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ETHIK/780: Hirntod - Zu viele Fragezeichen (ALfA LebensForum)


ALfA LebensForum Nr. 91 - 3. Quartal 2009
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

Zu viele Fragezeichen

Von Professor Dr. med. Stephan Patt


Ob Hirntote Tote sind oder "noch Sterbende", ist nicht belanglos. Seit einigen Jahren ist die Hirntoddebatte wieder neu entfacht. Das Thema wird kontrovers diskutiert, auch bei denjenigen, die sich für das Leben einsetzen. Es werden uneinheitliche, ja extreme Positionen vertreten. Für manche bedeutet der Hirntod unmissverständlich der Tod des Menschen, andere lehnen diese Gleichsetzung strikt ab und warnen vor Organtransplantationen bei "noch Sterbenden". Nicht wenige Medieninformationen verwirren mehr, als dass sie klären. Es scheint zu viele Fragezeichen zu geben. Es ist an der Zeit, etwas Licht in die Debatte zu bringen.


Das Gehirn ist ein besonderes Organ des Menschen. Es ist das übergeordnete Steuerorgan aller Lebensvorgänge und der Sitz allen Denkens und Fühlens. Was passiert nun, wenn das Gehirn unwiderruflich abstirbt? Was bedeutet es, wenn der Mensch hirntot ist? Ist er tatsächlich tot, d. h., liefert der Hirntod ein sicheres Todeskriterium? Kann man sagen, der Hirntod ist der Tod des Menschen, der Tod der Person? Ist der Hirntote nicht eher ein "noch Sterbender"? Fragen über Fragen ...

Im vorliegenden Beitrag soll schwerpunktmäßig aus medizinischer Sicht aufgezeigt werden, dass manche der Fragezeichen unberechtigt sind. Dabei wird insbesondere auf den neuropathologischen Blickpunkt verwiesen. Ferner werden Implikationen für Ethik und Theologie aufgezeigt.

Unter Hirntod versteht man den Zustand des irreversiblen Erloschenseins aller Funktionen des Groß- und Kleinhirns sowie des Hirnstamms bei einer durch kontrollierte Beatmung noch aufrechterhaltenen Herz- und Kreislauffunktion. Dieses Phänomen des Hirntodstatus trat erst vor rund 50 Jahren durch die Entwicklung der modernen Intensivmedizin auf Nur durch sie sind Verunfallte mit irreversibler Ganzhirnschädigung, jedoch intakten anderen Organen, prinzipielle Organspender. Die maschinelle Beatmung übernimmt die Aufrechterhaltung von Funktionen, die das "Überleben" der Organe bis zu ihrer Transplantation gewährleistet. Wichtig ist zu betonen, dass der Hirntod ein Ganzhirntod ist. Er darf nicht mit dem Wachkoma, auch persistierender vegetativer Status genannt, verwechselt werden, bei dem der Hirnstamm noch funktioniert, was einem Teilhirntod gleichkommt.

Der Hirntod wurde als "neues" Todeskriterium 1968 von einer interdisziplinären Kommission an der Harvard Medical School eingeführt. Eine Um- oder Neudefinition des Todes, wie von einigen irrigerweise behauptet wird, wurde dadurch nicht geschaffen, da ja keineswegs neu festgelegt wurde, was der Tod ist. Streng genommen kann es nur einen Tod des Menschen geben, welcher bei 99 Prozent der Fälle als irreversibler Atem- und Kreislaufstillstand festgestellt wird, der den Hirntod zur Folge hat. Im Falle des Hirntodes wird dieser lediglich vor dem Herztod nachgewiesen.

Ein entscheidender erster Punkt bei der Debatte über den Hirntod ist seine Diagnose. Sie muss - soweit das in der Biowissenschaft möglich ist, wo die Fehlerquelle Mensch bestehen bleibt - 100 Prozent sicher sein. Ist sie es nicht, ist die Angst vor einer Fehldiagnose begründet. In Deutschland ist das auszuschließen, da die Hirntoddiagnose als sicherste Diagnose in der Medizin überhaupt gilt. Es wurde international eine Abfolge von klinischen Tests erarbeitet, die eine Fehldiagnose so gut wie unmöglich macht, freilich nur, wenn man die Tests einwandfrei anwendet. Für Deutschland ist das garantiert.

