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ETHIK/721: Krankheit als Sünde? - eine historische Reflexion (Ruperto Carola)


Ruperto Carola - Forschungsmagazin der Universität Heidelberg 1/2009

Krankheit als Sünde?
- eine historische Reflexion

Von Annette Weissenrieder und Gregor Etzelmüller


Der modernen Medizin erscheinen Krankheiten als sinnfreie Phänomene. Die vom Patienten als Katastrophe erlebte Krankheit ist für sie beispielsweise "nur" eine zufällige Überschwemmung durch Mikroorganismen. Aufgrund der Deutungsabstinenz der Medizin bleibt Kranken ihre Krankheit oft unverständlich, sie greifen deshalb auf eingespielte soziale Deutungsmuster zurück. Weitverbreitet sind etwa psychologische Krankheitstheorien, die dem glücklosen Kranken letztlich die Verantwortung für seine Erkrankung zusprechen. Damit lebt eine gängige religiöse Deutung von Krankheit wieder auf: Krankheit wird als Strafe verstanden.

Gemäß einem Tun-Ergehens-Zusammenhang, nach dem sich das Verhalten eines Menschen in seinem körperlich sichtbaren Leiden spiegelt, wird dem kranken Menschen seine Krankheit in der religiösen Deutung als selbstverschuldete Folge seiner Sünde zugerechnet. Diese Auffassung war im Alten Orient verbreitet, sie findet sich auch im Alten Testament: "Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe wegen deines Drohens und nichts Heiles an meinen Gebeinen wegen meiner Sünde" (Ps 38, 4).

Die rationale Medizin der Antike hingegen distanziert sich entschieden von der religiösen Deutung von Krankheit: Eine Krankheit heiligen oder gar göttlichen Ursprungs gibt es nicht; alles wird entsprechend den Naturgesetzen hervorgebracht. Freilich zeigt nicht nur der sogenannte Hippokratische Eid, dass im antiken Bewusstsein ärztliche Kunst und göttliche Tradition eng verbunden sind.

Das frühe Christentum entwickelt sich im Spannungsfeld von religiöser Krankheitsdeutung, rationaler Medizin und religiöser Heiltradition. Im Neuen Testament wird die religiöse Deutung von Krankheit zunächst explizit abgelehnt: Nach dem Johannesevangelium hat Jesus der Deutung von Krankheit als Sündenfolge ausdrücklich widersprochen. Als er angesichts eines blind Geborenen gefragt wird: "Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist?", antwortet er: "Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes an ihm offenbar werden" (Joh 9, 2f.).

Auf dieser Grundlage griff das frühe Christentum Einsichten der rationalen Medizin der Antike auf. Insbesondere im Lukasevangelium finden sich zahlreiche Bezüge. In der Erzählung von der Heilung des Jungen mit den epileptischen Phänomenen (Lk 9,37-43) korrigiert Lukas beispielsweise die vor dem Hintergrund antiker Medizin nicht kohärente Schilderung des Markusevangeliums (Mk 9,14-29): Jesus wird von Lukas als Arzt präsentiert. Anders als in seiner markinischen Vorlage, in deren Zentrum ein Exorzismus steht, spricht Lukas bewusst von "iásato", was mit "sich kümmern um" und "ärztlich behandeln" übersetzt werden sollte. Im Corpus Hippocraticum ist "iásato" Kennzeichen für einen guten Arzt.

Im Gefolge der antiken und der modernen naturwissenschaftlichen Medizin lassen sich Krankheiten als natürliche Prozesse innerhalb der Schöpfung verstehen, die aber - wie die Krankenheilungen Jesu verdeutlichen - gerade nicht dem Willen des Schöpfers entsprechen. Gerade die ärztliche Zuwendung Jesu zu den Kranken verdeutlicht, dass im Kampf gegen die Krankheit Gott nicht strafend auf Seite der Krankheit, sondern zuwendend auf Seite des Kranken steht.

