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FORSCHUNG/2371: Adipositas - Warum ein Stau in der Lieferkette Übergewicht auslösen kann (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 12/2010

Adipositas-Forschung
Warum ein Stau in der Lieferkette Übergewicht auslösen kann

Von Nathalie Klüver


Kommunikationsstörungen zwischen Gehirn und Körper und ihre Folgen - dargestellt in einem einfachen Modell, das Lübecker Schüler gebaut haben.


Woher stammen Übergewicht und Adipositas? Liegt es am Überangebot an Nahrung, die stets und überall zur Verfügung steht? Schuld sei vielmehr ein Versorgungsengpass, sagt Prof. Dr. Achim Peters. Der Internist am Campus Lübeck des UK S-H forscht seit Jahren an der Entstehung von Übergewicht. Seine Theorie: Das Gehirn als Hauptverbraucher im Körper steuert zugleich, wie die Energie verbraucht wird. Kommt es hier zu einer Störung, nimmt der Körper mehr auf, als er braucht.

"Bisherige Theorien zur Entstehung von Übergewicht waren lückenhaft oder widersprüchlich", sagt Peters. Die Frage, wieso jemand isst, obwohl sein Füllstand gesättigt ist, beschäftigt den Lübecker Mediziner seit Jahren. Seit 1921 weiß man, dass das Gehirn selbstsüchtig agiert. Untersuchungen an Leichen, die an Auszehrung gestorben waren, hatten gezeigt, dass alle Organe 40 Prozent abgenommen hatten, nur das Gehirn nicht. "In Notzeiten nimmt das Gehirn dem Körper Energie weg, um das Überleben zu sichern", so Peters. 1998 begründete er die Selfish-Brain-Theorie, die das Gehirn in den Mittelpunkt von metabolischen Erkrankungen rückt. Seit 2004 forscht ein interdisziplinäres Team an der Uni Lübeck und hat die Grundlagen der Theorie experimentell belegt.

Peters' Forschung ist von hoher Aktualität: 80 Prozent der Männer und 60 Prozent der Frauen in Deutschland sind übergewichtig. Mittlerweile auch jedes fünfte Kind. Die Folgen von Übergewicht sind bekannt: unter anderem Diabetes, Fettstoffwechselstörungen, Bluthochdruck, koronare Herzkrankheiten. Schätzungen zufolge belasten die direkten Folgen die Krankenkassen jährlich mit 216 Millionen Euro.

Steckt hinter Adipositas ein Fehler in der Kommunikation zwischen Gehirn und Körper? Im Normalfall zieht das Gehirn zwischen 60 und 70 Prozent der Glukose, die dem Körper zur Verfügung steht, im Stressfall bis zu 95 Prozent. Doch das Gehirn verbraucht nicht nur am meisten Energie, es entscheidet zudem, wie die Energie verteilt wird. Peters vergleicht die Energieversorgung des Gehirns mit einer Lieferkette - eine Lieferkette, in der der Endverbraucher bestimmt, wovon wie viel und wann geliefert wird. In diesem Fall ist der Endverbraucher das Gehirn. "Wenn das Gehirn merkt, dass es zu wenig Zucker hat, weist es den Körper an, den Zucker zu ihm zu transportieren", so Peters. "Brain-Pull" nennt Peters es, wenn das Gehirn aktiv Kraft aus dem Körper bestellt. Dahinter verbirgt sich ein Neuronennetzwerk, das sich vom Cortex bis zum Hirnstamm erstreckt.

Bei einem funktionierenden Brain-Pull gibt das Hirn nur einen "Ess-Befehl", wenn der Körper die notwendige Energie nicht in Reserve hat. Doch ist die Kommunikation zwischen Körper und Denkorgan gestört, kommt es zu einem Stau in der Lieferkette: Energie staut sich vor dem Gehirn im Blut - was zu Diabetes führt - oder im Fettgewebe - was zu Übergewicht führt. Ein Stau in der Lieferkette als Ursache von Adipositas, besagt Peters' Theorie: "Übergewichtige haben ein egoistisches Gehirn, das nicht mehr richtig bestellen kann."