Dabei geht man so vor: Vor Beginn einer Hirntoddiagnostik werden andere Ursachen für eine tiefe Bewusstlosigkeit ausgeschlossen. Ferner wird das Vorliegen einer Hirnschädigung überprüfbar nachgewiesen. Klinische Kriterien zur Feststellung des Hirntodes sind: (1) der Verlust des Bewusstseins, (2) eine Areflexie des Hirnstamms - wobei autonome Reflexe auf Rückenmarksebene erhalten sein können - und (3) der Verlust der Spontanatmung. Unter Umständen erfolgen ergänzende apparative Untersuchungen wie ein Null-Linien-EEG, der Nachweis eines zerebralen Durchblutungsstopps mittels Perfusionsszintigraphie oder Doppler-Sonographie sowie der Ausfall der akustischen oder somatosensiblen evozierten Potentiale. Das Erfülltsein dieser Kriterien wird wiederholt und von unabhängigen Ärzten geprüft. Dadurch wird zweifelsfrei nachgewiesen, dass es sich um einen unumkehrbaren Ausfall aller Hirnfunktionen handelt ("point of no return"). Dieses Procedere zur Feststellung des Hirntods hat sich in der Medizin seit Jahren bewährt. Der Hirntod gilt auch juristisch als Kriterium für die zulässige Organentnahme, wobei die Einwilligung zur Organspende gesondert zu beachten ist.

So weit, so klar. Wie begründen aber die Anhänger des Hirntodkonzepts, dass der Hirntod der Tod des Menschen ist? Ist ihnen, die ja vornehmlich medizinisch-wissenschaftlich argumentieren, dies überhaupt möglich?

Hier sei auf eine Stellungnahme namhafter Neurologen und Theologen verwiesen, die von der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften im Jahr 2008 veröffentlicht wurde. Dort wird auf ein medizinisch wesentliches, unter Nichtmedizinern aber wenig bekanntes Faktum hingewiesen: Notwendige Bedingung für die Entwicklung des Hirntodes ist eine kontrollierbare und fortschreitende Hirnschwellung mit nachfolgendem Hirndruckanstieg über den Wert des systolischen Blutdrucks hinaus. Diese Gehirnschwellung bewirkt die vollständige Blockade der Gehirndurchblutung, welche zum Absterben des Gehirns führt. Der Hirntod ist somit zeitlich am Ende des Sterbeprozesses und nicht mittendrin anzusiedeln.

Das Gehirn samt Hirnstamm lenkt die integrativen Funktionen des Körpers auch bei Bewusstlosigkeit, wie etwa im Schlaf. Beim Wachkoma ist der Hirnstamm noch voll funktionstüchtig und gewährleistet ebenfalls die Integration der Körperfunktionen. Ist nun das gesamte Gehirn irreversibel ausgefallen, kann also keine Integration mehr stattfinden, dann kann man nicht mehr von personalem Lehen sprechen, welches Integration voraussetzt. Anders formuliert: Der Hirntod ist gleichzusetzen mit dem Tod der Person, des gesamten Menschen. Dies trifft natürlich nicht für den reversibel Bewusstlosen zu, auch nicht für den Wachkomapatienten! Hier berühren sich Medizin und Philosophie. Die oben genannte Stellungnahme der Neurowissenschaftler und Theologen betont, dass "[...] anerkannt werden [muss], dass das Gehirn die Empfängerzentrale für alle sensorischen und emotionalen Erfahrungen ist und dass das Gehirn als die neutrale Antriebskraft unserer Existenz agiert. Wir müssen anerkennen, dass der Verlust der Durchblutung des Gehirns Tod verursacht. Dieser Verlust der Durchblutung lässt sich in faktisch allen Fällen von Hirntod dokumentieren, falls die Untersuchungen zur richtigen Zeit durchgeführt werden."