Dabei ist interessant, dass Lukas, der Epilepsie im Sinne der antiken rationalen Medizin versteht und die Heilung des epileptischen Jungen dem ärztlichen Handeln Jesu zuschreibt, in seiner Erzählung dennoch einen Dämon erwähnt: "Jesus aber bedrohte den unreinen Geist und machte den Knaben gesund" (Lk 9,42). Eine Interpretation dieses Verses muss sich der Doppeldeutigkeit des Begriffes "Pneuma" bewusst bleiben: Der unreine Geist kann sowohl auf eine dämonische Krankheitsinterpretation verweisen als auch im Sinne der rationalen Medizin als unreine Luft verstanden werden (MorbSacr 4,6). Deutet man den unreinen Geist als Dämon, wird der Kranke von der Verantwortung für seine Krankheit entlastet. Dies tut Lukas, indem er die Krankheit als Dämon und damit als ansprechbare Person darstellt. Er unterscheidet also zwischen der Person und der Krankheit, die den Menschen gleichsam von außen überfällt. Die Ursache der Krankheit ist nicht im Kranken und dessen vermeintlichen Sünden zu suchen - sie muss als fremdverursacht verstanden werden. Damit ergibt sich der paradoxe Sachverhalt, dass durch die Einführung eines Dämons die Krankheit entdämonisiert werden soll. Vor diesem Hintergrund erschließt sich die Doppeldeutigkeit des Begriffs Pneuma als bewusst gewollt.

Eine vergleichbare Operation findet sich in der Theologie des 20. Jahrhunderts bei Karl Barth. Er greift zurück auf die dämonologische Deutung von Krankheit bei Lukas und schlägt vor, Krankheit als "ein Moment des Aufstandes des Chaos gegen Gottes Schöpfung" zu verstehen (KD III/4, 417). Sachangemessen erscheint ihm diese Deutung deshalb, weil sie zum einen festhält, dass wir es bei der Krankheit mit einer uns bedrohenden Macht zu tun haben, zum anderen die Sinnlosigkeit der Krankheit verdeutlicht. Der Widerstand, den die Krankheit eines Menschen seiner Gesundheit entgegensetzt, ist eben keineswegs ein Widerstand, an dem er wachsen soll, sondern ein sinnloser, den es zu überwinden gilt. "Gott will das nicht, was den Menschen plagt, quält, stört und zerstört" (KD IV/2, Paragraph 64, 249). Die dämonologische Deutung von Krankheit verdeutlicht, dass es in der Welt naturale Prozesse gibt, die sinnlos sind.

Eine Medizin, die Krankheit als sinnfreies Phänomen thematisiert, bedarf unserer Ansicht nach der Kopplung mit einer (theologischen) Religionskritik. Entgegen der religiösen Deutung von Krankheit als Strafe verweist dieser Ansatz auf die mögliche Sinnlosigkeit von Krankheiten und betont Gottes Gebot, Krankheiten zu überwinden.


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Annette Weissenrieder ist seit 2008 Professorin für Neues Testament am Graduate Theological Union, Berkeley, und am San Francisco Theological Seminary. Zuvor forschte sie am Wisseschaftlich-Theologischen Seminar der Universität Heidelberg als Wissenschaftliche Assistentin zu Krankheit und Heilung in der Antike.

Priv.-Doz. Dr. Gregor Etzelmüller arbeitet als Wissenschaftlicher Assistent an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg im Fach Systematische Theologie. Er war Doctoral Research Scholar at Princeton Theological Seminary und wurde 2008 mit einer Arbeit zum Pluralismus der christlichen Liturgiefamilien und dessen kultureller Prägekraft in Heidelberg habilitiert.

Im Jahr 2006 wurden Annette Weissenrieder und Gregor Etzelmüller gemeinsam mit dem Klaus-Georg und Sigrid Hengstberger-Preis der Universität Heidelberg ausgezeichnet.

Kontakt:
aweissenrieder@aol.com
gregor.etzelmueller@wts.uni-heidelberg.de


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Quelle:
Ruperto Carola 1/2009, Seite 42-43
Forschungsmagazin der Universität Heidelberg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juni 2009