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GESCHICHTE/516: Die Ärztekammer Schleswig-Holstein vor der NS-Zeit (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 7/2010

Historie
Die Ärztekammer Schleswig-Holstein vor der NS-Zeit

Von Dr. Karl-Werner Ratschko


Die Welt der ärztlichen Organisationen in Schleswig-Holstein vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Ein Überblick von Dr. Karl-Werner Ratschko.


Ärztlich-naturwissenschaftliche Vereinigungen sind in Deutschland seit Beginn der frühen Neuzeit zu finden. Erste Ärztevereine im engeren Sinne gab es zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Erlangen, Lübeck, Berlin und Hamburg. Sie nahmen die Interessen der frei praktizierenden Ärzte wahr, übten aber auch auf freiwilliger Grundlage Ordnungsfunktionen für den ärztlichen Beruf aus. In Schleswig-Holstein entstand 1865 lange vor der Ärztekammer der Verein Schleswig-Holsteinischer Ärzte, der sich der standespolitischen Aufgaben annahm, die Bildung von regionalen ärztlichen Kreisvereinen förderte und ein Sprachrohr der Ärzteschaft des Landes darstellte. Den Durchbruch zu einer deutschlandweiten Organisation der Ärzteschaft brachte ein Jahr nach der Entstehung des Deutschen Kaiserreiches die Gründung des Deutschen Ärztevereinsbundes 1872 durch Hermann Eberhard Richter. 1873 fand die erste Sitzung des zentralen Organs des Ärztevereinsbundes, der 1. Deutsche Ärztetag in Wiesbaden statt[1]. Bald trat der Verein Schleswig-Holsteinischer Ärzte 1874 dem Deutschen Ärztevereinsbund bei und war auch bis 1931 für die Entsendung der Vertreter aus Schleswig-Holstein zuständig.

In der Zeit der Entstehung der Bismarckschen Sozialgesetzgebung mit Schaffung der gesetzlichen Krankenversicherung (1883), der Unfall- (1884), Invaliditäts- (1889) und Rentenversicherung (1891)[3] erwies es sich als nachteilig, dass die freiwillige Mitgliedschaft in ärztlichen Vereinen nicht alle Ärzte erfasste. Die Lösung bestand 1887 für Preußen in der Einrichtung von zwölf preußischen Ärztekammern, so auch der Ärztekammer für die Provinz Schleswig-Holstein in Kiel. Die Ärztekammern waren schon damals selbstverwaltete Einrichtungen, alle Ärzte waren Mitglieder, die Kammerversammlung wurde alle drei Jahre in Wahlen bestimmt, es wurde ein jährlicher Beitrag erhoben. Die Aufsicht hatte der preußische Oberpräsident in Kiel. Die Koordinierung der Ärztekammern in Preußen erfolgte seit 1891 durch den "Preußischen Ärztekammerausschuß", in dem alle Ärztekammern Preußens vertreten waren. Näheres über die ersten 40 Jahre der Ärztekammer in Schleswig-Holstein soll einem späteren Beitrag vorbehalten bleiben.