Der Hirntod als Tod des Individuums lässt sich zudem in der Gegenüberstellung von Ganzhirntod und Teilhirntod verdeutlichen. Die Funktion der Organe beim Hirntoten lässt sich nur eine Zeitlang aufrechterhalten. In allen Fällen kommt es nach festgestelltem Hirntod trotz der intensivmedizinischen Maßnahmen nach Stunden, Tagen oder wenigen Wochen zu einem Herzstillstand und zum Zusammenbruch des Herz-Kreislaufsystems. Im Falle des "Erlanger Babys", dem 15 Wochen alten Fetus bei einer hirntoten Schwangeren, handelte es sich um einen Zeitraum von fünf Wochen, in dem der Fetus am Leben erhalten wurde. Durch die Intensivmedizin wurde der Körper der Frau in seiner Grundfunktion erhalten, was die Unversehrtheit des Kindes zur Voraussetzung hatte. Durch eine Lungeninfektion kam es aber zum Spontanabort der Leibesfrucht, erklärbar durch die fieberbedingten spontanen Kontraktionen der glatten Uterusmuskulatur.

Man kann die Tatsache, dass Hirntote nicht unbegrenzt maschinell in ihrem Status der "Organversorgung" belassen werden können, als indirektes Zeichen dafür werten, dass ihr lebensnotwendiges übergeordnetes Integrationsorgan Gehirn zugrunde gegangen ist. Lässt man einem Wachkomapatienten die gleiche medizinische Versorgung wie einem hirntoten Körper angedeihen, ist es unwahrscheinlich, dass er stirbt. Dies deutet daraufhin, dass der beim Wachkomapatienten intakte Hirnstamm wesentlich für die Integration des restlichen Körpers ist, während der Hirnmantel es nicht ist.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass mit dem Tod des Gehirns ein unaufhaltsamer Prozess des Körpers beginnt, der durch die künstliche Beatmung lediglich verlangsamt werden kann.

Was sagt die Philosophie zum Hirntod? Dies ist eine wichtige Frage, zumal wir philosophisches Gebiet bereits betreten haben, als wir sagten, der Mensch sei tot, da das gesamte Gehirn zerstört und das Integrationsorgan des Menschen ausgefallen ist. Dies heißt ja nichts anderes, als dass der Mensch tot sei, weil der Organismus seine ganzheitliche, übergeordnete Leib-Seele-Einheit verloren hat, was eine philosophische Aussage ist.

Wie kommt man zu einer solchen Feststellung? Sie erhellt daraus, dass es sicher gerechtfertigt ist zu sagen, dass das Geistige im Menschen vom Gehirn abhängig ist - damit wird freilich weder das Lebensprinzip Seele noch der Geist mit dem Gehirn gleichgesetzt. Die Abhängigkeit des Geistigen vom Gehirn weist eine asymmetrische Beziehung auf: Geistiges Erleben hängt vom physiologischen Geschehen ab, nicht umgekehrt. Die philosophisch-theologische Ebene - und nicht die medizinische - ist es, die es erlaubt zu sagen, dass die Geistseele dem Menschen die dynamische und organische Einheit zwischen Verstand, Sinnen, Gehirn und Körper und somit die wesentliche Qualität des menschlichen Leibes verleiht. Durch die Seele kann diese Einheit auf zwei Arten vermittelt werden, entweder direkt ohne Vermittlung des Gehirns (etwa beim Embryo, der noch kein Gehirn hat) oder unter Vermittlung des Gehirns (beim ausgereiften menschlichen Organismus). Der Leib kann das Sein der Seele nicht mehr "empfangen", wenn das Gehirn abgestorben ist. Thomas von Aquin sagt: "Die Seele vereint sich mit dem Körper als Form ohne Mittleres, aber als Beweger durch ein Mittleres" - wobei das Mittlere - der Vermittler - das Gehirn ist. Wenn das Gehirn abstirbt, stirbt das Individuum, nicht, weil das Gehirn mit dem Geist bzw. der Persönlichkeit identisch ist, sondern weil dieser Vermittler der Seele in ihrer dynamischen und operativen Funktion als Beweger innerhalb des Leibes entfernt worden ist. Es fehlt also jene Disposition, durch die der Leib auf die Einheit mit der Seele ausgerichtet ist.

