sich außerdem zur Aufgabe gemacht, optimale Sicherheitsstandards bei Chinesischen Arzneimitteln zu gewährleisten.

"Wir brauchen mehr Versorgungsverträge zwischen einzelnen Krankenkassen und klinischen Einrichtungen als Möglichkeit, Chinesische Medizin zu erproben", zog Gustav Dobos ein Fazit des Expertenaustausches. "Wenn sie sich bewähren, bekommen wir eine Chance, sie auch ambulant einzusetzen."


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Quelle:
Securvital 3/2010 - Mai/Juni, Seite 32-34
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen
Herausgeber: SECURVITA GmbH - Gesellschaft zur Entwicklung
alternativer Versicherungskonzepte
Redaktion: Norbert Schnorbach (V.i.S.d.P.)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. August 2010