Schwierige Zeiten: Ärztliche Organisationen und Verbände im Jahre 1930

Ein Sprung in das Jahr 1930 in die Welt der ärztlichen Organisationen und Verbände: Der Deutsche Ärztevereinsbund und seine eigenständige für die wirtschaftlichen Verhältnisse zuständige Abteilung, der Hartmannbund, mussten sich über die Schwerpunkte ihrer jeweiligen Arbeitsgebiete einigen. Der Hartmannbund sollte sich nunmehr allein um die Vertretung der wirtschaftlichen Berufsinteressen der Ärzteschaft bemühen, der Ärztevereinsbund um ärztliche Wissenschaft, Ethik, Berufsausübung, Kollegialität. Beide behielten sich die Kontakte zu wichtigen Organisationen sowie den Einsatz für die einschlägige Gesetzgebung und die Krankenhausärzte vor und vereinbarten gegenseitige Information. Die Einigung der traditionell rivalisierenden Verbände war Ausdruck eines veränderten Bewusstseins in der Ärzteschaft dahingehend, dass das kräfteraubende Gegeneinander und Nebeneineinander auf Reichsebene in Zeiten von leeren Kassen, allgemeiner Not und politischer Unsicherheit ein Ende finden musste, damit die Belange der Ärzte nicht völlig auf der Strecke blieben. Dazu gehört sicher auch die Entscheidung des 48. Deutschen Ärztetages 1929 in Essen, mit Geheimrat Dr. Alfons Stauder eine für Ärztevereinsbund und Hartmannbund gemeinsame Spitze zu schaffen, letztlich ein Beschluss mit verhängnisvollen Folgen, weil er 1933 die Machtübernahme über die ärztlichen Organisationen durch die Nationalsozialisten erleichtern sollte. In die Stimmung der Zeit passt das Editorial des Vorsitzenden des Vereins Schleswig-Holsteinischer Ärzte, Wilhelm Henop in den Mitteilungen für den Verein Schleswig-Holsteinischer Ärzte. In ihm werden die damaligen Sorgen der Ärzteschaft deutlich. Die Überwindung der Weltwirtschaftskrise war 1930 nicht in Sicht, die parlamentarische Demokratie der Weimarer Republik lag in den letzten Zügen und am Horizont tauchten neue, drohende Gefahren auf. Zitat: "[...] Was heute als materielle Not, sittliche Gefährdung, Mangel an nationalem Ehrgefühl oder durch Verneinung des Willens zur Fortpflanzung lähmend auf unserem Volk lastet, darf nicht das Ende seiner staatlichen Entwicklung bedeuten." Und weiter: "Wenn wir von der Betrachtung allgemeinen Geschehens unserem besonderen beruflichen Leben uns zuwenden, so lässt sich auch da nicht verkennen, dass durch neue, problematischen Weltanschauungen entspringende Forderungen das geschichtlich Gewordene vielfach bedroht ist und gerade die jungen Kräfte zum Teil sich abseitsstellen, weil sie von uns Älteren kein Verständnis ihrer Lage erwarten. [...]" Sorgen, insbesondere um die Haltung der jungen Ärzte, die sich drei Jahre später nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten als nur allzu berechtigt erweisen sollten.

In der Provinz Schleswig-Holstein gab es neben der Ärztekammer noch eine Vielzahl weiterer ärztlicher Organisationen, die, unabhängig voneinander oder durch Personalunion verbunden, unterschiedlichen, ähnlichen und gleichen Aufgaben nachgingen und es den Ärzten manchmal schwer machten, den Überblick zu behalten. Zunächst einmal war Schleswig-Holstein 1930 nicht mit dem heute so bezeichneten Land identisch. Bis zum Groß-Hamburg-Gesetz im Jahre 1937, mit dem u.a. das bis dahin unabhängige Land Lübeck[6] der preußischen Provinz Schleswig-Holstein zugeschlagen wurde, gab es eine eigene Ärztekammer Lübeck. Die Oldenburgische Provinz Lübeck (früher: Fürstentum Lübeck), die staatsrechtlich einen Teil des Landes Oldenburg darstellte, wurde bereits seit der Kaiserzeit von der Ärztekammer in Schleswig-Holstein verwaltet. Aus ihr wurde der Kreis Eutin. Eine selbstständig geleitete Pensionskasse war der Ärztekammer angegliedert. Das unabhängige ärztliche Ehrengericht wurde von der Ärztekammer finanziert und durch Wahlen personell besetzt. Die Abrechnung mit den regionalen gesetzlichen Krankenkassen erfolgte durch 21 auf Kreisebene bestehende Kassenärztliche Vereinigungen mit fast immer eigenen Verrechnungsstellen[7]. Sie bildeten als KV-Landesteil Schleswig-Holstein zusammen mit dem KV-Landesteil Lübeck den Ärztlichen Provinzialverband von Schleswig-Holstein. Der Verein Schleswig-Holsteinischer Ärzte war die Dachorganisation von 22 örtlichen, teilweise regional nicht mit den Kreisgrenzen übereinstimmenden Ärztevereinen. Hierbei handelte es sich - im Gegensatz zur Ärztekammer als öffentlich rechtlicher Körperschaft - um privatrechtlich organisierte Zusammenschlüsse der schleswig-holsteinischen Ärzte unter Einschluss des zur Oldenburgischen Provinz Lübeck gehörenden Ärztevereins Eutin. Die Ärztekammer hatte Mitte 1931 etwa 1.050 Pflichtmitglieder, der Verein zur gleichen Zeit etwa 850 freiwillige Mitglieder. So wie sich die Ärztekammern in Preußen in dem in Berlin tagenden "Preußischen Ärztekammerausschuss" koordinierten, geschah dies für die ärztlichen Vereine auf Reichsebene im Deutschen Ärztevereinsbund, der auch bis 1933 für die Durchführung des Deutschen Ärztetages verantwortlich war.[10]