Resümee: Für die Anhänger des Hirntodkonzepts ist der Hirntote eine "warme Leiche", die bis zur Entnahme der Organe künstlich in diesem Zustand erhalten wird. Die Beatmungsmaschine, und nicht das Individuum selbst, halten den Anschein von Lebendigkeit des Körpers aufrecht. Dass es sich um eine Leiche handelt, ist wichtig, da es die Voraussetzung für die Erlaubtheit der Organtransplantation ist.

Haben wir bisher den Befürwortern des Hirntodkonzepts das Wort geredet, wollen wir uns nun seinen Kritikern zuwenden. Wie wird dort argumentiert?

Lange Jahre bestand insbesondere bei der Mehrheit der Mediziner Einvernehmen darüber, dass man im Hinblick auf Transplantationen nach dem Schema der Hirntodfeststellung vorgehen kann und soll. Jetzt wurde von ärztlicher, philosophischer und theologischer Seite wieder Bedenken dagegen angemeldet. Von kirchlicher Seite hieß es im Jahr 1990 in der gemeinsamen Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, noch voll im Einklang mit dem Hirntodkonzept: "Hirntod bedeutet also etwas entscheidend anderes als nur eine bleibende Bewusstlosigkeit, die allein noch nicht den Tod des Menschen ausmacht." Die spätere Stellungnahme der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg sieht dies schon anders, wenn sie schreibt: "Auch die theologische Ethik kann nicht beweisen, dass ‹hirntote‹ Menschen noch etwas empfinden. Sie sieht aber keinen zwingenden Grund dafür, die an ‹Hirntoten‹ beobachtbaren Lebenszeichen nicht also solche ernst zu nehmen." Hier ist der Kern der Kritik am Hirntodkonzept getroffen: Kann man - trotz aller medizinisch-empirisch erhobenen Daten, welche ethisch-philosophisch untermauert sind - wirklich so weit gehen und zweifelsfrei sagen, dass Hirntote Leichen sind?

Auf katholischer Seite hat man sich eine klare Äußerung des Vatikans erhofft, die aber bis heute ausblieb. Die Äußerung von Papst Johannes Paul II. auf einem medizinischen Fachkongress im August 2000, dass das unumkehrbare Ende aller Gehirnaktivitäten als Kriterium für die Todesfeststellung nicht im Gegensatz zu einer korrekten anthropologischen Auffassung stehe, war keineswegs eine "Absegnung" dieses Konzepts. Hochrangige Wissenschaftler werteten dies jedoch in dieser Richtung und trugen Bedenken vor. Die Öffentlichkeit wurde auf die Uneinigkeit im Vatikan Anfang September 2008 durch einen Artikel von Lucetta Scaraffia in der Vatikanzeitung "L'Osservatore Romano" aufmerksam. Auf dem Kongress der Päpstlichen Akademie für das Leben im November 2008 klammerte Papst Benedikt XVI. den Hirntod aus. Er sagte zwar, "dass lebenswichtige Organe ausschließlich ‹ex cadavere‹ entnommen werden" dürfen, aber ob ein Hirntoter ein Kadaver ist, sagte der Papst nicht. Allerdings betonte er, dass die "Organentnahme nur im Falle eines wirklichen Todes erlaubt ist". Ferner mahnte er, es dürfe nicht "den geringsten Verdacht auf Willkür geben, und wo die Gewissheit noch nicht erreicht sein sollte, muss das Prinzip der Vorsicht den Vorrang haben".

Ist also doch Vorsicht geboten? Im Folgenden werden die Hauptkritikpunkte am Hirntodkonzept wiedergegeben. Aufgrund seiner Unanschaulichkeit ist es ohne Zweifel schwierig, das Todeskriterium "Hirntod" der breiten Öffentlichkeit zu vermitteln. Eine "rosige, warme Leiche" widerspricht einfach der normalen Wahrnehmung. Man kann sogar einen Blutdruck- und Pulsanstieg registrieren, Schwitzen beobachten und spontane Bewegungen feststellen bis hin zum Versuch, sich aufzusetzen und die Arme zu verschränken ("Lazarus-Zeichen"). Alles das ist aber kein Beweis für ein durch das Gehirn integrativ vermitteltes Leben, da diese Zeichen bis auf wenige Ausnahmen, bei denen man wissenschaftlich noch keine eindeutige Erklärung hat, auf spinale Reflexautomatismen zurückgeführt werden können. Diese Zeichen an Hirntoten sind also keine "vitalen Zeichen".

