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KRIEGSMEDIZIN/022: Krieg macht krank, die beteiligten Soldaten und die Bevölkerung (IPPNW)


IPPNW -
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Der Krieg kehrt heim
Krieg macht krank, die beteiligten Soldaten und die Bevölkerung

Von Dr. Angelika Claußen


Krieg ist nicht bloß eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, wie der preußische General Clausewitz meint. Krieg ist immer ein Gesellschaftszustand. Er verändert die Gesellschaft daheim. Gesellschaftliche Ressourcen oder Reichtümer werden in einem wachsenden Ausmaß der Fähigkeit zur Kriegsführung anheim gestellt, mag das in moderner Sprache "Krisenintervention", "Stabilisierungseinsatz", "Wiederaufbaumission" oder sogar "Friedensmission" heißen, wie der bundesdeutsche Afghanistaneinsatz bezeichnet wird.

Wenn der Krieg "out of area" geführt wird, spürt die Gesellschaft die Veränderung in der Regel erst, wenn die toten oder kranken Soldaten heimkehren. Am Erschreckendsten ist wohl die Persönlichkeitsveränderung, die Soldaten erleiden können, in der Sprache der Psychiatrie die "posttraumatische Belastungsstörung". Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entsteht "als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde". (ICD-10, WHO-Version 2006)


Der Krieg zerstört die Persönlichkeit des Soldaten

Die Erfahrung, dass ein Kampftrauma die Persönlichkeit eines Soldaten dauerhaft zerstören kann, ist vor etwa 2.700 Jahren das erste Mal von dem Dichter Homer in seiner Ilias beschrieben worden. Sein Werk handelt vom Soldaten im Kriege. Der amerikanische Psychiater Jonathan Shay vergleicht die Erlebnisse Achills mit den Erlebnissen amerikanischer Soldaten in Vietnam. Er beschreibt Erscheinungen, zu denen es gewöhnlich bei langen, schweren Kämpfen kommt: "Der Verrat, an dem was recht ist" und die darauf folgende psychotraumatische Reaktion bezeichnet er als "Berserkertum". Wenn eine Person erst einmal in die Berserkerphase eingetreten sei, dann sei sie für immer verändert.(1)

"Kriegszitterer, Kriegsneurotiker, Kriegshysteriker", so wurden die Soldaten in den beiden letzten Weltkriegen genannt, die dem Krieg nicht mehr gewachsen waren, die nervlich zerbrachen am Krieg. Ist das krankhaft oder nicht vielleicht doch eine ganz gesunde Reaktion? Die Rebellion der Seele gegen die unmenschlichen Grausamkeiten zu akzeptieren. Es ist dem Psychoanalytiker Horowitz zu verdanken, dass die Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörung 1980 in das psychiatrische Diagnoseschema DSM-III aufgenommen wurde. Dabei ist die PTBS die einzige psychiatrische Diagnose, die eine eindeutige kausale Beziehung zwischen dem Umgebungseinfluss und der Erkrankung feststellt. Das bedeutet, ohne Krieg, ohne Kampftrauma gibt es keine PTBS des Soldaten. Die Gesellschaft und die von ihr gewählten Politiker haben es in der Hand, was aus dem Leben und der Persönlichkeit des Soldaten wird.


Krankheitshäufigkeit der Posttraumatischen Belastungsstörung bei Soldaten

Die Datenlage zu posttraumatischen Belastungsstörungen ist sehr unterschiedlich. Staatliche Studien kommen bisher zu widersprüchlichen Ergebnissen. Oft zitiert wurde die National Vietnam Veterans Readjustment Study (NVVRS) aus dem Jahr 1988, der zufolge fast ein Drittel der Soldaten in Vietnam unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) gelitten haben.

Laut der jüngsten deutschen Untersuchung zur Psychischen Belastung nach Auslandseinsätzen liegt die festgestellte PTBS-Prävalenz bei lediglich 0,8-2,5 %.(2) Da die Zahl der Erkrankungen bei den Soldaten anderer Staaten, die in denselben Auslandseinsätzen operieren, mit ca. 4-5 % aber weitaus höher liegt, gehen Experten allerdings von einer hohen Dunkelziffer der von PTBS betroffenen Soldaten in Deutschland aus.

Während die National Vietnam Veterans Readjustment Study (NVVRS) die Zahl der US-Vietnam-Veteranen mit posttraumatischen Belastungsstörungen auf 39,9 % beziffert, geht die neuere amerikanische Studie von Dohrenwend u.a. aus dem Jahr 2006 von 18,7 % aus.(3) Charles W. Hoge u.a. haben in ihren Studien zu Irak- und Afghanistan-Rückkehrern(4) 19,1 % psychiatrische Erkrankungen (PTSD, Depressionen, andere psychische Erkrankungen) bei Irak-Rückkehrern, 11,3 % bei Afghanistan Rückkehrern und 8,5 % bei Rückkehrern aus anderen Ländern erfasst. Sareen hat militärisches Personal in Kampfeinsätzen und Friedensmissionen aus Kanada untersucht(5) und herausgefunden, dass 14,9 % an psychischen Erkrankungen wie depressiven Störungen, posttraumatischen Belastungsstörungen, generellen Angststörungen, Panik-Anfällen, Sozialphobie und Alkoholabhängigkeit litten. Laut Prof. Simon Wessely, Militärpsychiater am King´s College London, Großbritannien leiden ca. 20 % der britischen Soldaten, die an Kampfeinsätzen beteiligt waren, an psychischen Erkrankungen.(6)

Alle Untersuchungen stellen eine eindeutige Relation zwischen der Schwere des Traumas und der Häufigkeit des Auftretens von PTBS oder anderen Traumafolge-Erkrankungen fest. Neben der objektiven Schwere des Traumas spielt zusätzlich die subjektive Überforderung durch das traumatische Ereignis, seine Unerwartetheit und der damit verbundene Kontrollverlust eine große Rolle in der Verursachung der PTBS.