Die Ärztekammer in Schleswig-Holstein hatte als Beschlussgremien die in geheimer und schriftlicher Wahl gewählte "Ärztekammer"(-Versammlung)[11], die ihrerseits einen Vorstand wählte. Auf je 50 wahlberechtigte Ärzte im Lande kam ein ehrenamtliches Mitglied. Vorsitzender war bis zur Übergabe der Ärztekammer an den Beauftragten des Reichsärztekommissars Wagner im Jahre 1933 Dr. Johann Lubinus[12], sein Stellvertreter Prof. Dr. Hoppe-Seyler, ab 1932 Dr. Boyksen aus Pinneberg. Lubinus war auch Vorsitzender der Pensionskasse der Ärztekammer und des Ärztlichen Provinzialverbandes für Schleswig-Holstein, zeitweise auch des Preußischen Ärztekammerausschusses. Für die Verwaltung insbesondere der Gelder war Dr. Karl Hüne, Kiel, zuständig. Die "Ärztekammer"-Versammlung hatte 21 Mitglieder, etwa zur Hälfte waren dies die Vorsitzenden der regionalen Ärztevereine und Kassenärztlichen Vereinigungen, in der Mitgliederversammlung der zur Ärztekammer gehörenden, aber unabhängig verwalteten Pensionskasse waren etwa die Hälfte der Mitglieder Leiter der Verwaltungsstellen der Kassenärztlichen Vereinigungen. 75 Prozent der Mitglieder der "Ärztekammer" waren länger als 30 Jahre, 80 Prozent länger als 25 Jahre approbiert. Das Durchschnittsalter des Gremiums war 63 Jahre. Zusammen mit dem Verein Schleswig-Holsteinischer Ärzte und den regionalen Ärztevereinen gab es eine starke personelle Vernetzung, die bei aller vordergründigen Zerrissenheit doch wieder ein weitgehend geschlossenes Vorgehen der Ärzteschaft des Landes ermöglichte. Die jährlich in den ersten Monaten des Jahres stattfindenden Sitzungen der "Ärztekammer" fanden häufig, aber nicht ausschließlich, im Sitzungssaal des Kieler Schlosses statt. Das Schloss war damals Sitz des Oberpräsidenten für die Provinz Schleswig-Holstein. Vertreter des Oberpräsidiums als Aufsichtsbehörde sowie der Universität, auch der Kieler Amtsarzt, nahmen regelmäßig als Gäste an den Sitzungen teil.

Die Ärztekammer(-Versammlung) befasste sich außer mit standespolitischen Angelegenheiten der Provinz-, Landes- und Reichsebene wie z.B. am 1. Februar 1930 mit der Umgestaltung ärztlicher Befundberichte für die LVA, mit der Diskussion einer vorgesehenen Änderung der Prüfungsordnung für Ärzte, mit der Gestaltung der ärztlichen Fortbildung und nahm die Berichte der Vertragskommissionen für Einzel- und Kassenverträge entgegen. Der Vorsitzende gab in einem Jahresbericht jeweils einen Überblick über das vergangene Jahr, der Kassenbericht wurde vorgetragen (z.B. 1929 Einnahmen 50.982.- M, Ausgaben 47.515.- M) und der Kammerbeitrag wurde beschlossen (freiberuflich tätige Ärzte sechs Prozent der Einkünfte aus ärztlicher Tätigkeit, einschließlich des Beitrags für den Pensionsfonds, beamtete Ärzte mit Pensionsanspruch ein Prozent des Gehaltseinkommens, Assistenten 10.- M). Ein zentrales Thema wurde jeweils eingehend bearbeitet. 1930/31 ging es dabei um die Struktur der Gesundheitsfürsorge und die Einbeziehung der niedergelassenen praktischen Ärzte. Der Vorstand der Kammer tagte drei (1930) bis fünfmal (1932) im Jahr. Das Ärztliche Ehrengericht erstattete Bericht über seine Arbeit. Von den 34 im Jahre 1929 erledigten "Angelegenheiten" kam es in 25 Fällen zur Einstellung, in acht Fällen zur Verurteilung und in einem Fall zur Abgabe. Die Mitgliederversammlung der Pensionskasse tagte ebenfalls einmal im Jahr nach der Sitzung der "Ärztekammer". Hier ging es um die Gestaltung der Altersversorgung der freiberuflich tätigen Ärzte und ihrer Angehörigen. Das Vermögen der Pensionskasse belief sich Ende 1929 auf rund 1,4 Millionen, die sich in einen Allgemeinfonds und einen Individualfonds aufteilten. Die Rentenhöhe richtete sich nach den Jahren der Einzahlung in den Individualfonds, der Allgemeinfonds war für Renten bei Arbeitsunfähigkeit sowie für Witwen und Waisen angelegt. Die Grundrente betrug jährlich 1.200.- M.[14]