Die Kritik richtet sich besonders auch gegen den Apnoetest, der angeblich erst den Tod hervorruft. Dies ist medizinisch jedoch nicht haltbar, da während des Versuchs eine normale Sauerstoffsättigung des Blutes gewährleistet ist.

Auch wird eingewandt, dass es die gegenwärtige Technologie ermögliche, nur in den äußeren Schichten des Gehirns Aktivität messen zu können. Dies ist nicht korrekt, da auch elektrische Prozesse tiefer im Gehirn an der Oberfläche "elektrische Spuren" hinterlassen, die man ableitet. Ferner wird selten von EEG-Aktivitäten trotz klinischer Hirntodzeichen berichtet. Für sie sind Gefäßverbindungen in den Randgebieten zwischen der unterbrochenen Blutversorgung hirneigener Arterien und dem noch intakten Kreislauf der äußeren Halsschlagader verantwortlich, welche die Gesichtsweichteile, aber auch die Hirnhäute versorgt. Hierdurch kann es zu einem Überleben umschriebener Nervenzellpopulationen nach Eintreten des Hirntodes kommen.

Allerdings ist richtig, dass die unübersehbare Vielzahl von Hirnfunktionen nicht durch klinische oder apparative Untersuchungen in ihrer Gesamtheit erfasst werden kann. Dies ist aus medizinischer Sicht jedoch unnötig. Vielmehr soll durch die Hirntoddiagnostik die Vollständigkeit und Endgültigkeit einer Schädigung des Gehirns als funktionierendes Ganzes festgestellt werden. Die Gültigkeit dieses Konzepts erhebt nicht den Anspruch, den Tod jeder einzelnen Hirnzelle nachzuweisen.

Besonders schwer wiegt der Bericht über Fälle von "wieder zum Lehen gelangten Hirntoten". Bei näherer Betrachtung handelt es sich dabei jedoch um sogenannte Fehldiagnosen. Nicht gesagt wird nämlich, dass bei diesen Fällen die Hirntodfeststellung nicht lege artis durchgeführt wurde und somit nur höchst zweifelhaft überhaupt ein Hirntod vorgelegen hat.

Es muss freilich zugegeben werden, dass es - wie bereits erwähnt - in der Medizin und Biologie eine 100-prozentige Sicherheit nicht gibt. Vor diesem Hintergrund ist der "Repertiner Meningitisfall" zu sehen, bei dem es möglich war, Körper samt Organe für lange Zeit künstlich durchblutet zu halten. Falls dies ein gültiger Fall von Hirntod ist (der zwingend vorgeschriebene Apnoetest wurde jedoch offenbar nicht durchgeführt), dann ist er möglicherweise ein Beleg dafür, dass in außergewöhnlichen Ausnahmesituationen ein solcher Fall vorkommt. Allerdings besteht eine beträchtliche Unsicherheit bezüglich dieses Falles.

Es gibt größere statistische Untersuchungen zu Fällen mit einwandfrei diagnostiziertem Hirntod. Die Mayo-Klinik besitzt Informationen zu ungefähr 385 Fällen im Zeitraum von 1987 bis 1996.

Es wird ferner immer wieder irrigerweise behauptet, anästhetische Maßnahmen seien notwendig zur Erreichung der Schmerzfreiheit des "noch lebenden Sterbenden" und würden daher erst nach der Transplantation abgestellt, was verschleiert, dass die Anästhesie die Aufgabe der Organerhaltung und Körperrelaxation hat.

Ein Hauptkritikpunkt von philosophischer Seite setzt an der Vorstellung vom Gehirn als Integrationsorgan an. Robert Spaemann und andere beispielsweise behaupten, dass die Integration und die Koordination der Subsysteme des Körpers nicht ausschließlich vom Hirnstamm und Hypothalamus geleistet werden, weswegen es eine ganzheitliche vitale Einheit der Organe des Körpers durchaus auch ohne das Gehirn gebe. Dies widerspricht nicht zwingend dem Hirntodkonzept, das keineswegs integrative Subsysteme des Körpers - die es geben mag und die ohne das Gehirn funktionieren können - in Abrede stellt.