Der Krieg zerstört die Fähigkeit zu gesellschaftlichem Vertrauen

Krieg macht nicht nur krank, das Kampftrauma selbst zerstört auch die die Fähigkeit des Soldaten zu gesellschaftlichem Vertrauen. Es entsteht eine Art paranoider Zustand, der das Leben der traumatisierten Soldaten entscheidend prägt. Wie viele kranke Soldaten glauben Politiker verantworten zu können? Wie viel zerstörtes soziales Vertrauen? Ist das auch ein Kollateralschaden? Für welche Ziele der Politik sollen die Soldaten ihren Geist, ihr Herz und ihre Seele opfern?


Zahl der PTBS-Erkrankungen wird weiter steigen

Die Auslandseinsätze der Bundeswehr bringen für die Soldatinnen und Soldaten schwere körperliche und seelische Belastungen mit sich. Die beschlossene Truppenaufstockung in Afghanistan wird das Problem weiter verschärfen. Bereits seit der Ausdehnung des Afghanistan-Einsatzes auf den Süden und Osten des Landes im Jahr 2006 hat sich die Situation in dem Land weiter verschlimmert. So stieg die Zahl der Selbstmordattentate laut der Informationsstelle Militarisierung (imi) von 5 (2001 bis 2004) auf 17 (2005), dann auf 123 (2006) und schließlich 131 (2007) an. Analog dazu hätten auch die direkten bewaffneten Kämpfe zwischen NATO-Truppen und afghanischem Widerstand zugenommen. Auch der Anstieg von Sicherheitsvorfällen habe sich fortgesetzt: 1.755 Vorfälle 2005, 3.589 Vorfälle 2006, 6.000 Vorfälle 2007. Bis Mitte 2008 habe sich die sicherheitsrelevanten Zwischenfälle nochmals um 27 % erhöht. Zudem sei die Zahl der Opfer unter den westlichen Truppen kontinuierlich angestiegen. 2007 starben 232 NATOSoldaten, im Mai und Juni 2008 überstiegen die Verluste in Afghanistan sogar erstmals die im Irak.(7) Aufgrund dieser verschärften Sicherheitslage ist anzunehmen, dass die Zahl der PTBS-Erkrankungen bei Soldaten weiter steigen wird.


Forderungen der IPPNW

Die IPPNW appelliert an die Bundesregierung, einen Strategiewechsel ihrer Afghanistanpolitik einzuleiten. Deutschland muss gemeinsam mit europäischen Regierungen, islamischen und blockfreien Ländern, Gespräche für einen neuen Friedensprozess vorantreiben. Beteiligt werden sollen die unterschiedlichen Gruppierungen der afghanischen Opposition einschließlich der Taliban und die afghanische Regierung. Realistisch seien heutzutage die Kräfte, die eingestehen, dass die militärische Aufstandsbekämpfung der NATO gescheitert ist. Der Friedensprozess braucht daher einen konkreten militärischen Abzugsplan aller Truppen.

Die IPPNW fordert die Bundesregierung zudem auf, den Beitrag zur zivilen Hilfe deutlich aufzustocken. Diese Mittel sollen für Entwicklungsprojekte in Afghanistan zur Verfügung gestellt werden, die von Orten und Regionen des Landes gemeinsam für wichtig und nützlich gehalten werden und die Lebensbedingungen der Menschen vornehmlich auf dem Lande verbessern. Eine zivil-militärische Zusammenarbeit (CIMIC) lehnen wir ab, denn sie dient der jeweiligen militärischen Operation und hat mit humanitärem Aufbau oder Entwicklungshilfe nicht das Geringste zu tun.


Dr. med. Angelika Claußen ist niedergelassene Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Seit 1986 ist sie Mitglied der deutschen Sektion der IPPNW und seit 2005 Vorsitzende der Ärztevereinigung. Angelika Claußen arbeitet in einer Gemeinschaftspraxis für Psychiatrie und Psychotherapie in Bielefeld.


Anmerkungen:

(1) Jonathan Shay, Achill in Vietnam, Kampftrauma und Persönlichkeitsverlust. Mit einem Vorwort von Jan Philipp Reetsma, Hamburg 1998
(2) Hauffa R, Brähler E, Biesold KH, Tagay S. Psychische Belastungen nach Auslandseinsätzen: Erste Ergebnisse einer Befragung von Soldaten des Einsatzkontingentes ISAF VII. Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie 2007;57: 373-378.
(3) Dohrenwend B et al:.Science. 2006 August 18; 313(5789): 979-982.
(4) Hoge et al: JAMA. 2006 Mar 1;295(9):1023-32.
(5) Sareen J et al: Arch Gen Psychiatry 2007 Jul; 64(7):843-52.
(6) MRI Testing in America has revealed startling differences in the brain of soldiers with combat stress, Science Magazine, January 27, 2009
(7) IMI-Studie Nr. 11/2008 - 16.9.2008 - ISSN: 1611-2571, Lackmustest Afghanistan, Jürgen Wagner


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Quelle:
Hintergrundpapier von Dr. Angelika Claußen
Internationale Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges /
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.
Körtestr. 10, 10967 Berlin
Sven Hessmann, Pressereferent
Tel. 030-69 80 74-0, Fax: 030-69 38 166
E-Mail: ippnw@ippnw.de
Internet: www.ippnw.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Februar 2009