Zehntägige Fortbildung für praktische Ärzte in Krankenhäusern

Vorbildlich war die Zusammenarbeit der ärztlichen Organisationen mit den Vertretern der Kieler Medizinischen Fakultät. Neben regelmäßig stattfindenden Fortbildungsabenden der Medizinischen Gesellschaft hielten Mediziner aus der Medizinischen Fakultät fast immer Referate zu aktuellen medizinischen Problemen. Hervorzuheben ist die vom Verein Schleswig-Holsteinischer Ärzte und der Ärztekammer im Jahre 1930 beschlossene Gründung eines Provinzial-Ausschusses für ärztliches Fortbildungswesen, in dem unter Federführung der Ärztekammer und dem Vorsitz von Lubinus ärztliche Organisationen, Medizinische Fakultät, Krankenhäuser aus Schleswig-Holstein u.a.m. die Zusammenarbeit in der Fortbildung, und zwar durch Vorträge, Fortbildungskurse und klinische Betätigung unter Leitung der Kammer planten. Schon für 1930 gab es interessante Fortbildungsangebote, z.B. im Oktober eine Woche von Montag bis Freitag (9:00 bis 18:00 Uhr) mit Vorträgen über "Krebs und innere Sekretion" durch die Medizinische Fakultät sowie zwei Tage Vorträge über "Begutachtung" für Kommunalärzte. Besonders hervorzuheben ist das 1930 erfolgreich neu eingeführte Angebot an alle Ärzte, sich je zehn Tage bei freier Station in den Universitätskliniken Kiel und den städtischen Krankenhäusern Altona und Kiel zu betätigen. Bemerkenswert: Für "Herren", die ein Einkommen unter 10.000.- M pro Jahr hatten, wurde noch ein Zuschuss über 100.- M für die Bezahlung eines Vertreters zur Verfügung gestellt. Die Finanzierung erfolgte aus den Erträgen der Quincke-Lütje-Schittenhelm-Stiftung (1.200.- M)[16], der Arbeitsgemeinschaft der sozialen Versicherungsträger (2.000.- M) sowie von Ärztekammer, Verein und Provinzialverband (ca. 3.000.- M). Hospitationen von 120 "Herren" bei freier Station für die beschlossenen zehn Tage wurden mit ca. 2.640.- M ermöglicht. Für die Kosten der Vertretung war dann noch eine Summe von reichlich 3.500.- M für die Finanzierung der Vertreter von gut 30 "Herren" übrig. Diese Fortbildungskurse wurden auch in dem durch Sparmaßnahmen geprägten Jahr 1932 fortgeführt. An ärztlicher Fortbildung sollte nicht gespart werden.

Im Jahre 1931 stand eine Kammerwahl an. Kritisch wurde die Auswahl der Kandidaten für die Wählerlisten vom Vorsitzenden des Vereins der Krankenhausärzte, Bezirksstelle Schleswig-Holstein, Paul Graf aus Neumünster gesehen. Das Verfahren, den gesamten Wahlvorschlag durch die Spitzenvertreter des Vereins Schleswig-Holsteinischer Ärzte in einer Einheitsliste aufstellen zu lassen, fand nicht seine Zustimmung. Dieses Verfahren führe zu einer Überalterung der "Ärztekammer". Zitat: "Ein größerer Anteil von jüngeren Ärzten, die voll im wirtschaftlichen Kampf stehen, ist dringend notwendig." Und er forderte: "Deshalb geht der Wunsch vieler standestreuer und reger Ärzte in der Provinz dahin, die Wahl von unten vorzubereiten und nicht von oben". Folgen hatte diese Kritik nicht: Am 1. April wurde in einer außerordentlichen Vertreterversammlung des Vereins für Schleswig-Holsteinische Ärzte in Kiel eine Einheitsliste beschlossen. Immerhin: Nur etwa die Hälfte der Kandidaten war bereits Mitglied der ablaufenden "Ärztekammer".