Peters vergleicht die Brain-Pull-Störungen mit Computerstörungen. "Verantwortlich sein können, wie bei einem PC-Hardwarefehler, Softwarefehler oder Falschsignale." Selten kommen "Hardwarefehler" wie Tumore, Gendefekte oder Schädel-Hirn-Traumata vor. Mögliche Ursachen für Falschsignale seien Antidepressiva, Drogen, Alkohol oder Viren.

Häufiger seien "Softwareprobleme", eine Falschprogrammierung. Die Programmierung des Brain-Pull gebe es schon im Mutterleib, so Peters, aber auch in der Pubertät oder im Erwachsenenalter durch Stress, Signale von außen, die zu einer Konditionierung führen. "Der häufigste Faktor ist chronischer Stress", sagt Peters. Durch den chronischen Stress brauche das Gehirn ständig Energie und aktiviere den BrainPull. Daraus folge eine schlechte Stimmung. Ist der Stress weg und der Brain-Pull beruhigt, hebt sich die Stimmung. Bei chronischem Stress gebe es zwei Typen, so Peters. Beim einen passe sich der Brain-Pull an, ein Gewöhnungseffekt trete ein, sodass dieser Typus immer mehr essen muss, um sein Gehirn zu versorgen. "Die Folge: Sie nehmen zu." Andere hingegen haben einen ständig hohen Brain-Pull, der Energie aus dem Körper nimmt. "Diese Menschen sind schlechter Laune und nehmen ab." Das könne bis zur Depression führen.

Einen defekten Brain-Pull neu zu "erziehen" sei ein langer Weg, zu dem Verhaltenstherapie gehöre. In Lübeck versuchten die Forscher ein einjähriges Training mit Gruppenschulung, Psychologen und zehn Teilnehmern. Einige konnten ihr Leben umstellen, andere nicht. "Am einfachsten ist es, Kinder und Jugendliche zu beeinflussen, indem man ihnen einen gesunden Lebensstil vorlebt und zeigt, wie man Konflikte löst und Stressfaktoren fernhält", ist Peters überzeugt. Je älter die Menschen, desto schwerer ist es, die Verhaltenslernprozesse wieder umzukehren. Deshalb entwickelte er gemeinsam mit sechs Schülern einer Lübecker Gesamtschule ein ohne Vorkenntnisse zu bedienendes Modell, das die Theorie auch für Laien verständlich macht. Vier mit Wasser gefüllte Säulen stellen das Blut, das Gehirn, das Fettgewebe und den Kühlschrank dar. Mit einem Gewicht wird der Brain-Pull dargestellt. Der Betrachter kann einstellen, ob das Modell "unter Stress" steht und somit mehr Energie an das Gehirn fließt - und der Energiefluss an das Blut und das Fettgewebe immer weniger wird. Mit einem einfachen Handgriff kann der Betrachter den Brain-Pull außer Kontrolle bringen und sieht dann, wie die Wassersäule im Fettgewebe bis in den roten Bereich steigt.

"Alle Mechanismen in diesem Modell gibt es auch in der Realität", so Peters. Für die Schüler war der Modellbau eine spannende Sache, erzählen sie. Am Anfang hätten sie sich nicht vorstellen können, die Theorie in ein Modell umzusetzen. Lina Marie Voß (16) ist begeistert: "Dadurch, dass man etwas zum Anfassen hat, kann man das komplexe Thema besser verstehen." Mit dem Modell bewirbt sich Lübeck für das Wissenschaftsschiff MS Wissenschaft. Außerdem soll das Modell als Experimentierkoffer für den Einsatz im Unterricht weiterentwickelt werden, sodass schon Kinder den Grundlagen des Übergewichts auf die Spur kommen können.


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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 12/2010 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2010/201012/h10124a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
Ein komplexes Thema im Modell von Lübecker Schülern dargestellt.


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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Dezember 2010
63. Jahrgang, Seite 26 - 27
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Januar 2011