Resümee: Auch wenn die Organfunktionen beim Hirntodstatus komplex sind, kann man zusammenfassend sagen, dass es medizinisch bislang keine überzeugenden Argumente dafür gibt, bei Hirntoten von einem eigenständigen Organismusleben mit intakter Integrationsfunktion sprechen zu können. Ist dies so, kann philosophisch-theologisch wohl kaum von einer intakten Leib-Seele-Einheit gesprochen werden.

Was ist der aktuelle Stand in der jetzigen Hirntoddebatte? Es ist offensichtlich, dass das Phänomen "Hirntod" neu bewertet wird. Die anfängliche mehrheitliche Akzeptanz des Hirntodkonzepts ist nicht mehr nur leisen Zweifeln, sondern nicht selten sogar einer vehementen Ablehnung gewichen. Internetrecherchen zeigen es: Die Zahl der Beiträge, welche zur Vorsicht mahnen - seriöser oder wenig seriöser Art -, ist in der Mehrzahl. Es geht so weit, dass man auf Aufforderungen zur Rückgabe des Organspenderausweises trifft.

Auf der Basis des bisher Dargestellten kann abschließend Folgendes gesagt werden: Die Angst bei der Bevölkerung, die Diagnose "Hirntod" sei nicht sicher, ist aus medizinischer Sicht unberechtigt. Die Diagnose "Hirntod" ist eine der sichersten medizinischen Diagnosen überhaupt. Freilich muss sie sachgerecht erfolgen.

Aus der Sicht des Autors ist das schlagendste Argument für das Hirntodkonzept das medizinische. Neuropathologisch handelt es sich beim Hirntod um eine Autolyse (Fäulnis!) des Gehirns ohne jede intravitale Gewebsreaktion. Der Hirntod "ist" eben nicht nur der irreversible Ausfall aller Hirnfunktionen, er ist eine Autolyse.

Falls es bei aller neuropathologischen Klarheit noch eine "Restunsicherheit" gibt, dann liegt sie auf philosophischer Ebene, da sich zur Trennung von Leib und Seele, deren Geschehensein vorausgesetzt wird, die aber im strengen Sinne nicht bewiesen werden kann, nichts weiter sagen lässt. Für die Ablehner des Hirntodkonzepts ist dies ein Problem, denn sie gehen davon aus, dass Hirntote "Sterbende" sind. In dieser Hinsicht kann man die Diskussion um das Hirntodkonzept berechtigterweise als offen bezeichnen. Auf pragmatischer Ebene kann man allerdings sagen, dass das Ganzhirntodkriterium durchaus tauglich ist: als medizinisch unterlegtes Kriterium zum Nachweis der erloschenen seelisch-leiblichen Einheit des Menschen und - dies anerkennend - medizinisch-pragmatisch als Kriterium zum Nachweis des Todes des ganzen Menschen. Bei Einhaltung der Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes hat der untersuchende Arzt die Gewissheit, den Tod des Menschen festzustellen. Dies entbindet den Arzt nicht von der Verantwortung, sich ein eigenes Bild von der medizinischen Validität und ethischen Plausibilität der Kriterien zu machen. Warum sollte man mit dieser Sichtweise nicht auf einer genügend abgesicherten Seite sein?


IM PORTRAIT

Prof. Dr. med. Stephan Patt
Geb. 1961 in Köln, studierte Medizin und habilitierte sich im Fach Neuropathologie. Bis 2004 war er Professor in Jena. Nach dem Studium der Theologie in Pamplona wurde er 2007 in Rom zum Priester geweiht. Der Autor ist Jugend- und Erwachsenenseelsorger in Köln und beschäftigt sich mit Grenzfragen von Medizin, Ethik und Theologie.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Wie der Mensch beseelt wurde, darüber gibt es viele Theorien. Die viel spannendere Frage lautet: Wann trennt sich die Seele wieder vom Körper?

Experten können den Ausfall alle Hirnfunktionen heute zweifelsfrei feststellen.

Darin sind sich alle einig: Solange das Hirn arbeitet, lebt der Mensch.


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Quelle:
LEBENSFORUM Ausgabe Nr. 91, 3. Quartal 2009, S. 26 - 29
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Februar 2010