Die wirtschaftliche Situation der Ärzte

Eine der 44 Notverordnungen des Reichspräsidenten im Jahre 1931, nämlich die vom 4. Dezember 1931, die unter anderem die Ärzte als Gewerbetreibende einordnete, führte wenige Tage später, am 9. Dezember, zu einer "Kundgebung von ungeheurer Wucht" von Ärztevereinsbund, Ärztekammerausschuss (unter Vorsitz von Lubinus), medizinischen Fakultäten und der Jungärzteschaft. Dazu Henop im Dezemberheft der Mitteilungen: "[...] Aber erzwungene Abdrängung von beruflicher Arbeit bedroht auch die Besten mit Entartung. Muß beschränkt sein, so sei es beim Zugang. Wer aber Arzt geworden ist, kann die ungeheure Verantwortlichkeit des Berufes nur tragen bei Freiheit des Handelns, sobald er über die erste Assistentenzeit hinaus ist. [...] Ihn statt dessen in Not und Verzweiflung zu treiben, muß am ganzen Volke sich rächen." Der Kammerbeitrag für das Jahr 1932 wurde in Anbetracht des Rückgangs der ärztlichen Einnahmen um 20 Prozent gesenkt, der geplante 51. Deutsche Ärztetag in Hannover wurde aus Kostengründen abgesagt. Die "Not der deutschen Jungärzte" veranlasste im Juli 1932 den Preußischen Minister für Volkswohlfahrt, die Krankenhäuser (mit Ausnahme der Universitätskliniken) aufzufordern, mit Vergütung versehene Assistenzarztstellen deutschen Jungärzten vorzubehalten. Die Aufforderung sollte zulasten der 143 in Preußen an Krankenanstalten beschäftigten ausländischen Ärzte umgesetzt werden.

Ein Wort über die Kommunikation zwischen Ärztekammer, den ärztlichen Verbänden und ihren Mitgliedern: Gemeinsames Mitteilungsblatt für alle Ärzte waren bis Ende 1933 die am 18. Oktober 1865 begründeten Mitteilungen für den Verein Schleswig-Holsteinischer Ärzte, ihr Schriftleiter war seit 1892 Prof. Dr. Georg Hoppe-Seyler.[23] Es folgte von 1934 bis Februar 1938 das Ärzteblatt für Hamburg und Schleswig-Holstein[24], dann bis Mai 1941 das Norddeutsche Ärzteblatt[25]. Bis zum Erscheinen des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblattes im Januar 1948 gab es kriegs- und nachkriegsbedingt dann kein Nachrichtenblatt für Ärzte in Schleswig-Holstein. Die Berichterstattung in den Mitteilungen für den Verein Schleswig-Holsteinischer Ärzte war beeindruckend vielfältig, gab einen Überblick über die Arbeit der ärztlichen Organisationen in Schleswig-Holstein und war für heutige Verhältnisse sehr ausführlich, schuf Transparenz und ermöglichte jedem Arzt, sich mit den aktuellen standespolitischen Fragen und lokalen ärztlichen Gegebenheiten zu beschäftigen. Auch die ärztliche Fortbildung kam nicht zu kurz. Das Ganze änderte sich allmählich mit dem ab 1934 erscheinenden, unter nationalsozialistischer Regie betriebenen Ärzteblatt für Hamburg und Schleswig-Holstein, die Inhalte wurden zunehmend dürrer, die Aussagen inhaltsärmer, kurz gesagt: Die beeindruckende ärztliche Kultur der Jahre vor 1933 ging recht schnell verloren. Das ab 1938 weiter geschrumpfte Norddeutsche Ärzteblatt war dann noch dürftiger und diente fast nur noch der Übermittlung von Mitteilungen der Reichsärztekammer und der Kammern und Kassenärztlichen Vereinigungen seines Verbreitungsgebietes. Es wurde nach seiner Einstellung im Mai 1941 wohl auch kaum von jemandem vermisst.

Nach dem 30. Januar 1933 änderte sich mit der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten fast alles. Der Vorsitzendende des 1929 gegründeten und bis Anfang 1933 ein Schattendasein führenden Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes (NSDÄB), Dr. Gerhard Wagner, wurde vom Reichsinnenministerium zum Reichskommissar der ärztlichen Spitzenverbände bestellt. Am 24. März 1933 wurde in Nürnberg Zusammenarbeit zwischen Wagner und den Spitzenverbänden vereinbart, als unmittelbare Folge wurden die jüdischen Ärzte aufgefordert, ihre Ämter in allen ärztlichen Organisationen niederzulegen. Der Rücktritt Alfons Stauders, der am 2. April noch an einem Gespräch Wagners mit Hitler teilnehmen durfte, im Juni 1933 mit der Empfehlung an die ärztlichen Spitzenverbände, Wagner zu wählen, erlaubte den Nationalsozialisten, ohne große Mühe die für ihre Ziele strategisch wichtige Ärzteschaft "gleichzuschalten". Thema eines weiteren Beitrags in einem der nächsten Ausgaben des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts werden die Auswirkungen dieser Veränderungen auf die Ärzteschaft in Schleswig-Holstein und die weitere Entwicklung in der Provinz sein.


Vollständige Quellennachweise und Literatur beim Verfasser oder im Internet unter www.aeksh.de Dr. med. Karl-Werner Ratschko, MA, Havkamp 23, Bad Segeberg


Quellennachweise

[1] Ein Jahr nach diesem Zeitpunkt waren bereits 111 Vereine, etwa 50 Prozent aller deutschen Ärztevereine, Mitglied des Deutschen Ärztevereinsbundes. Er blieb bis zur Gründung der Reichsärztekammer 1936 zentrale Organisation der deutschen Ärzteschaft. Der Deutsche Ärztetag, Hauptversammlung der deutschen im Ärztevereinsbund vereinigten Ärztevereine, ab 1948 der Ärztekammern, fand mit Ausnahme der Jahre 1915-17 und 1932 bis 1947 regelmäßig statt.

[3] Die Arbeitslosenversicherung folgte erst 1927.

[6] Das Land Lübeck bestand im Wesentlichen aus der Stadt Lübeck. Die Oldenburgische Provinz Lübeck (nach 1937 der schleswig-holsteinische Kreis Eutin) war Bestandteil des Landes Oldenburg Die Kreise Altona und Wandsbek gehörten bis 1937 zu Schleswig-Holstein und wurden Groß-Hamburg zugeschlagen.

[7] Altona, Bergedorf, Eckernförde, Flensburg Land, Flensburg Stadt, Husum-Eiderstedt, Kiel, Lauenburg, Neumünster, Norder-Dithmarschen, Oldenburg, Pinneberg, Plön, Rendsburg, Schleswig, Segeberg, Steinburg, Stormarn, Süder-Dithmarschen, Süd-Tondern, Wandsbek.

[10] Der letzte Ärztetag vor dem Beginn der NS-Herrschaft bis zu ihrem Ende 1945 war der 50. Deutschen Ärztetag 1931 in Köln. Der 51. Deutsche Ärztetag, der 1932 in Hannover stattfinden sollte, wurde aus Kostengründen abgesagt. 1932-1947 gab es keine Deutschen Ärztetage, es folgte der 51. Deutsche Ärztetag 1948 in Stuttgart.

[11] Heute "Kammerversammlung" genannt.

[12] Dr. Johann Lubinus (1865-1937), Gründer der "Anstalt für Heilgymnastik, Orthopädie mit Massage samt medico-mechanischem Zander-Institut 1895 und der ersten deutschen Lehranstalt für Heilgymnastik im Jahre 1901.

[14] Der Wert der Mark in der damaligen Zeit umgerechnet in Euro ist ungefähr durch Multiplikation mit dem Faktor 4 zu ermitteln.
http://de.wikipedia.org/wiki/Reichsmark [01.06.2010]

[16] Quincke, Heinrich (geb.1842, gest. 1922, Direktor: 1878-1908), Lütje, Hugo (geb. 1870, gest. 1915, Direktor: 1908-1915), Schittenhelm, Alfred (geb. 1874, gest. 1954, Direktor in Kiel: 1916-1934) waren die Direktoren der Medizinischen Universitätsklinik Kiel.

[23] Seyler-Hoppe war Assistent bei Quincke, habilitierte sich 1887 für Innere Medizin und physiologische Chemie. Von 1892 bis 1925 war er Chefarzt des Städtischen Krankenhauses Kiel.

[24] Schriftleitung für Schleswig-Holstein Dr. Fritz Hinrichsen, Neumünster

[25] Nachrichtenblatt der Reichsärztekammer, Ärztekammern Hamburg, Schleswig-Holstein, Pommern und Mecklenburg sowie der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands, Landestellen Hamburg, Schleswig-Holstein, Pommern und Mecklenburg. Schriftleiter Dr. Röhrs, Hamburg.


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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 7/2010 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2010/201007/h10074a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Juli 2010
63. Jahrgang, Seite 53 - 57
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. August 2010